Dieser Text gehört zum Projekt „Anregungen von Maurice Godelier“
Karl Polanyi[1] untersuchte, wie bestimmte Märkte dazu führen, dass die Gesellschaft nur noch als „Anhängsel des Marktes“ (Polanyi 1944/1978: 88) zu verstehen ist:
„Die Wirtschaft ist nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen sind in das Wirtschaftssystem eingebettet.“ (ebd.: 88-89)
Er unterscheidet dabei zwischen „einzelnen Märkten“, die in andere Gesellschaftsfunktionen eingebettet sein können und einer „Marktwirtschaft“, in der die „auch die Gesellschaft selbst so gestaltet werden [muß], daß das System im Einklang mit seinen eigenen Gesetzen funktionieren kann“ (ebd.: 89). Märkte auf Fernhandels- oder auch lokaler Basis begleiten die Menschheit fast überall und immer – nur auf europäischem Gebiet wurde „durch das Eingreifen des Staates“ (ebd.: 96) eine neue Form von Märkten geschaffen. Zuerst durch nationalstaatliche Maßnahmen zur Aufhebung der traditionellen Schranken, danach durch die Ermöglichung[2] „eines einzigen großen, selbstregulierenden Marktes“ (ebd.: 101). Die daraus entstehende „Marktwirtschaft ist ein ökonomisches System, das ausschließlich von Märkten kontrolliert, geregelt und gesteuert wird; die Ordnung der Warenproduktion und -distribution wird diesem selbstregulierenden Mechanismus überlassen“ (ebd.: 102).[23] Das erfordert, „daß die gesamte Produktion auf dem Markt zum Verkauf steht und daß alle Einkommen aus diesen Verkäufen entstehen“ (ebd.: 103). Auch Arbeit, Boden und Geld werden nun zu Waren. Da diese Produktionsfaktoren aber nicht direkt für den Verkauf hergestellt wurden, nennt Polanyi sie „fiktive Waren“ (ebd.: 107f.). Verbunden mit dem Gebrauch dieser Faktoren als Waren ist die Tendenz ihrer Zerstörung, deshalb müssen sie geschützt werden (ebd.: 109), was jeweils durch unterschiedliche Kräfte und Institutionen in der Gesellschaft reguliert wird. Auf diese Weise sind die anderen, vor allem die politischen Kräfte in der Gesellschaft auch wesentlich für die Gesellschaft, dominant wird jedoch die Eigenlogik des Wirtschaftlichen.[4] Ab jetzt musste sich „die Organisierung der Arbeit den Entwicklungen des Marktsystems anpassen“ (ebd.: 111) und damit „war die menschliche Gesellschaft zu einem Beiwerk des Wirtschaftssystems herabgesunken“ (ebd.).
Auch bei Marx werden nur jene Güter zu Waren, die einen „Gebrauchswert für andere“ (MEW 23: 55) haben, und die natürlichen Grundlagen (Boden) und Kinder (Arbeitskräfte) wurden sicher primär gar nicht (Naturproduktivität) oder wenigstens nicht zu diesem Zwecke (Kinder) „hergestellt“. Bei Marx spielt nicht der von Polanyi betonte „fiktive“ Charakter ihres Ware-Seins die wesentliche Rolle; sondern es sind insgesamt die „objektiven Bedingungen der Arbeit“, wie „Grund und Boden, Rohmaterial, Lebensmittel, Arbeitsinstrumente, Geld“ (MEW 42: 410), die im Kapitalismus „freigemacht von ihrem bisherigen Gebundensein an die nun von ihnen losgelösten Individuen“ (ebd.) sind, und den den „losgelösten eigentumslosen Individuen“ (ebd.) gegenüber gestellt werden. Das dadurch begründete Klassenverhältnis ist nach Marx der tiefste Kern des Kapitalismus, auch wenn im „Kapital“ am Anfang abstrakte Begriffe wie „Ware“, „Wert“ usw. thematisiert werden (vgl. Schlemm 2016). Für Marx gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen Waren und Wert vor der Dominanz der kapitalistischen Wirtschaft und in dieser Dominanz. Geld wird nicht automatisch in Kapital verwandelt, sondern nur unter besonderen historischen Bedingungen.[5] Die Verwandlung von Geld in Kapital „kann nur unter bestimmten Umständen vorgehn, die sich dahin zusammenspitzen: Zweierlei sehr verschiedene Sorten von Warenbesitzern müssen sich gegenüber und in Kontakt treten, einerseits Eigner von Geld, Produktions- und Lebensmitteln […] andrerseits freie Arbeiter, Verkäufer der eignen Arbeitskraft und daher Verkäufer von Arbeit“ (MEW 23: 742). Und noch einmal deutlich die Grundvoraussetzung für Kapital und mithin Kapitalismus:
„Das Kapitalverhältnis setzt die Scheidung zwischen den Arbeitern und dem Eigentum an den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit voraus.“ (ebd.)
Auf dieser Grundlage können die Eigentümer der objektiven Produktionsbedingungen den Zweck und die Art und Weise der gesellschaftlichen Arbeit bestimmen und jene, die nur über ihre subjektiven Produktionsbedingungen (Arbeitskräfte) verfügen, werden nicht mehr mit nichtökonomischen Mitteln zur Arbeit gezwungen, sondern durch ökonomischen Druck. Die Individuen sind alle „grundsätzlich frei und vor dem Gesetz gleich“ (Godelier 1987: 639); zwischen ihnen bestehen „keine anderen Verpflichtungen […] als die, welche sich aus ihrer spezifischen Stellung im Produktionsprozeß ergeben“ (ebd.). Für all jene, die nicht einmal ihre Arbeitskraft an die Produktionsmitteleigentümer verkaufen (können), ergeben sich damit auch spezifische Ausbeutungslagen. Diese werden häufig eher verschleiert als mit berücksichtigt bei der Analyse verschiedenster Diskriminierungen, zu denen neuerdings auch der im kulturellen Diskurs konstruierte „Klassismus“[6] gezählt wird. Es geht nicht nur um Diskurse und Diskriminierungen, sondern den Ausschluss von der Zwecksetzung der Produktion und der Richtungsbestimmung der gesellschaftlichen Entwicklung.
Dass auch für die realen Agenten der Kapital(ismus)entwicklung die Richtung vorgegeben ist, ist kein Trost. Auch sie werden auf einer bestimmten Stufe der Darstellung der Momente des „Kapitals“ bei Marx als „ökonomische Charaktermasken“, d.h. als „Repräsentanten von Ware und daher Warenbesitzer “ (MEW 23: 100) bezeichnet. Sie sind damit „nur Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse“ (ebd.). Im zweiten Kapitel des „Kapitals“, in dem diese Bestimmungen auftauchen, hat die Darstellung noch nicht die Differenzierung von Wert und Mehrwert und erst recht nicht die der Klassenverhältnisse erreicht, deshalb erscheinen auch die arbeitenden Menschen nur als Besitzende ihrer Ware Arbeitskraft. Das vorherige Kapitel im „Kapital“ endete mit der Darstellung des Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt (ebd.: 87), wobei „das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis […] die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt.“ (ebd.: 86). Die nächste fetischisierende Sichtweise ist die, dass Menschen sich nur in Form ihrer Charaktermasken begegnen würden. Von verschiedenster lese- und denkfauler Kapitalismuskritik wird gern diese Form des Fetischismus als ausreichende Kritikform des Kapitalismus vertreten. Sie übersieht wesentliche Unterschiede der Waren, die zu Markte getragen werden: Waren, die im Produktionsprozess zusammenwirken müssen, die aber im Eigentum getrennt sind. Nur durch diese Eigentümertrennung von Eigentum Arbeitskraft und an den anderen Produktionsbedingungen werden jene klassenspezifischen Interessen erzeugt, deren Bewegung die Dynamik des Kapitalismus im Handeln der Menschen bestimmt. Und diese Interessen sind beileibe nicht auf jene reduziert, die auf Grundlage der noch sehr abstrakten Darstellung der Kapitalismusverhältnisse im zweiten Kapitel des „Kapitals“ auftauchen, nämlich jene des Warenaustauschs. Völlig offen bleibt da noch, warum diese Waren ausgetauscht werden (Kapital gegen Arbeit: unmittelbar zum Zwecke der Zusammenführung im wirklichen Produktionsprozess, mittelbar für die Arbeitskrafteigentümer zur individuellen Reproduktion, für die Produktionsmitteleigentümer zur Erreichung von Profit). Und völlig offen bleibt noch, woher das Delta G in der Austauschformel: Ware – Geld – Ware + Delta G herrührt. Ein paar Hundert Seiten weiter und im übernächsten Band des „Kapital“ geht es dann eher zur Sache: „Die ganze Schwierigkeit kommt dadurch hinein, daß die Waren nicht einfach als Waren ausgetauscht werden, sondern als Produkt von Kapitalen“ (MEW 25: 184). Es geht – um hier nur das Ergebnis einer ausführlichen Argumentation aus diesen hunderten Seiten abzukürzen – für die Kapitalisten nicht platt nur einfach um die Konkurrenz in Bezug auf Markpreise. Sondern es geht um das jeweilige Verhältnis der Produktionspreise im Verhältnis zum Mehrwert. Es reicht z.B. in der ökologischen Wachstumskritikdebatte nicht aus, bloß pauschal auf „die Konkurrenz“ als Wachstumstreiber zu verweisen, sondern es muss die sich ausbildende Durchschnittsprofitrate ist das wesentliche Maß verwiesen werden. Wenn das Kapital zwischen unterschiedlichen Branchen mit unterschiedlichen Durchschnittsprofiten wechseln kann, stellt sich über den gesamten Wirtschaftsbereich ein einheitlicher Durchschnittsprofit ein. Dann müssen sich alle Kapitale in ihrer Profitabilität an diesem Durchschnittsprofit messen. Konkurrenz stellt einerseits diese Durchschnittsprofitrate her, andererseits müssen sich alle Konkurrierenden an ihr messen (vgl. Kuhne 1995: 115, MEW 25: 872f.). Erst wenn historisch dieser Entwicklungsstand erreicht ist, wirkt der kapitalistische Systemzusammenhang tatsächlich als Totalität, alles andere ihm unterwerfend. Wenn sich die Kapitalisten an diesem Durchschnittsprofit messen müssen und nicht mehr nur mit dem Kostpreis dieser oder jener Konkurrenten, müssen sie nicht mehr nur niedrige Kostpreise anstreben, sondern sie müssen den jeweiligen Anteil am Mehrwert im Wert der Produkte maximieren. Dies kennzeichnet das Entwicklungsstadium, in dem kapitalistische Wirtschaftsformen nicht nur neben den traditionellen bestanden, sondern die dominierende Rolle übernehmen. Wenn die Unternehmen darum konkurrieren müssen, den Anteil des Mehrwerts zu steigern, bedeutet das auch eine Verstärkung der Ausbeutung und letztlich ist dies der Antrieb für die Wachstumsdynamik im Kapitalismus.
[1] Mehr vor allem zu Polanyis Orientierung auf sozialistische Ziele zugunsten der „gemeinen“ Menschen siehe auch in Brie 2015: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/Brie_Polanyi_neu_entdecken.pdf).
[2] Diese Ermöglichung war i.a. ein nichtintendierter Effekt der Regulierungen, nicht ihr Zweck (siehe zur merkantilistischen Politik Polanyi 1944/1978: 99ff., 104f.; Müller 1992: 31ff.).
[3] Der qualitative Sprung von Ökonomien mit Märkten zur Dominanz der Marktwirtschaft ist nach Polanyi bedingt durch die „Erfindung komplizierter und somit spezieller Maschinen und Fabrikationsstätten, die das Verhältnis des Kaufmanns zur Produktion völlig veränderte“ (Polanyi 1944/1978: 110). Sie erforderten langfristige Investitionen und eine ausreichende Sicherung der Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Geld, was durch ihr „Käuflich-Werden, u.a. durch die Aufhebung der vorherigen Schranken wie des Niederlassungsgesetzes von 1662 (gelockert 1795) und des Speenhamland-Gesetzes von 1795 (aufgehoben 1834) in England, ermöglicht wurde.
[4] Auf die Entstehung von Eigenlogiken von Funktionssystemen, wie Wirtschafts-, politischem und Rechtssystem macht auch Niklas Luhmann aufmerksam (z.B. Luhmann 1984: 324) aufmerksam. Dabei negiert er jedoch gerade die Dominanz des Wirtschaftlichen in den gegenwärtigen kapitalistisch dominierten Gesellschaften.
[5] Entgegen vieler anderslautender Interpretationen in meinem Umfeld wiederhole ich die Argumentation dazu an vielen Stellen, z.B. Schlemm 2011b), Schlemm 2011c, Schlemm 2018, Schlemm 2019.
[6] Diesen verschleiernden Effekt erlebte ich in Onlinediskussionen mit jungen Leuten, die trotz meiner mehrmaligen Erklärungsversuche, die marxsche Position zu Klassen vom Klassismus zu unterscheiden, überhaupt nicht wahrnahmen und danach über die Gruppendiskussion so referierten, als hätte ich auch über den Klassismus gesprochen.
Januar 13, 2021 at 10:24 am
Hi,
ich möchte zu lokalen Märkten folgendes anmerken:
Während Märkte Treffpunkte des Fernhandels seien – so Karl Polanyi -, sind „die eigentlichen Lokalmärkte kaum von Bedeutung“ (90). Eske Bockelmann setzt diesen lokalen Handel mit Hökerei gleich, er hat dafür ein griechisches Wort (kapelos, kapeloi, den Querstrich auf dem e musst du dir denken). „Die kapeloi (…) zeigen das verschwindend geringe Normalmaß, das Kauf und Verkauf in einem antiken Gemeinwesen haben und in edem geldfern wirtschaftenden Reich“ (Bockelmann 2020:110). Ehrbare Leute versorgen sich dort nicht. Es gibt eine Gruppe der Gesellschaft, der gar nichts anderes übrig bleibt: die Theten, formal Freie der Unterklasse.
Zurück zu Polanyi (auf den Bockelmann sich auch bezieht): Dies diskutiert er in der Auseinandersetzung mit der wirtschaftstheoretischen „Ideologie des 19. Jahrhunderts“: aus Neigung tauschte der Mensch, also brauchte er Lokalmärkte, damit die versorgt wurden brauchte es Fernhandel. Die Reihenfolge will Polanyi umgekehrt wissen, dann entfällt am Schluss auch das Wort „Neigung“.
Freundliche Grüße
Wilfried
Januar 13, 2021 at 5:04 pm
Auch bei anderen Punkten stimme ich nicht direkt mit Polanyi überein. Was ich her als Argument übernehme ist der grundlegende Unterschied zwischen Märkten/Waren-/Geld-Wirtschaften vor dem Kapitalismus und im Kapitalismus. Die bessere Argumentation für diese Unterscheidung ist m.E. jene von Marx. Dabei entsteht methodisch das Problem, dass man mit Marx mitgehen muss bei seiner Bestimmung des Kapitalismus als KAPITAL-ismus (nicht Geld-ismus!) und dann ergibt sich von daher auch der Unterschied zu den anderen Märkten/Geld-Warenwirtschaften.