Dies gehört zum Projekt „Verstehen wir Gesellschaften als Systeme oder Verhältnisse?“.
Reflexionslogisch sind Besonderungen des Allgemeinen „Stuhl“ zum Beispiel „Bürostuhl“ oder „Küchenstuhl“ und so weiter (vgl. zu den Stühlen auch Froeb 1997-99). Diese einzelnen Stuhlarten lassen sich nicht aus dem Begriff des „Stuhls“ ableiten – der Begriff „Stuhl“ fasst Gemeinsames der besonderen Stuhlarten zusammen, er bildet eine sog. abstrakte Allgemeinheit. Im Begriff des „Stuhls“ liegt es jedoch, dass jeder „Stuhl“ eine „Sitzfläche“ hat und eine „Lehne“. Diese notwendigen Momente dessen, was „Stuhl“ genannt wird und auch wirklich einen Stuhl darstellt, machen den so bestimmten „Stuhl“ zu etwas konkret-Allgemeinem. Um auf das Allgemeine zu kommen, wird hier nicht von Besonderheiten (ob es ein Büro- oder Küchenstuhl ist) abstrahiert, sondern dieses Allgemeine bestimmt sich konkret aus der Gesamtheit seiner Besonderheiten, denn ohne „Sitzfläche“ und ohne „Lehne“ ist kein Stuhl ein Stuhl. Dabei gilt, dass sich der Gesamtzusammenhang in jedem einzelnen (z.B. dem Stuhl) vollständig (notia completa) ausdrückt, denn jeder einzelne Stuhl hat alle Momente. Aber er ist nicht in jedem Einzelnen vollkommen (notio perfecta) – es gibt keinen Stuhl, der eine „vollkommene Lehne“ hätte.[1] (nach Holz 2005: 208)
Auch die Analyse des Kapitalismus von Marx enthält beide Sichtweisen: Er bezieht sich auf die schon von den bürgerlichen Ökonomen unterschiedenen Kategorien wie „Ware“, „Geld“ oder „Wert“ und untersucht deren Wechselbeziehungen im Kapitalismus. Zum Wesen des Kapitalismus im Vergleich zu anderen Gesellschaftsformationen, in denen es schon Waren, Geld und Wert gibt, dringt er erst vor, als er die Besonderheit der Ware Arbeitskraft erkennt, denn deren konkreter Gebrauchswert besteht darin, mehr Wert zu schaffen, als ihre Reproduktion bedarf. Damit wird die Äquivalenzbeziehung des Austauschs durchbrochen, denn die Aneignung dieses Mehrwerts ohne äquivalenten Austausch stellt die konkrete Besonderheit der Gesellschaftsform Kapitalismus gegenüber anderen Gesellschaftsformationen mit Warenproduktion- und Austausch dar. Es ist für diese Konkretisierung unerheblich, wie man diese Besonderheit im Weiteren wertet, als die „historische Mission der Arbeiterklasse“ begründend oder lediglich als Quelle der Erweiterung des Selbstreproduktionskreislaufs. Diese konkrete Besonderheit der kapitalistischen ökonomischen Verhältnisse enthält neben der Tatsache, dass auch die dadurch begründeten Klassenunterschiede nur Unterschiede innerhalb des Kapitalismus sind, auch die Tatsache, dass wenigstens ein Pol, nämlich das schöpferische Arbeitsvermögen über dieses Verhältnis wenigstens potentiell „hinausschießt“ (vgl. Schlemm 2011a). Bleibt man jedoch bei der (Vor-)Entscheidung, bei den Momenten des kapitalistischen Systems nur die abstrakte Identität zu sehen, verleugnet man diese qualitativen Unterschiede systematisch. Marxistisch ist das jedoch nicht, sondern verbleibt in dem von Marx kritisierten bürgerlichen Denkrahmen der Fetischisierung. In dem die zirkuläre Wert-Verwertung fetischisiert wird, wird das angesprochene „Mehr“ dann nur als quantitative Vermehrung gesehen; von ihrer konkreter Quelle im menschlichen Arbeitsvermögen (das die kapitalistischen Verhältnisse überschreiten kann) wird dann abstrahiert.
Manchmal treten die besonderen Momente auch als konkrete Erscheinungsweisen auf. So erweist sich das, was als „H2O“ begriffen wird, als Eis, Wasser oder Wasserdampf. Eis ist H2O, Wasser ebenso und Wasserdampf auch. Und diese drei Erscheinungsweisen erfüllen den Möglichkeitsraum vollständig, es gibt nicht noch weitere Aggregatzustände von H2O. H2O ist einerseits das allen besonderen Erscheinungsformen Gemeinsame, das von ihren Besonderungen abstrahiert – aber es existiert nicht ohne seine Erscheinungen (außer in gedanklichen Abstraktionen) und seine Erscheinungen enthalten dieses Allgemeine (sie sind chemisch elementar aus zwei Wasserstoff-Atomen und einem Sauerstoffatom in der für H2O typischen Weise aufgebaut). Gleichzeitig enthält jedes Moment das Andere (oder genauer gesagt: die Möglichkeit zum Anderen zu werden), indem es sich in dieses umwandeln kann. Man würde in diesem Fall eher nicht sagen, das „System“ oder das „Ganze“ H2O bestehe aus den „Elementen“ oder „Teilen“ Eis, Wasser und Wasserdampf, sondern eine systemische Betrachtung verweist auf die chemische Zusammensetzung und die Teile von Sauerstoff und Wasserstoff. Dabei gehen die konkreten physischen Qualitäten des Unterschieds der drei Erscheinungsformen verloren. Im Erkenntnisgang ist jedoch diese Abstraktion (wenn sie in angemessener Weise geschieht) als Durchgangsphase notwendig, um mit den so erhaltenen abstrakten Elementen zur konkreten Erklärung ihrer konkreten Wechselbeziehungen zu gelangen, die die konkreten Qualitäten erklärt. Bei Wasser sind etwa die Cluster, die sich aus Wasserstoffbrückenbindungen ergeben – im Zusammenhang mit van der Waals-Kräften, wesentlich (vgl. Morawietz et al. 2016).
[1] Dies scheinen Simon Sutterlütti und Stefan Meretz anzunehmen, wenn sie in ihrer „kategorialen Utopie“ (Sutterlütti, Meretz 2018: 99ff.) die Möglichkeit der utopischen „allgemeinen Inklusion“ (ebd.: 127) aus dem „Begriff vom/des Menschen“ abzuleiten versuchen.
Oktober 27, 2020 at 8:43 am
Ich würde sagen, dass wir uns auf der begrifflichen Ebene eines „completa“ und nicht „perfecta“ bewegen. Das ist der Sinn kategorialer Bestimmungen. IMHO.
Oktober 27, 2020 at 9:40 am
Ihr leitet aber aus dem Begriff des Vollständigen eine zu verwirklichende Utopie ab, die dann eben diesen Begriff perfekt verwirklichen soll. Ihr sagt natürlich, ihr würdet aus dem Begriff nur die Möglichkeit ableiten, aber letztlich wollt Ihr, dass genau diese perfekte Möglichkeit auch verwirklicht wird.
Und ob Euer Begriff wirklich vollständig ist, ist auch fraglich. Vollständig im Sinne von: Alle Momente in ihrer wiedersprüchlichen Einheit in einer vollständigen Theorie konkret erfassen.
Oktober 28, 2020 at 11:40 am
Wir haben keine Sollenstheorie oder Sollensutopie, sondern eine Möglichkeitsutopie entwickelt. Insofern: Nein, nicht perfekt, aber dem Anspruch nach vollständig. Wo ich dir zustimme, ist deine Vermutung, dass unser Begriff tatsächlich noch nicht vollständig ist. Das vermuten wir auch. Deswegen ja auch unsere Einladung mitzudenken.
Oktober 29, 2020 at 9:42 am
Nun ja, aber eine Wollensutopie ist es schon. Und da wollt Ihr das Perfekte. Die menschlichen Möglichkeiten sollen in perfekter Weise verwirklicht werden („vollständig“ bezieht bei mir sich nicht auf ein Maß, sondern auf die vollständige Menge an in der Theorie berücksichtigter Momente). Und deswegen kann ich daran nicht mitdenken, denn eine so abstrakte Utopie, die sich eben nicht auf reale Bedingungen (was auch noch zu schaffende betrifft) bezieht, sondern nur abstrakt aus dem Begriff heraus arbeitet, sehe ich nicht als machbar und sinnvoll an (siehe ausführlicher hier: https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2018/10/10/4-abstrakte-utopie-utopietheorie/ und dort folgende). Vielleicht können die Bestimmungen des abstrakt-allgemein Menschlichen auch sinnvoll in eine Theorie eingebracht werden, dann müsste aber mindestens unterschieden werden, inwiefern diese Bestimmungen sowieso schon in er ganzen Menschheitsgeschichte verwirklicht waren und sind (sonst wären sie nicht abstrakt-allgemein, also allen menschlichen Lebensformen gemeinsam), und dann kann es nur noch darum gehen, unter welchen Bedingungen welche anderen Verwirklichungsformen es (ganz abstrakt gesehen) noch geben könnte (das könnte dann eure „kategoriale Utopie“ sein) und dann, welche davon unter den jetzigen und antizipierbaren Bedingungen (Öko-Kollaps) verwirklichbar sind und welche wir davon aus welchen Gründen wollen und was wir dafür tun müssen.
Oktober 31, 2020 at 9:48 am
Deswegen unterscheiden wir Utopie und Transformation. Es geht nicht darum, „die Utopie zu verwirklichen“, das ist tatsächlich ein abstrakter Gedanke. Sondern es geht darum, in der Transformation eine Zielbestimmung zu haben, die mit den realen heutigen Bedingungen verbunden wird.
Im übrigen sind aus meiner SIcht zu den Kennzeichungen als „abstrakt“ und „konkret“ (-allgemein) auch immer die Gegenstandbereiche zu nennen, denn was auf der einen Ebene konkret ist, kann auf einer darüberliegenden wiederum abstrakt sein. Aus meiner Sicht sind unsere kategorialen Bestimmungen bzgl. des menschlichen Möglichkeitsraum „konkret-allgemein“, demgegenüber etwa BoloBolos abstrakt erscheinen.
Oktober 31, 2020 at 10:17 am
„Deswegen unterscheiden wir Utopie und Transformation…“ Stimmt meine oben genannte Vermutung: „aber letztlich wollt Ihr, dass genau diese perfekte Möglichkeit auch verwirklicht wird“? .. und zwar genau jetzt?
November 1, 2020 at 5:19 pm
Zur Relativität von „abstrakt“ und „konkret“ noch. Ja, dazu hab ich auch irgendwo was geschrieben. Wenn Ihr auf das Allgemeine für „die Menschheit“ verweist, dann ist das konkret bezüglich des Vergleichs mit anderen Tieren, aber abstrakt bezüglich jeder konkreten Gesellschaftsformation. Da sind wir uns doch einig, oder?
Mehr dazu zu Eurem Konzept diesbezüglich steht dann ab dem Blogbeitrag: https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2018/10/10/4-abstrakte-utopie-utopietheorie/ und folgende…
Oktober 31, 2020 at 10:04 pm
Wie „letztlich“ (also in und nach einem Prozess der Transformation) und „jetzt“ (also eben ohne diesen) zusammenpassen sollen, ist mir schleierhaft. Wieso zitierst du erst eine Unterscheidung, um sie dann fragend zu ignorieren?
November 1, 2020 at 5:11 pm
„letztlich“ meint nicht „in und nach einem Prozess“, sondern „Ihr meint also/schlussendlich/letztlich…“
November 5, 2020 at 2:04 pm
Ja, hab ich so verstanden. Das heißt konkret „in und nach einem Prozess“ – denn so ist das in unseren Konzept positioniert: Die Realisierung kann nur nach einer Transformation erfolgen – und nicht „jetzt“.
November 5, 2020 at 3:19 pm
Du schreibst „Das heißt konkret „in und nach einem Prozess“ – denn so ist das in unseren Konzept positioniert: Die Realisierung kann nur nach einer Transformation erfolgen – und nicht „jetzt“.“
Nein, das heißt „konkret“ NICHT.
Wenn meine Erklärungen nicht verstanden werden, vielleicht ein Zitat einer der Autorinnen, die ja meine Texte hier inspirieren:
Ein „konkreter Begriff“ ist: das Reproduktions- und Entwicklungsgesetz als Vermittlung der Gegensätze zum Widerspruch (Warnke 1979: 294).
Konkretisierung: die abstrakte Identität wird auf den konkreten Widerspruch zurückgeführt. Für den jeweiligen Widerspruch muss ich mir die je konkreten Bedingungen anschauen und für welche weiteren Entwicklungsmöglichkeiten kann der jeweilige konkrete Widerspruch zum Grund werden.
Man muss dann schauen, für welche Entitäten so etwas geht. M.E. wurde genau hierfür der Begriff der Gesellschaftsformation eingeführt. Aber nicht im Sinne ihrer unmittelbaren Existenz, sondern insofern die Vermittlung ihrer Gegensätze im Grundwiderspruch begriffen wurde.
Den Begriff der Gesellchaftsformen umgehst Du mit Deiner Unterscheidung nach „Exklusions-/Inklusionslogik“, und m.E. ist dieser Ersatz gesellschaftstheoretisch nicht aufschlussreich. Ich würde die Gesellschaftsformatinen, die traditionell Klassengesellschaften genannt wurden, als „exklusionslogische“ verstehen, den Kommunismus als „inklusionslogisch“, aber das Exklusionslogische („auf Kosten anderer“) und Inklusionslogische („nicht auf Kosten anderer“) ist mir da noch viel zu abstrakt, als darin eine geeignete „Konkretisierung“ zu sehen.
Mehr dazu auch schon hier: https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2018/10/12/4-2-3-konkrete-tendenz-statt-abstraktes-ideal/
November 5, 2020 at 11:12 pm
Das ist kein Verstehensproblem, sondern mit der Setzung „konkret NICHT“ schließt du Möglichkeitsbestimmungen aus.
Ich habe die Gesellschaftsformationen nicht umgangen, sondern sie konkret benannt.
November 6, 2020 at 10:59 am
Nein, die Benennung mit Exklusionslogik und Inklusionslogik ist eine platte Unterscheidung, für die Du keinen wirklich konkreten Begriff entwickelt hast, wie es derjenige der „Gesellschaftsformationen“ zumindest dem Sinne nach ist. Eine Konkretisierung ist nicht eine neue Unterteilung, sondern eine Bestimmung der je konkreten Grundwidersprüchlichkeit der jeweils konkretisierten Momente.
Für die einzelnen Gesellschaftsformationen konnte man je nach spezifischen Grundwidersprüchen suchen (ob man immer welche und gute gefunden hat, weiß ich nicht, weil ich mich in der geschichtsphilosophischen Literatur der soz. Länder nicht vollständig auskenne). Aus diesem jeweils spezifischen Grundwiderspruch ergibt sich dann die wesentliche Dynamik der jeweiligen Gesellschaftsformation. Aber bei Exklusiv/inklusiv bleibt man bei der einfachen dualen Unterscheidung „Auf Kosten von anderen“ / „nicht auf Kosten von anderen“ stecken. Das ist zumindest nicht die Konkretisierung, auf die Hegel oder Marx mit dem Weg „vom Abstrakten zum Konkreten“ hinauswollen.
November 5, 2020 at 2:23 pm
Zur Relativität von „abstrakt“ und „konkret“: Ja, da sind wir uns grundsätzlich einig – mir ist das trotzdem zu „abstrakt“ oder zu „grob“. Denn es ist nicht die einzige Relation. Bezüglich einer abstrakt-allgemeinen Bestimmung, dass Menschen in Gesellschaften leben, ist die Bestimmung, dass diese exklusionslogisch oder inklusionslogisch strukturiert sein können, konkret. Diese wiederum ist abstrakt bzgl. der Konkretion, dass exklusionslogische Gesellschaften kapitalistische sein können und inklusionslogische commonistische. Etc. pp. Ein Aufsteigen von Abstrakten zum Konkreten, doch die utopischen Bestimmungen haben ihre Grenzen. Dass du die Konkretion real-historischer Phänomene beliebig fein treiben kannst, liegt auf der Hand. Das bedeutet aber nicht, dass jede Möglichkeitsbestimmung „abstrakt“ sei. Der unmittelbare Vergleich einer Wirklichkeitsbestimmung ggü. einer Möglichkeitsbestimmung ist IMHO unzulässig. Da du aber genau das betreibst, kann ich nur mit den Achseln zucken: So what? Was bringt die Vorhaltung, unsere Utopie sei nicht real/konkret? Sie ist real/konkret, als sie (abstrakte) menschliche Möglichkeiten entfaltet, sie ist nicht real/konkret, als sie „jetzt“ nicht ist. Ihr Wirklichkeitsbezug im ersten Sinne ist gegeben, im zweiten Sinne erweist er sich erst in der Transformation.
November 5, 2020 at 2:49 pm
Ich habe zum Bezug des Abstrakten/konkreten zu Möglichkeiten auch einen Teiltext geschrieben: https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2018/10/14/4-3-2-abstrakte-und-konkrete-moeglichkeiten/
„Der unmittelbare Vergleich einer Wirklichkeitsbestimmung ggü. einer Möglichkeitsbestimmung ist IMHO unzulässig.“ Wo hab ich etwas „unmittelbar“ verglichen?
November 5, 2020 at 11:17 pm
Hier: »„aber letztlich wollt Ihr, dass genau diese perfekte Möglichkeit auch verwirklicht wird“? .. und zwar genau jetzt?«
November 6, 2020 at 10:53 am
Okay, dann frage ich Euch ja genau das: Was wollt ihr mit der (abstrakten) Möglichkeit? Ihr wollt doch, dass sie verwirklicht wird, oder etwa nicht??? Ihr sagt und schreibt doch nicht: „Nun ja, wir haben mal eine grundsätzliche Möglichkeit aufgezeigt, macht damit was Ihr wollt…“ Ihr wollt ja schließlich auch eine Transformationstheorie genau dahin entwickeln. So stark kann man Utopie und Transformation nicht trennen, dass nicht auch in der Utopie drin stecken würde, dass man sie verwirklichen will. Übrigens trifft Euer Umgang mit dem, was Ihr denkt, was der „Begriff“ des Menschen ist, dann auch durchaus den Begriff der „Idee“, als welche sich auch bei Hegel ein wirklicher Begriff im nächsten Schritt entfaltet.
November 6, 2020 at 11:06 am
Übrigens, ich verstehe es nicht als „Vorhaltung“, wenn ich Eure Utopie als „abstrakt“ kennzeichne. Ich stelle ja keine Norm auf, dass eine Utopie konkret sein müsse. Natürlich denke ich, dass nur eine konkrete Utopie uns weiterbringen würde, das ist aber keine normative Vorgabe, sondern mit Argumenten untersetzt. Ihr könnt das aufgreifen oder auch nicht. Ich möchte nur meinen Standpunkt auch äußern können.
November 16, 2020 at 9:28 am
Na ja, ich habe dich schon so verstanden, dass du eine Norm aufstellst: konkrete Utopie = machbar = gut, abstrakte Utopie = unmachbar = schlecht. Gegen diese (abstrakte) Rahmensetzung versuche ich auf verschiedenen Ebenen zu argumentieren.
(1) Was als „abstrakt“ oder „konkret“ gilt, ist relativ; unsere Utopie ist konkret bzgl. des menschlichen Möglichkeitsraums, sie ist abstrakt bzgl. ihrer unmittelbaren Umsetzbarkeit. (2) Die Forderung an eine Utopie, sie müsse „machbar“ sein, bringt jede Utopie zum scheitern. Dann ist es keine Utopie mehr, sondern eine Transformationstrategie (etwa bei Bloch). (3) Die Forderung der „Machbarkeit“ hat zwei Ebenen, die der „prinzipiellen Machbarkeit“ und die der „unmittelbaren Machbarkeit“. Die prinzipielle Machbarkeit ist gegeben (so unsere Behauptung), insofern ist sie konkret. Die „unmittelbare Machbarkeit“ ist nicht gegeben, was aber auch nicht sein kann, vgl. 2. Die Machbarkeit kann keine unmittelbare sein (etwa deine Anforderung, sie müsse die jetzigen Bedingungen einbeziehen), sondern nur eine vermittelte, und der Vermittlungsprozess ist die Transformation. An die Transformation kann (und sollte) die Forderung der unmittelbaren Machbarkeit gerichtet werden.
Weil das so verzwickt ist, meinen viele, gleich die Utopie weglassen zu können oder zu müssen (du zum Beispiel). Sie beschränken sich auf eine „konkrete Utopie“ im Sinne einer Transformation, die an die heutigen Bedingungen unmittelbar anschließt. Doch jede Transformationsvorstellung enthält eine unexplizierte und damit verdeckte Utopie – oft eine, die nicht einmal den Namen im Sinne einer qualitativen Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse verdient. Darauf haben wir mit unserem Buch hingewiesen und unseren eigenen Anspruch umgesetzt, in dem wir die konkrete Utopie im Sinne einer Möglichkeitsutopie ausformuliert haben. In dieser Weise und Konkretheit (die noch weiter differenziert werden müsste) hat das noch niemand getan (es gibt Ansätze…), so weit ich weiß. Unsere zentrale Behauptung ist: Erst wenn man eine (kritisierbare) Utopie hat, kann man eine Transformationskonzeption formulieren. Da hilft uns dein viel zu abstraktes (sic!) „abstrakt-konkret“-Schema nicht weiter.
November 16, 2020 at 10:45 am
Das mit der „Norm“ ist auch eine Unterstellung. Ich begründe die Ansicht, dass solch eine abstrakte Utopie des prinzipiell Menschlichen zumindest für die Fragen, die ich mir grad stelle, nicht hilfreich sind und stelle nicht nur eine Norm auf.
November 16, 2020 at 10:43 am
„Sie beschränken sich auf eine „konkrete Utopie“ im Sinne einer Transformation, die an die heutigen Bedingungen unmittelbar anschließt.“ Dies zumindest ist eine Unterstellung, die nicht zutrifft. Ich würde nie eine wünschbare Zukunftsvorstellung haben, die an die heutigen Bedingungen der Trennung der Menschen von ihren Produktionsbedingungen anschließt. Ich würde aber nie von den natürlichen Bedingungen abstrahieren…
November 16, 2020 at 11:09 am
„Erst wenn man eine (kritisierbare) Utopie hat, kann man eine Transformationskonzeption formulieren.“
Ja, das ist dann doch das „Messen an einem Ideal“ (wie dem „Gattungswesen“ beim frühen Marx, auch wenn Ihr das „Begriff“ nennt. Ein Begriff im Hegelschen Sinne ist in Wahrheit übrigens nicht zufällig genau eine Idee im Sinne von Ideal 😉 )
Du unterstellst immer, gegenüber der kategorialen (bei mir abstrakten) Utopie gäbe es nur die Alternative einer „eine „konkrete[n] Utopie“ im Sinne einer Transformation, die an die heutigen Bedingungen unmittelbar anschließt“. Natürlich schließt eine konkrete Utopie nicht nur an die gegebenen Bedingungen an, sondern will viele von ihnen beseitigen. Aber die sich dann ergebenden Vorstellungen einer besseren Welt ohne diese Bedingungen gleich in den Bereich „nur-Transformation“ zu stecken, ist falsch. Grad bei Bloch passt das überhaupt nicht.
Ich habe die Frage, was statt perfektionistischen Utopien die menschliche Geschichte voranbringt im Teil „Konkrete Tendenz statt abstraktes Ideal“ (https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2018/10/12/4-2-3-konkrete-tendenz-statt-abstraktes-ideal/) behandelt. Für die Orientierung in Richtung des Emanzipativen, Besseren… brauche ich nicht die „schlechthin beste Verfassung“ (Aristoteles), sondern eine Aussage darüber, wie wir den konkret geschichtlich gerade vorliegenden Widerspruch zwischen Bedürfnissen und Bedingungen (vgl. bei Tjaden) lösen können.
Das Argument, für das Du Dich stark machst ist ja, dass wenn man sich das Andere/Bessere nicht vorstellen kann, dass dann kein Impuls für den Kampf um eine Veränderung dahin da sein kann. Aber es kann auch sein, dass die Reduktion des Utopischen auf eine solche „schlechthin beste Verfassung“ in Zeiten, wo die realen Bedingungen deren Umsetzung ziemlich aussichtslos sind, eher abschreckt und passiviert oder fehlorientiert, statt auf die trotzdem möglichen notwendigen Schritte zu orientieren, die eben nicht direkt (straight 1….5. nach Keimformkonzept) sondern nur über widersprüchliche Umwege weiter voran führen könnten.
November 16, 2020 at 11:52 am
Der wirkliche Dreh- und Angelpunkt, von dem aus wir die Welt verändern können, sind nicht die Ideale, sondern die Bedingungen. Bedingungen sind nicht nur das gerade Gegebene, sondern sie sind wesentlich „Möglichkeit eines anderen“ (HW 8: 287, vgl. HW 6: 204). Aber eben primär eines inhaltlich konkret zu bestimmenden Anderen (bestimmte Negation), während das „schlechthin Beste“ zwar mitspielt, aber kaum konkret handlungsorientierend werden kann.
November 16, 2020 at 3:46 pm
Zur Relativität von abstrakt/konkret. Das ist nur relativ, insofern es unterschiedliche Bezugsebenen betrifft, das Allgemeine teilt sich in Besonderes, das gegenüber seinen eigenen Besonderen wieder ein Allgemeine ist.
Nicht relativistisch ist dagegen das „Konkrete“ im Sinne: es wird auf die Potenzen der konkreten Wirklichkeit geschaut. D.h. auf die konkrete Widersprüchlichkeit orientiert. Da ihr das nicht habt, ist Eure Utopie in diesem Sinne nun wirklich nicht konkret, sondern eben abstrahierend von solchen Widersprüchen.
November 6, 2020 at 11:03 am
Ich finds übrigens lustig, dass hier eine Fußnote eine Diskussion hervorruft, die seit mindestens Ende 2018 anhand der Texte https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2018/10/04/ueber-utopie-und-transformation-neu-nachdenken-1/ hätte beginnen können. Wir hatten ja beim CI-Treffen mündlich begonnen, uns dann aber nie weiter durchgehangelt.
November 25, 2020 at 5:38 pm
»Ich würde nie eine wünschbare Zukunftsvorstellung haben, die an die heutigen Bedingungen der Trennung der Menschen von ihren Produktionsbedingungen anschließt.« – Da du dich von einer Utopie als wünschbarer Zukunftsvorstellung verabschiedet hast, die genau mit dieser Trennung bricht, liegt es nahe, sie dann doch nur zu reproduzieren. Ohne eine explizierte, im Prozess der Transformation veränderbare Utopie, die qualitativ mit den alten Formen bricht, kommt es nur wieder zur Reproduktion der alten Formen.
»Ja, das ist dann doch das „Messen an einem Ideal“ (wie dem „Gattungswesen“ beim frühen Marx« – Nein, ist es nicht. Wir stellen kein Ideal auf, dass erfüllt werden müsse. Wir entwickeln Bedingungen, unter denen wir eine qualitativ neue Form der Vergesellschaftung erreichen können.
»Für die Orientierung in Richtung des Emanzipativen, Besseren… brauche ich nicht die „schlechthin beste Verfassung“ (Aristoteles), sondern eine Aussage darüber, wie wir den konkret geschichtlich gerade vorliegenden Widerspruch zwischen Bedürfnissen und Bedingungen (vgl. bei Tjaden) lösen können.« Wir suchen nicht nach einer besten Verfassung und auch keinem anderen Ideal. Sondern nach Bedingungen, die den »geschichtlich gerade vorliegenden Widerspruch zwischen Bedürfnissen und Bedingungen … lösen können.« Die Lösung findest du nicht als „unmittelbare Machbarkeit“, sondern nur als „prinzipielle Machbarkeit“ als Resultat eines geschichtlichen Prozesses. Diese Differenz überspringst du einfach.
»Der wirkliche Dreh- und Angelpunkt, von dem aus wir die Welt verändern können, sind nicht die Ideale, sondern die Bedingungen. (…) während das „schlechthin Beste“ zwar mitspielt, aber kaum konkret handlungsorientierend werden kann.« – Das ist eine unbegründete These. Kann sein. Ich halte dem die These entgegen, dass ohne eine solche die Bedingungen aufhebende „Möglichkeit eines anderen“ schlicht gar nichts qualitativ verändert werden kann. Was nutzt dir die „handlungsorientierende“ Funktion, wenn sie das Bestehende nur reproduziert und nicht mit einer Aufhebung verbunden ist.
Aus meiner Sicht ist ein Kernproblem deiner Sichtweise, dass du unter dem aktuellen Handlungsdruck der Klimakatastrophe die „unmittelbare Machbarkeit“ als Gegensatz zu einer „prinzipiellen Machbarkeit“ ansiehst. Noch die Alten haben das Verhältnis von Reform und Revolution, das hier in neuer Gestalt wiederkehrt, eben als das begriffen: als Verhältnis. Mit Kapitalismus gibt es keine Klimarettung. Wer Klimaaktivismus von der Aufhebung abkoppelt, wird sie nicht erreichen und schafft auch nicht die Voraussetzungen dafür, dass im Moment des Kairos, die Aufhebung gelingen kann.
»Nicht relativistisch ist dagegen das „Konkrete“ im Sinne: es wird auf die Potenzen der konkreten Wirklichkeit geschaut. D.h. auf die konkrete Widersprüchlichkeit orientiert. Da ihr das nicht habt, ist Eure Utopie in diesem Sinne nun wirklich nicht konkret, sondern eben abstrahierend von solchen Widersprüchen.« – Die Utopie kann das nicht haben, die Transformation muss es haben. Eine Konkretion haben wir nun versucht, sicher noch unzureichend, doch stets in dem Bemühen, die Aufhebung nicht zugunsten des Konkretismus aufzuheben: https://keimform.de/2020/diskussionsstand-der-buchprojektgruppe-zur-commonistischen-transformation/
November 25, 2020 at 6:06 pm
Hä? wieso unterstellst Du mir das Gegenteil von dem, was ich geschrieben habe?:
„»Ich würde nie eine wünschbare Zukunftsvorstellung haben, die an die heutigen Bedingungen der Trennung der Menschen von ihren Produktionsbedingungen anschließt.« – Da du dich von einer Utopie als wünschbarer Zukunftsvorstellung verabschiedet hast, die genau mit dieser Trennung bricht,…“
November 25, 2020 at 6:06 pm
Ich sehe auch nicht nur die „„unmittelbare Machbarkeit“ als Gegensatz zu einer „prinzipiellen Machbarkeit““, sondern ich sehe andere Lösungen, andere neue Gesellschaftsformen in Angriff nehmen, die noch nicht Euren („perfektionistischen“) Forderungen entsprechen. Ihr seht nur die beiden Alternativen: Entweder Kapitalismus oder Eure Utopie. Und so binär sehe ich es halt nicht. Das hängt u.a. mit unserer unterschiedlichen Bestimmung dessen, was Kapitalismus ist zusammen. (https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2018/10/07/3-2-1-reduzierte-kapitalismuskritik/ und folgende).
November 25, 2020 at 6:06 pm
„ist Eure Utopie in diesem Sinne nun wirklich nicht konkret, sondern eben abstrahierend von solchen Widersprüchen.« – Die Utopie kann das nicht haben…“ Doch, eine KONKRETE UTOPIE kann und muss das haben.
Dezember 18, 2020 at 2:12 pm
»Entweder Kapitalismus oder Eure Utopie« – Annette, was soll das? Zig mal haben wir im Buch, um mal nur das zu nehmen, darauf hingewiesen, dass unsere Utopie-Bestimmungen nicht die einzigen sein müssen, sondern dass es andere geben kann und wir alle einladen, sie darzustellen.
»ich sehe andere Lösungen, andere neue Gesellschaftsformen in Angriff nehmen« – na dann mal heraus damit!
Dezember 18, 2020 at 4:12 pm
Nun, um diskutierbar zu sein, müsst Ihr aber auch zu „Eurer“ Utopie stehen und nicht einfach alles offen lassen, weil „es andere geben kann“. Ich selbst werde keine Alternative zu Eurer (!) abstrakten Utopie entwickeln und wie „andere neue Gesellschaftsformen“ als konkrete Utopie entstehen, habe ich auch ausführlich geschrieben: https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2018/10/12/4-2-3-konkrete-tendenz-statt-abstraktes-ideal/.