Dies gehört zum Projekt „Verstehen wir Gesellschaften als Systeme oder Verhältnisse?“.


Bei Hegel wird solch eine Struktur durch die Kategorie des Ganzen mit seinen Teilen erfasst. Diese Teile müssen nicht dinglich sein, sondern könnten auch Prozesse oder Beziehungen sein. Dabei wird nicht von der Qualität der Teile abstrahiert, sondern gerade ihren den qualitativ bestimmten Wirkmöglichkeiten ergeben sich ihre Beziehungen bzw. daraus das Ganze. Manchmal werden „schwache“ und „starke“ Ganze voneinander unterschieden (vgl. Schlemm 2002). „Stark“ ist das Ganze, wenn die Teile nur noch aus dem Ganzen heraus zu verstehen ist, „schwach“ dagegen, wenn es nur um die zweiseitigen Wechselwirkungen der Teile untereinander geht. Insofern auch bei diesen Wechselwirkungen ein Ganzes entsteht, das mehr ist als die Summe der Teile, wird dieses „mehr“ häufig mit der Kategorie der „Emergenz“ belegt, der Zusammenhang wird damit aber nur als noch nicht wirklich begriffen gekennzeichnet und meist als nicht wirklich begreifbar abgetan.

Das entstehende Ganze wird häufig auch System genannt. Manchmal sind die Qualitäten der Teile und des Ganzen noch Gegenstand der Untersuchungen, die Systemtheorie selbst sieht ihren Vorzug aber in der Abstraktion von konkreten Qualitäten. Damit verliert sie auch den Erklärungsgrund für die Entstehung und Entwicklung von Systemen, so dass es bei solchen Systembetrachtungen nur noch affirmativ darum gehen kann, wie sie so funktionieren können, dass das System erhalten bleibt: „Die Funktion steht hier ganz im Dienste der  Bestandssicherung des Systems“ (Schuldt 2003: 18).

Bei Hegel dagegen wird für das Verhältnis zwischen Ganzem und seinen Teilen festgestellt, dass trotz der Wechselbeziehungen zwischen den Teilen und dieser zum Ganzen dieses Verhältnis noch mangelhaft begriffen ist. Denn es ist nur ein Hin und Her zwischen den beiden Sichtweisen: 1. die Teile existieren und bilden das Ganze, 2. das Ganze existiert und bildet die Teile, die (zurück zu 1.) das Ganze bilden und (zurück zu 2.) die Teile bilden… Einerseits sind die Teile und das Ganze gleichgültig gegeneinander, denn der Anfang dieser unendlichen Kette wird jeweils mit einem als (zuerst unabhängig vom anderen) vorhanden Vorausgesetzten (Ganzen oder Teil) gemacht. Dabei bilden das Ganze und seine Teile auch noch einen Gegensatz, denn die Teile sind gerade das Andere des Ganzen und das Ganze das Andere der Teile. Andererseits ist klar, dass es keins ohne das andere gibt. Sie bedingen einander und setzen einander voraus. Wir haben hier einen klassischen Widerspruch: Es widersprechen sich diese beiden Ansichten: Ganzes und Teile sind Gegensätze UND Ganzes und Teile bilden eine Einheit. „Das Ganze ist identisch mit den Theilen und es ist unterschieden von ihnen, also widerspricht es sich.“ (Erdmann § 120: 93) Der Widerspruch kann aufgelöst werden, wenn man – mit Hegel, bei dem es noch viele Zwischenschritte bis zum hier vorgestellten Ergebnis gibt – fortschreitet zum Begriff der Totalität (mit ihren Momenten). Hier sind weder die Momente[1] noch die Totalität unabhängig voneinander  vorausgesetzt. Reflexionslogisch zeigt sich dieser Unterschied auch. Im ersten Fall (der sog. wesenslogischen Reflexion) sind Faktoren, die einander erklären, voneinander getrennt. „Der Grund des Regens sind Wolken“ – beides voneinander unabhängig möglich, aber dann äußerlich zusammengebracht. Im zweiten Fall (der begriffslogischen Reflexion) gehört zum Begriff des Regens die Wolke notwendigerweise dazu.

Im ersten Fall gibt es bei der Vermittlung des Allgemeinen mit seinen Besonderungen noch ein dagegen unterschiedliches Vermittelndes, ein Mittel. Dass der Grund des Regens die  Wolken sind, braucht als erklärendes Mittelglied die Tatsache, dass Wolken Regen mit sich bringen. Dies ist jedoch nicht immer und überall, also notwendigerweise, sondern nur zufällig gegeben. Nur wenn es im Begriff der Wolke liegen würde, notwendigerweise zu regnen, würde diese Erklärung ausreichen. Anders ist es bei dem Zusammenhang von H2O und seinen Erscheinungsformen als Eis, Wasser und Wasserdampf. H2O kann notwendigerweise nur in einer dieser drei Formen erscheinen, und diese Formen sind selbst dadurch bestimmt, H2O zu sein. In den Erscheinungsformen Eis, Wasser und Wasserdampf unterscheidet sich das H2O selbst, es ist ein Selbstunterschied des Allgemeinen.[2] Das Vermittelnde ist keine hinzukommende Entität und nicht mehr nur zufällig vorhanden, sondern das Vermittelnde ist die objektive Natur der Sache selbst (HW 6: 354), denn es ist die objektive Natur (bzw. im Wesen enthalten) des Selbstunterschied des H2O, als Eis, Wasser oder Wasserdampf zu erscheinen (unter jeweils bestimmten Bedingungen). Das Vermittelnde ist nun nichts Drittes gegenüber dem zu Vermittelnden mehr.

[1] Momente erfüllen die Totalität vollständig, d.h. manches, was als Element von Systemen gilt (wie z.B. einzelne Individuen oder bei Luhmann auch Kommunikationsvorgänge im gesellschaftlichen System) kann kein Moment sein. Momente der gesellschaftlichen Produktion im allgemein sind beispielsweise die Produktion selbst, die Konsumtion, die Distribution und die Zirkulation. Bei gesellschaftlichen „Systemen“ können Menschen, Beziehungen, Kommunikationsvorgänge etc. die (einzelnen) Elemente sein; (besondere) Momente von konkreten gesellschaftlichen Totalitäten wie Gesellschaftsformationen können aber nur inhaltliche Bestimmungen sein.

[2] „Das Besondere ist das Allgemeine selbst, aber es ist dessen Unterschied oder Beziehung auf ein Anderes, sein Scheinen nach außen; es ist aber kein Anderes vorhanden, wovon das Besondere unterschieden wäre, als das Allgemeine selbst.“ (HW 6: 281)


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