Dies gehört zum Projekt „Verstehen wir Gesellschaften als Systeme oder Verhältnisse?“.


Reflexionslogisch sind Besonderungen des Allgemeinen „Stuhl“ zum Beispiel „Bürostuhl“ oder „Küchenstuhl“ und so weiter (vgl. zu den Stühlen auch Froeb 1997-99). Diese einzelnen Stuhlarten lassen sich nicht aus dem Begriff des „Stuhls“ ableiten – der Begriff „Stuhl“ fasst Gemeinsames der besonderen Stuhlarten zusammen, er bildet eine sog. abstrakte Allgemeinheit. Im Begriff des „Stuhls“ liegt es jedoch, dass jeder „Stuhl“ eine „Sitzfläche“ hat und eine „Lehne“. Diese notwendigen Momente dessen, was „Stuhl“ genannt wird und auch wirklich einen Stuhl darstellt, machen den so bestimmten „Stuhl“ zu etwas konkret-Allgemeinem. Um auf das Allgemeine zu kommen, wird hier nicht von Besonderheiten (ob es ein Büro- oder Küchenstuhl ist) abstrahiert, sondern dieses Allgemeine bestimmt sich konkret aus der Gesamtheit seiner Besonderheiten, denn ohne „Sitzfläche“ und ohne „Lehne“ ist kein Stuhl ein Stuhl. Dabei gilt, dass sich der Gesamtzusammenhang in jedem einzelnen (z.B. dem Stuhl) vollständig (notia completa) ausdrückt, denn jeder einzelne Stuhl hat alle Momente. Aber er ist nicht in jedem Einzelnen vollkommen (notio perfecta) – es gibt keinen Stuhl, der eine „vollkommene Lehne“ hätte.[1] (nach Holz 2005: 208)

Auch die Analyse des Kapitalismus von Marx enthält beide Sichtweisen: Er bezieht sich auf die schon von den bürgerlichen Ökonomen unterschiedenen Kategorien wie „Ware“, „Geld“ oder „Wert“ und untersucht deren Wechselbeziehungen im Kapitalismus. Zum Wesen des Kapitalismus im Vergleich zu anderen Gesellschaftsformationen, in denen es schon Waren, Geld und Wert gibt, dringt er erst vor, als er die Besonderheit der Ware Arbeitskraft erkennt, denn deren konkreter Gebrauchswert besteht darin, mehr Wert zu schaffen, als ihre Reproduktion bedarf. Damit wird die Äquivalenzbeziehung des Austauschs durchbrochen, denn die Aneignung dieses Mehrwerts ohne äquivalenten Austausch stellt die konkrete Besonderheit der Gesellschaftsform Kapitalismus gegenüber anderen Gesellschaftsformationen mit Warenproduktion- und Austausch dar. Es ist für diese Konkretisierung unerheblich, wie man diese Besonderheit im Weiteren wertet, als die „historische Mission der Arbeiterklasse“ begründend oder lediglich als Quelle der Erweiterung des Selbstreproduktionskreislaufs. Diese konkrete Besonderheit der kapitalistischen ökonomischen Verhältnisse enthält neben der Tatsache, dass auch die dadurch begründeten Klassenunterschiede nur Unterschiede innerhalb des Kapitalismus sind, auch die Tatsache, dass wenigstens ein Pol, nämlich das schöpferische Arbeitsvermögen über dieses Verhältnis wenigstens potentiell „hinausschießt“ (vgl. Schlemm 2011a). Bleibt man jedoch bei der (Vor-)Entscheidung, bei den Momenten des kapitalistischen Systems nur die abstrakte Identität zu sehen, verleugnet man diese qualitativen Unterschiede systematisch. Marxistisch ist das jedoch nicht, sondern verbleibt in dem von Marx kritisierten bürgerlichen Denkrahmen der Fetischisierung. In dem die zirkuläre Wert-Verwertung fetischisiert wird, wird das angesprochene „Mehr“ dann nur als quantitative Vermehrung gesehen; von ihrer konkreter Quelle im menschlichen Arbeitsvermögen (das die kapitalistischen Verhältnisse überschreiten kann) wird dann abstrahiert.

Manchmal treten die besonderen Momente auch als konkrete Erscheinungsweisen auf. So erweist sich das, was als „H2O“ begriffen wird, als Eis, Wasser oder Wasserdampf. Eis ist H2O, Wasser ebenso und Wasserdampf auch. Und diese drei Erscheinungsweisen erfüllen den Möglichkeitsraum vollständig, es gibt nicht noch weitere Aggregatzustände von H2O. H2O ist einerseits das allen besonderen Erscheinungsformen Gemeinsame, das von ihren Besonderungen abstrahiert – aber es existiert nicht ohne seine Erscheinungen (außer in gedanklichen Abstraktionen) und seine Erscheinungen enthalten dieses Allgemeine (sie sind chemisch elementar aus zwei Wasserstoff-Atomen und einem Sauerstoffatom in der für H2O typischen Weise aufgebaut). Gleichzeitig enthält jedes Moment das Andere (oder genauer gesagt: die Möglichkeit zum Anderen zu werden), indem es sich in dieses umwandeln kann. Man würde in diesem Fall eher nicht sagen, das „System“ oder das „Ganze“ H2O bestehe aus den „Elementen“ oder „Teilen“ Eis, Wasser und Wasserdampf, sondern eine systemische Betrachtung verweist auf die chemische Zusammensetzung und die Teile von Sauerstoff und Wasserstoff. Dabei gehen die konkreten physischen Qualitäten des Unterschieds der drei Erscheinungsformen verloren. Im Erkenntnisgang ist jedoch diese Abstraktion (wenn sie in angemessener Weise geschieht) als Durchgangsphase notwendig, um mit den so erhaltenen abstrakten Elementen zur konkreten Erklärung ihrer konkreten Wechselbeziehungen zu gelangen, die die konkreten Qualitäten erklärt. Bei Wasser sind etwa die Cluster, die sich aus Wasserstoffbrückenbindungen ergeben – im Zusammenhang mit van der Waals-Kräften, wesentlich (vgl. Morawietz et al. 2016).

[1] Dies scheinen Simon Sutterlütti und Stefan Meretz anzunehmen, wenn sie in ihrer „kategorialen Utopie“ (Sutterlütti, Meretz 2018: 99ff.) die Möglichkeit der utopischen „allgemeinen Inklusion“ (ebd.: 127) aus dem „Begriff vom/des Menschen“ abzuleiten versuchen. 


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