Dies gehört zum Projekt „Verstehen wir Gesellschaften als Systeme oder Verhältnisse?“.


Wir sind damit schon zu einer weiteren Unterscheidung gelangt, die in der Hegelschen Philosophie wichtig ist und auch für die Unterscheidung von systemischem und dialektischem Denken. Es geht um die Unterscheidung von Wesen und seinen Erscheinungen, um deren Verkehrung und ihre Einheit. Das Systemische bleibt im Bereich der Erscheinungen und behandelt deren gegenseitige Beziehungen und die daraus „emergierenden“ ganzheitlichen Systeme. Dass in bzw. hinter den Erscheinungen so etwas wie ein „Wesen“ enthalten bzw. verborgen ist, ist nach der anti-essentialistischen Wende im zeitgenössischen Denken fragwürdig geworden. Wie verfehlt solch ein Verzicht auf das Wesen ist, zeigt das einfache Beispiel der Planetenbewegung. Würden wir lediglich die Erscheinungen untersuchen, blieben wir bei der Beschreibung der Bewegungsveränderungen am Himmel, gesehen vom geozentrischen Standpunkt aus, stehen. Diese Bewegung wäre dann auch, wie systemtheoretisches Denken, relativ gegenüber unserem Beobachterstandpunkt, denn auf dem Mars würden wir andere raumzeitliche Koordinaten der Bewegung der anderen Planeten verzeichnen als auf der Erde. Auf jeden Fall bewegen sich für solche Beobachter alle Planeten letztlich um ihren Standpunkt herum, auf wie verworrenen Bahnen auch immer. Tatsächlich jedoch, „in Wirklichkeit“, so wissen wir seit Kopernikus, Kepler und Newton, erfolgt die Planetenbewegung entsprechend des Newtonschen Gravitationsgesetzes um die größte Masse, d.h. die Sonne herum. Das Newtonsche Gravitationsgesetz, aus dem sich die Keplerschen Planetengesetze ableiten lassen, ist das Bewegungsgesetz der Planeten. Das Wesen der Planetenbewegungen ist im physikalischen Sinne mit dem Gravitationsgesetz erkannt und diese Erkenntnis geht über die reine Beschreibung der Erscheinungsformen, der Phänomene, hinaus. Die wissenschaftliche Erkenntnis solcher Gesetze, die zwar in den Erscheinungen drin stecken, aber nicht immer offensichtlich sind, zielt darauf, das in den Erscheinungen steckende, aber oft verborgene oder gar verkehrte Wesen zu ergründen. Nach Marx ist dies auch das Kennzeichen von Wissenschaft, denn „alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen“ (Marx, MEW 25: 825).[1]

Inhaltlich können wir uns dem Verständnis dessen, was das „Wesen“ ist, auch über die eben vollzogene Überlegung nähern. Bei aller Veränderung der Koordinaten der Planeten bleibt das Gravitationsgesetz gleich. Bei Umwandlungen der Aggregatzustände (Eis, Wasser, Wasserdampf) bleibt das H2O es selbst. Die Minimalbestimmung von Wesen ist also, dass es Invariantes der Bewegung ausdrückt. Wo wir in der Sphäre des Erscheinenden Übergänge zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen haben, wo also eine in eine andere übergeht, finden wir im Wesen eine bleibende Beziehung, die Beziehung von dem Einen auf sein Anderes. Das Invariante, was sonst auch „Substanz“ genannt wird, erweist sich auf dieser Stufe der Erkenntnis als Beziehung, in der Physik z.B. meist in Gestalt von Formeln mit mathematischen Funktionen erfasst. Auch hier haben wir wieder unterschiedliche Formen von Beziehungen. Mittels der generalisierenden Abstraktion, also der Abstraktion von allem Unwesentlichen, gelangen wir zu einem abstrakten Wesen, dem oben schon diskutierten abstrakt-Allgemeinen: H2O ist H2O. Konkret-Allgemein wird dieses Wesen, wenn wir es als den Grund verstehen, aus dem heraus es als Eis, Wasser oder Wasserdampf erscheinen kann, d.h. wenn wir aus dem konkreten Wesen (der Theorie des Wassers) heraus begreifen, warum unter welchen Bedingungen Eis, Wasser oder Wasserdampf entstehen. Wenn die Besonderung in aller Vollständigkeit und notwendigerweise sich aus dem konkret-Allgemeinen selbst ergibt. Wenn sich aus der „eigenen inneren Bewegung“ (Schnauß 1977: 116) der chemischen Elemente H und O in ihren konkreten Zusammenhängen die wirklichen Erscheinungsformen ergeben. Dieses so erkannte Wesen wird dann zum Grund des Erscheinenden. Man kann in den oben genannten wichtigen Wasserstoffbrückenbindungen erkennen, dass hier eine positive Teilladung des Wasserstoffs und die negative Teilladung des Sauerstoffs wechselwirken. Dabei sind die Ladungen gegensätzlich und gerade deswegen bildet sich Wasserstoffbrücke aus. Ein sehr einfaches Beispiel für das, was in der dialektischen Philosophie Widerspruch genannt wird. Dieser wird aber erst dann erkennbar, wenn wir nicht von den konkreten Qualitäten der beteiligten Teile abstrahieren. Ein Grund ist jeweils ein als dialektischer Widerspruch aufgefasstes Wesen. Wenn wir begriffen haben, von welchen widersprüchlichen konkreten Beziehungen das Ganze gebildet wird bzw. sich die Teile in einem notwendigen Verhältnis zueinander befinden, haben wir das konkrete Wesen, die konkrete Allgemeinheit, d.h. die Totalität begriffen. Die oben zuerst genannte Invarianz ist zwar eine Erscheinungsform des Wesens, aber eine, bei der die Widersprüchlichkeit noch verborgen ist – sie reicht als alleinige Bestimmung des Wesens auf keinen Fall aus. Mit solch einem dialektischen Begriff des Wesens wird, wie auch bei der Kritik des sog. „Essentialismus“, durchaus die Vorstellung eines Wesens verabschiedet, bei der dem Wesen eine von der Erscheinung verselbständigte Existenz zukäme.

Was sich als mehr oder umfangreiche Theorie mit gesetzmäßigen (d.h. allgemeinen und notwendigen) Zusammenhängen zwischen Grundkategorien/Merkmalen zeigt, wird in der Hegelschen Philosophie auch „Begriff“ genannt. Wenn man mit dem Begriff auf die Frage danach antwortet, „WAS“ etwas ist, so erklärt man alle „WARUMs“ dieser Sache. Man hat dann ihren „Begriff. Aus ihm heraus begründen sich seine eigenen notwendigen Momente und die möglichen einzelnen Existenzweisen. Die Antwort auf die Frage „Was ist (der Begriff von) Wasser?“ ist die gesamte physikalisch-chemische Theorie der Bildung von H2O in all seinen Formen, die sich um die wesentliche und widersprüchlich strukturierte Wasserstoffbrückenbindung dreht. Bei der Erklärung von Phänomenen aus ihrem Wesen heraus ist zu beachten, dass das Gesetz lediglich das Allgemeine im Besonderen und Einzelnen, das Identische im Unterschiedenen, das Notwendige im Zufälligen beinhaltet, jedoch die Erscheinung zwar die Erscheinung des Wesens ist, aber mehr Elemente aus der bloßen Unmittelbarkeit enthält, als jeweils mit dem Gesetz erfasst werden. In der Erscheinung enthalten alle einzelnen Phänomene das Besondere auf je unterschiedliche Weise, oft in zufälliger Verteilung. Die Erscheinungen in einer Welt, in der objektive Zusammenhänge, also gesetzmäßige Beziehungen vorliegen, beziehen sich auf diese wesentlichen Zusammenhänge und diese zeigen sich notwendigerweise in Erscheinungen. Es gibt kein nicht erscheinendes Wesen und keine Erscheinung, die nicht innerhalb von Wesenszusammenhängen existieren würde. Wenn vor allem in der Gesellschaftstheorie von einem „Schein“ gesprochen wird, bezieht sich diese Bezeichnung i.a. auf die Verkehrung des Wesens im Schein. So erscheint den Menschen im Kapitalismus „ihre eigne gesellschaftliche Bewegung“ ihnen in „Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren“ (MEW 23: 89). Dies ist einerseits “nur“ ein Schein, denn in Wirklichkeit ist auch der Kapitalismus die Bewegung des Verhältnisses zwischen Menschen und nicht nur die Bewegung von Sachen. Aber andererseits ist genau diese Verkehrung eine Erscheinung der kapitalistischen Verhältnisse; er ist nicht nur eine subjektive Täuschung, sondern er ist “objektiver Schein“, notwendig aus diesen Verhältnissen entspringend. Erst das Begreifen dieser Einheit von Erscheinung und Wesen führt zu einer angemessenen Theorie, dem, was bei Hegel als „Begriff in der „Wissenschaft der Logik“ erfasst ist (HW 6: 243ff.).

Im Begriff (als der Theorie des Begreifens des jeweiligen Erkenntnisgegenstands) wird der Zusammenhang zwischen Wesen und seinen Erscheinungen begriffen. In Hegels Sprache findet sich diese Tatsache wieder in der Bestimmung des Begriffs als  „unendliche, schöpferische Form, welche die Fülle alles Inhalts in sich beschließt und zugleich aus sich entläßt“ (HW 8: 307). Zurückbezogen auf das Verhältnis von Allgemeinem, Besonderen und Einzelnem zeigt sich der Begriff als das konkret-Allgemeine, die Totalität, die ihre Besonderungen nicht auslöscht, sondern sie konstituiert und sich aus ihnen konstituiert. Er ist der Grund für die einzelnen Erscheinungsformen, die jeweils unter bestimmten Bedingungen in die Existenz treten.

Das Verhältnis von Wesen, vor allem in seiner abstrakten ersten Form, und dem vollendeten Begriff ist keins der Zerstörung des ersten durch das letzte. Stattdessen ist die abstrakte Erkenntnisstufe eine notwendige Durchgangsstufe, um überhaupt zur vollständigen Theorie des konkret-Allgemeinen, d.h. zur begrifflichen Ebene der Erkenntnis, zu kommen. Verhängnisvoll wäre bloß eine Verabsolutierung dieser Stufe.

[1] Dies gilt auch für die Gesellschaftstheorie, insbesondere die Kritik der politischen  Ökonomie des Kapitalismus: „Die fertige Gestalt der ökonomischen Verhältnisse, wie sie sich auf der Oberfläche zeigt, in ihrer realen Existenz, und daher auch in den Vorstellungen, worin die Träger und Agenten dieser Verhältnisse sich über dieselben klarzuwerden suchen, sind sehr verschieden von, und in der Tat verkehrt, gegensätzlich zu ihrer innern, wesentlichen, aber verhüllten Kerngestalt und dem ihr entsprechenden Begriff.“ (ebd.: 219) Siehe dazu weiter unten.


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