Dies gehört zum Projekt „Verstehen wir Gesellschaften als Systeme oder Verhältnisse?“ und ist dessen Teil II.
Zwischen Substanz und Relationen
Menschen handeln innerhalb von übergeordneten Strukturen, die sie durch individuelles Handeln nicht direkt beeinflussen können. Deshalb kreiste das Denken über das Verhältnis der Menschen zur Welt immer auch um die Frage nach dem Verhältnis von Ganzem und seinen Teilen. Dies durchzieht die gesamte Philosophiegeschichte.
Zuerst, und dies prägt auch heute noch jegliche Vorstellungen von Teilen und Ganzem, wurde nach den jeweils ineinander enthaltenen Dingen gefragt. Dies entspricht dem substantiellen Denken, das die Welt als Menge von Dingen vorstellt, die auch in jeweils gleicher Art und Weise vorhanden sind/wären, wenn sie nicht in Beziehung zu anderen stehen/stünden. Etwas Substantielles bedarf, so wurde später definiert, zu seiner Existenz keines anderen Dinges (Descartes), bzw. dessen Begriff keines anderen Begriffs bedarf (Spinoza).
Später wurde festgestellt, dass viele Eigenschaften der Dinge nur dann hervortreten, wenn sie in Wechselwirkung zu anderem treten. Die Farbigkeit zeigt sich als Farbe nur dem Auge; die Schwere zeigt sich nur als Schwerkraft in Wechselbeziehung zu anderem („Körper sind nur gegeneinander schwer“ Wahsner 1993/1996: 188). Diese relationale Sichtweise wird als abstraktes Gegenteil des abstrakten Substantialismus häufig verabsolutiert und die Welt wird (nur) als Menge von Relationen vorgestellt (z.B. bei N. Luhmann und H. Rombach, siehe Warnke 1974/1981). Für Ernst Cassirer z.B., der die erkenntnistheoretische Verfasstheit der neuzeitlichen Physik reflektiert, „geht es nicht um die Existenz von Dingen, sondern die objektive Gültigkeit von Relationen“ (Cassirer 1937/1994: 293). Häufig werden z.B. die Ergebnisse der Quantentheorie so interpretiert, als hätte diese gezeigt, dass es keine „Teilchen“ gibt, sondern nur noch Wechselbeziehungen. Gegen die Ontologie der Fiktion des isolierten homo oeconomicus stellt beispielsweise Karl-Heinz Brodbeck sogar die buddhistische Ontologie des Leeren: „Weil alle Phänomene gegenseitig abhängig sind, besitzen sie keine Natur aus sich selber. Sie sind leer und haben keine eigene Identität“ (Brodbeck 2011: 96). Die Systemelemente gewinnen Qualitäten bei Niklas Luhmann nur dadurch, „daß sie relational in Anspruch genommen, aufeinander aufeinander bezogen werden“ (Luhmann 1984: 42). Von allem, was es gibt, wird nur die Funktion betrachtet, die Erscheinungsweise, das „Sein-Für-Andere“.[1]
Dieser relationalen Denkweise entspricht auch tatsächlich etwas in unserer gesellschaftlichen Realität: und zwar auf der Ebene der wirtschaftlichen Zirkulation. (Warnke 1974/ 1981: 136, vgl. Warnke 1977a: 16, Bergmann, Ruben 1977: 62) Die Zirkulation kann jedoch alleine kein Grund für die gesellschaftliche Bewegung sein, denn sie enthält das „Prinzip der Selbsterneuerung“ (MEW 42: 179) nicht. Ihre Momente sind ihr vorausgesetzt, nicht von ihr selbst gesetzt (ebd.: 180). Mit einer Verabsolutierung dieser Zirkulations-Sichtweise wird die Perspektive dessen nachgezeichnet, der sich „fremde vergegenständlichte Arbeit“ aneignet „durch den Austausch eines Äquivalents“ (ebd.: 319) und nicht von denjenigen, deren Mehrarbeit ohne Austausch eines Äquivalents genommen wird und das „Brennmaterial“ (ebd.: 180) für die Zirkulation erst liefert.
Für abstrakte Systemtheorien gilt tatsächlich, dass das, was miteinander wechselwirkt bzw. in Relation steht, inhaltlich offen bleibt. Dies ist geradezu das Ziel der sog. allgemeinen Systemtheorien. Sie behandeln Wechselbeziehungen in einer Art und Weise, dass sie für alle möglichen Gegebenheiten funktionieren (siehe zur Geschichte der Systemtheorie z.B. Wunsch 1985). Diese Entgegensetzung zwischen der Frage nach einem „Was“ und einem „Wie ist der Zusammenhang“ wird, z.B. im Gegensatz zwischen „Substanzontologie“/“Strukturontologie“ und „Funktionsontologie“ bzw. der „Prozeßontologie“ (Götschl 1990: 191) immer mal wieder neu „erfunden“ bzw. „gefunden“[2], im allgemeinen an ihrer schon längst vorhandenen Lösung in der dialektischen Philosophie von Hegel (siehe Teil 2 dieses Textes, die Kernargumente gibt es schon bei Warnke 1974/1981) und Marx „vorbei“. Dier reine Gegensatz zwischen Substanz und Beziehung, auch die einlinige Vorstellung eines Übergangs „vom Substanzdenken zum Beziehungs-/Funktionsdenken“ würde aber einen unendlichen Reichtum an Denktraditionen verleugnen.
[1] Wenn K.-H. Brodbeck identische Voraussetzungen von klassischer Physik und modernen Wirtschaftswissenschaften darin sieht, dass Menschen wie „bewegte Massepunkte“ betrachtet würden, verkennt er das Wesen der klassischen, d.h. der Newtonschen Physik, die in Wirklichkeit an die Stelle der cartesischen Vorstellung der durch Impulse in Bewegung gebrachten Körper die Voraussetzung knüpft, dass der „Normalzustand“ der physischen Objekte die geradlinig-gleichförmige Bewegung ist, deren Bewegungszustand durch die Einwirkung von Kräften in Form von beschleunigender Wirkung verändert werden kann. Bewegung und auch die Wirkfähigkeit der Körper gegeneinander sind hier vorausgesetzt, d.h. sie bedürfen keiner Verursachung, während die Frage nach der „Substantialität“ der sich bewegenden Objekte nicht stellt. Es war Ernst Cassirers Einsicht, dass es in dieser Sichtweise die Beziehungen sind, die „als ein physisches Sein anzusehen“ sind (Cassirer 1906/1991: 355).
[2] So gibt es von Karl-Heinz Brodbeck die pauschalisierende These: „Das abendländische Denken ist Substanzdenken. Es will die Dinge in ihrem letzten Grund, ihrer letzten Wahrheit festhalten“ (Brodbeck 2002: 8), was allein schon durch die vielfältige innere Differenziertheit des „abendländischen“ Denkens – siehe das erste Kapitel dieses Textes- widerlegt ist und von dessen völliger Unkenntnis zeugt. Schon das griechische Denken geht nicht nur von der „Natur der Dinge“ als Erklärungsgrund aus, sondern z.B. steht Protagoras bereits für eine Position des Relativismus.
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