Wieder mal habe ich ein altes Buch in der Hand. 50 Jahre ist es alt und es kommt mir beim Durchblättern auch inhaltlich häufig so alt vor. Ganz hinten lese ich aber etwas, das mich quasi „anspringt“. Es ist eigentlich trivial, muss aber wohl doch manchmal in Erinnerung gerufen werden – es geht um die Relativität dessen, was möglich ist und was nicht.

Ich habe bereits einiges zum Verhältnis von abstrakten und konkreten Möglichkeiten zum Begriff der Möglichkeiten (Schlemm 2018a) geschrieben. Das abstrakt Mögliche ist nicht unmöglich und widerspricht sich nicht selbst. Dies gilt unabhängig von Bedingungen und bleibt „leeres Reden“ (nach Hegel HW 8: 282).

Konkret werden Möglichkeiten erst, wenn man den Zusammenhang zu ihren Bedingungen erfasst. Konkrete Möglichkeiten sind relativ gegenüber dem Gegebensein von Bedingungen. Diese Bestimmung hilft auch bei der Unterscheidung, was gerade als abstrakt und was als konkret gelten kann. „Vertikal“ gesehen gibt es Ebenen mit unterschiedlichem Allgemeinheitsgrad. Was auf der einen Ebene abstrakt ist, ist auf der anderen konkret. Und was auf der „oberen“ Ebene konkret war, wird für die „untere“ abstrakt. Inhaltlich können wir das Konkrete daran erkennen, dass dafür für die jeweilige Ebene konkrete historische Bedingungen und Voraussetzungen angegeben sind. Als konkret möglich wird etwas gedacht, wenn diese konkret-historischen Voraussetzungen mit bedacht werden. Zwar unterliegt auch die Existenz der Menschheit Bedingungen, aber wenn es um die Möglichkeit einer spezifischen Gesellschaftsformation geht, verbürgen die dafür spezifischen Bedingungen die Konkretheit und nicht etwa die allgemeinen. Für die spezifische Gesellschaftsformation Kapitalismus reicht es nicht aus, dass die allgemeinen Möglichkeiten des Menschseins erfüllt sind, sondern dass Menschen als LohnarbeiterInnen kein Eigentum an den grundlegenden Produktionsvoraussetzungen mehr haben.[1] Es gibt also quasi eine vertikale Relativität dessen, wofür die Bedingungen für die Fragestellung nicht berücksichtigt werden und wofür sie wesentlich sind.

Das Wirkliche wie auch das Mögliche verändern sich für jede dieser Ebenen im Laufe der Zeit – dies kennzeichnet die „horizontale“ Relativität. Vor dem Wurf eines Würfels ist es möglich, dass ein 1, eine 2, … eine 6 gewürfelt wird. Beim Würfeln verwirklicht sich eine der Möglichkeiten. Beim Würfel verändern sich für den zweiten Wurf die möglichen Möglichkeiten, d.h. das Möglichkeitsfeld, nicht. Bei irreversiblen Prozessen jedoch, wozu die geschichtlichen gehören, ändert sich durch das Verwirklichen von einer oder einigen Möglichkeiten in jedem Schritt das Möglichkeitsfeld selbst. Deshalb gilt, und nun will auch das oben genannte Buch wenigstens kurz zitieren: „Im Prozeß der Realisierung verändert sich das Möglichkeitsfeld ständig.“ (Pawelzig 1970: 202) Zusätzlich verändern sich auch Bedingungen, die gar nicht aus dem Prozess selbst folgen, und die für die Möglichkeit genauso maßgebend sind. Ermöglichend oder Möglichkeiten einschränkend.

Der daraus folgende wichtige Satz für eine gesellschaftsverändernde Strategie ist dann dieser:

„Im Prozeß der Realisierung kann sich auch erweisen, daß die festgelegten Ziele infolge der Veränderung der Bedingungen nicht voll erreichbar sind., so daß Zielkorrekturen vorgenommen werden müssen.“ (ebd.: 203)

Wenn man die eigene Strategie z.B. nach der sog. „Keimformtheorie“ ausrichtet, folgt man einer Rekonstruktion, die Klaus Holzkamp für das Nachvollziehen der Evolution des Psychischen bis hin zur menschlichen Psyche (Holzkamp 1983: 59-81) und die Herausbildung der Fähigkeit zu individuellem Lernen bei Menschen (ebd.: 123ff.) durchgeführt hat (allgemein zur dieser Methode ebd.: 52ff.). Die Übertragung dieser Methode auf menschliche Geschichte und gar Zukunftsgestaltung (Sutterlütti, Meretz 2018: 202ff.) berücksichtigt nicht die bei Holzkamp angegebenen Grenzen dieser Methode (vgl. Schlemm 2018b und folgende Links) und macht daraus eine allgemeine Entwicklungstheorie, bei der allerdings tatsächliche Entwicklungstheorien in ihrer Komplexität weit unterlaufen werden.

Bei meinen eben verlinkten Kritiken an dieser Übertragung sind die eben erwähnten Veränderungen der Bedingungen für konkrete Möglichkeiten noch nicht enthalten. Vielleicht wurde meine Aufmerksamkeit in der letzten Zeit stärker darauf gelenkt, weil ich mehr historische Texte gelesen habe über Rußland/die Sowjetunion nach 1917 oder auch die belletristische Darstellung der Debatten um jeweils sich schnell ändernde Möglichkeiten für revolutionäre Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der unbedingt empfehlenswerten „Ästhetik des Widerstands“. Wenn man sich in diese Prozesse einfühlt, und gleichzeitig auch wahrnimmt, wie sich Handlungsbedingungen in der Welt – politisch wie auch ökologisch-klimatisch – gerade rasant verändern, dann wird eine Transformationsstrategie, die sich nicht wesentlich an ihnen orientiert, sondern eher an ihnen vorbei direkt auf eine „kategoriale Utopie“ (Sutterlütti, Meretz 2018: 99) im Sinne der abstrakten Utopie zusteuert, recht fragwürdig. Glücklicherweise erweist sich die weitere Bearbeitung dieses Themas (für den Teil „Transformation“) schon deutlich realitätsgesättigter (siehe Klick 2020). Allerdings sind viele Herausforderungen, allein der notwendigen sachlich-technischen Revolutionierung der Reproduktionsgrundlagen, die in ökosozialistischen Texten thematisiert werden (Zeller 2020: 45ff.: Kern 2019), noch gar nicht angesprochen.[2]

Auch für Utopie (das von uns gewünschte Ziel) selbst sind mittlerweile grundlegend veränderte Bedingungen zu bedenken. Dass wir uns mit allergrößter Wahrscheinlichkeit mit dauerhaft instabilen Klimabedingungen und massiv zerstörten natürlichen Potentialen (Artenschwund, Versauerung der Ozeane…) u.a. mit allen Folgen für die Landwirtschaft und Ernährung herumschlagen werden müssen, hat Folgen für jede jetzt noch erreichbare wünschbare Zukunft, auch wenn wir uns abstrakt gesehen noch mehr wünschen könnten. Es besteht die Gefahr, dass aus der Perspektive der perfektionistischen abstrakt – „kategorialen“ Utopie die wegen den veränderten Bedingungen notwendig werdenden Umwege und Zwischenschritte delegitimiert werden.


[1] Meines Erachtens sind die „Inklusionsbedingungen“ Freiwilligkeit und kollektive Verfügung (Sutterlütti, Meretz 2018: 155ff.) keine derartigen Bedingungen (sie werden in der Zwischenüberschrift auch „Grundlagen“ genannt (ebd.: 160)). Sie sind quasi logische Bedingungen, aber innerhalb welcher historischen Voraussetzungen sie in dieser Absolutheit verwirklicht werden können, bleibt offen. Die Autoren schließen diese Überlegungen bewusst aus (siehe Fußnote 32 auf Seite 158f.), bzw. zeigen ihre Unsicherheit dazu an anderer Stelle wenigstens ehrlich (ebd.: 211). Vor allem fehlt beim Schritt 1 ihres methodischen Fünfschritts die Analyse hindernder Bedingungen und die ganze Überlegung wird dadurch zu einer „Schönwetter-“ Theorie. Die Abkopplung von Voraussetzungen zeigt sich auch daran, dass davon ausgegangen wird, dass Menschen „vorsorgend alle notwendigen Lebensbedingungen herstellen“ (ebd.: 134, kursiv AS) und nicht berücksichtigt wird, dass viele dieser Voraussetzungen nicht durch die gerade lebenden Menschen wirklich neu geschaffen werden können, sondern sie historisch-konkret jeweils nur in beschränkter Weise vorhanden sind. Gerade solche (historisch durch die Menschheit selbst erzeugten) ökologisch-klimatischen Beschränkungen werden die Handlungsmöglichkeiten aber in der Zukunft entscheidend prägen.

[2] Man kann nicht gut einige mögliche (vor allem unterstellte, die ich weder bei Kern noch bei Zeller gefunden habe) Antworten auf Aufgabenstellungen ablehnen (Sutterlütti 2020), die man sich selber noch gar nicht gestellt hat.