Hier dokumentiere ich eine unvollendete Studie von mir zur Entstehung des Feudalismus, die eine gewisse Bedeutung bei der Frage hat: Wie entstehen eigentlich Gesellschaftsformationen – gibt es dabei eher verallgemeinerbare Abfolgen und Prinzipien oder eher nicht? Sie ist Teil der Bemühungen, uns im Kontext von Commoning-Debatten mit dem Thema „Weltgeschichte und Transformation“ (WuT) zu beschäftigen.


Was ist eigentlich und
wie entstand der „Feudalismus“?

Der Begriff „Feudalismus“ ist häufig eingebettet in eine marxistische Geschichtstheorie und bezeichnet eine der historisch-konkreten Gesellschaftsformationen. Die Produktions- und Lebensweise der Menschen in einer bestimmten Gesellschaftsformation ist durch bestimmte qualitative Wesenszüge bestimmt, die nur dieser Gesellschaftsformation zukommen und die sie zu einem Ganzen machen, in dem viele Charakteristika zusammen gehören und nicht voneinander trennbar sind.

„Feudalismus“ kennzeichnet die Epoche zwischen dem 7./8. Jahrhundert und dem 17. Jahrhundert in Mitteleuropa; ob auch andere Zivilisationen als „Feudalismus“ zu betrachten sind, hängt von den Inhalten des Begriffs „Feudalismus“ ab. Um ihn zu bilden, muss man ihm mindestens eine besondere „Konfiguration struktureller Beziehungen“ (Hilton 1978a: 11) zuschreiben.

Heute möchte ich in diesem Zusammenhang vor allem über einen Text aus dem Buch von Otto Hintze: „Wesen und Verbreitung des Feudalismus“ aus dem Jahr 1929 (hier aus dem Buch „Feudalismus – Kapitalismus“ von 1970) berichten. Für ihn ist der Feudalismus ein „Prinzip der Kriegsverfassung und der Wirtschafts- und Sozialverfassung“ (Hintze 1929/1970: 14). Die von mir bisher gelesenen marxistischen Autoren konzentrieren sich stark auf den ökonomischen Aspekt, dazu werde ich im Anschluss noch etwas ergänzen.

Was ist eigentlich „Feudalismus“?

Bevor ich zur Geschichte der Entstehung des Feudalismus komme, ist eine inhaltliche Bestimmung des Begriffs „Feudalismus“ notwendig, denn man muss ja schließlich wissen, welche gesellschaftlichen Verhältnisse historisch beschrieben werden sollen. Hier gilt das ansonsten etwas holprige Bild von Marx, dass die „Anatomie des Menschen […] ein Schlüssel zur Anatomie des Affen“ (MEW 42: 39) sei. Bei der Untersuchung der Entstehung von etwas ist es wichtig zu bestimmen, was das „Etwas“ ist, was entstand.

Hintze sieht in einem vollständigen Feudalismus drei verschiedene funktionale Strukturen verwirklicht. Wenn nur je eine oder zwei davon vorhanden sind, könnten beliebig viele Kulturen als „feudal“ bezeichnet werden, was Hintze jedoch nicht als zielführend ansieht. Deshalb sind für ihn eine spezifische Kriegs-, eine Wirtschafts- und eine soziale-politische Verfassung wichtig.

  • Die feudale kriegerische Verfassung ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die Sippe als Schutzverband aufgelöst hat und ein berufsmäßiger Kriegerstand entsteht, bei dem die Krieger als Privatpersonen in ein besonderes Rechtsverhältnis zum Herrscher eintreten (Lehnswesen, Vasallentum; in islamischen Staaten: Iķţaa, in Rußland: Pomêstie). Damit sie sich auf die Kriegsführung spezialisieren können, bekommen sie für eine gewisse Zeit einen Grundbesitz als Lehen zugesprochen, aus dessen Bewirtschaftung sie ihren Lebensunterhalt bestreiten. Sie sind dem Herrscher treuepflichtig. Dort, wo der Kriegsadel nicht feudaler Herkunft war, sondern an die alten Geschlechterverhältnisse anknüpfte, wie in Ungarn und Polen, sieht Hintze keinen „echten“ Feudalismus. Der Kriegsdienst beruhte dort nicht auf einem Privatvertrag, sondern auf öffentlicher Pflicht.
  • Damit verbunden sind die ökonomischen Verhältnisse: Die auf dem Land tätigen Bauern, die sich nicht mehr selbst (wie früher als Stammesangehörige) schützen können, leisten an den Grundherrn Abgaben im Austausch gegen Schutz. „Die Bauern tauschten ihre Freiheit, von der sie wenig hatten außer belastenden Verpflichtungen, gegen den Schutz der Patronen bzw. Grundherren ein und begaben sich in Abhängigkeit.“ (Drexler 2001: 143) Die „Grundherrschaft mit hörigen Bauern“ wird zur „ökonomische[n] Grundlage eines von arbeitsfreien Renten lebenden Kriegsadels“ (Hintze 1929/1970: 27). Feudalismus in diesem Sinne besteht nur, wenn die Dörfer nicht mehr nach verwandtschaftlichem Prinzip organisiert sind oder in Kasten wie in Indien. Auch in nordeuropäischen Ländern war dies nicht verwirklicht, sondern die alten Land- und Volksverbände der Stammesverfassung waren weiter Grundlage des öffentlichen Lebens (ebd.: 30).
  • Die Grundherren erhalten bzw. nehmen sich auch obrigkeitliche Rechte wie die Rechtsprechung. Diese „Staatsgewalt“ verteilt sich noch nicht nach Funktionen, sondern nach Objekten (Land und Leuten) (ebd.: 22). Dies setzt eine „unvollkommene Integration der auf … Privilegien gestützten Teile zu einer Staatseinheit, die noch nicht auf einem allgemeinen und gleichen Staatsbürgerrecht beruht“ (ebd.) voraus.

Durch die Verbindung der ersten beiden Funktionen werden zwei Theorietraditionen vereinigt: zum einen jene, die im Feudalismus nur das Lehnsverhältnis sieht und auch jene, die vor allem die Ausbeutung der abhängigen BäuerInnen betont. Marxistische Bestimmungen des „Feudalismus“ betonen i.a. die wirtschaftliche Konstitution, die darauf beruht, dass Menschen, deren Arbeitskraft noch keine Ware ist, als unabhängige Produzenten mit eigenen Produktionsmitteln und der Möglichkeit, sich selbst zu ernähren dennoch abgabenpflichtig sind, wobei die Abgaben aus Arbeitsleistung, Naturalien oder Geld bestehen können. (vgl. Dobb 1946/1972, vgl. Takahashi 1978: 90f.) Diese Abgaben bilden als feudale „Grundrente“ die für den Feudalismus typische Form der Mehrproduktaneignung* der Ausgebeuteten durch die Ausbeutenden.

*(Danke, Stefan, für die Korrekturanregung)

Periodisierung

Für den Feudalismus wird üblicherweise eine Periodisierung diskutiert, bei der die Jahreszahlen nicht immer gleich sind. Nach Hintze ist der Frühfeudalismus bis zum Ende des 12. Jahrhunderts vom Überwiegen des militärischen Faktors gekennzeichnet (Hintze 1929/9170: 45). Dieser Zeitraum wird bei Herrmann noch einmal unterteilt. In der ersten Periode zwischen dem 4.und dem 6. Jahrhundert entstehen nach der Zerschlagung bzw. dem Verfall der antiken Staatsmacht neue Großreiche (Herrmann 1986: 197). Bis zum 10. Jahrhundert bildet sich großes feudales Grundeigentum und es gelingt die „Durchsetzung feudaler Produktionsverhältnisse und feudaler Klassenstruktur in teilweise bewaffneten Kämpfen zwischen sich herausbildendem Feudaladel und Feudalbauern“ (ebd.). Vom 9.-11. Jahrhundert stabilisiert sich schließlich die Feudalordnung. (ebd.: 198). Damit waren auch die Gentilstrukturen überwunden und die territorial bezogene Organisation der Gesellschaft setzte sich durch (ebd.: 194).

Als Hochmittelalter wird bei Hobsbawm die Zeit vom 10. bis zum frühen 14. Jahrhundert bezeichnet, bei Hintze geht dies bis ins 16. und 17. Jahrhundert. Hier findet eine verbreitete und rapide ökonomische Entwicklung statt (Hobsbawm 1978: 217f.) und bis ins 13. Jahrhundert hinein wird dies auch klimatisch begünstigt durch die sog. mittelalterliche Klimaanomalie. Hintze betont, dass in diesem Zeitraum der aus dem Kriegeradel hervorgehende Adel seinen politischen Einfluss steigert und seine militärische Funktion sich verringert. Klimatisch und auch wirtschaftlich kam es seit dem 14. Jahrhundert zu großen Krisen. Seuchen und Missernten erschütterten die sozialen Gefüge. Erste Erhebungen von Bauern werden geschichtsmächtig. Obwohl schon für das 14 und frühe 15. Jahrhundert von Krisen des Feudalismus gesprochen wird, kam es zwischen Mitte des 15. und dem 17. Jahrhundert noch einmal zu Expansionen (ebd.: 217f.). Das Sinken der Bevölkerungszahl führte z.B. auch dazu, dass die Getreideproduktion auf ungünstigen Böden eingestellt werden konnte und spezialisierte Produktion bzw. Gewerbe wachsen konnten (Gilomen 2014: 98). Demnach löste spätestens der „exogene demographische Schock“ einen „Prozeß schöpferischer Destruktion“ aus (ebd.: 99, mehr zu Innovationen im Mittelalter siehe auch Gilomen 2010). Damit sind wir im Spätfeudalismus. In dieser Zeit – also im 16. und 17. Jahrhundert – zeigte der Adel ein steigendes Interesse an der  Erhaltung und Ausnutzung seiner ökonomisch-sozialen Stellung als Grundherr oder Gutsherr (Hintze 1929/1970: 45, in England wesentlich früher, siehe Mothes 1985).

Feudalismus durch Kulturverflechtung

Feudale Gesellschaften in der von Hintze diskutierten Dreiheit von Kriegsverfassung, Wirtschafts- und politischer Verfassung gab es nur im „romanisch-germanischen“ Gebiet, in islamischen Staaten, in Rußland und Japan. In allen anderen Regionen bzw. Ländern war jeweils eine der Funktionen nicht in dem von ihm genannten Sinn ausgeprägt. Die vollständigen feudalen Staaten hatten eine besondere Gemeinsamkeit in ihrer Entstehung: Sie entstanden beim Zusammenkommen von zwei Kulturen: einer noch in Form der alten Stammesverfassungen und eine mit einer großen imperialen Vergangenheit.

Im Frankenreich lehnte sich der Aufbau der Verwaltungsorganisationen an das Vorbild des römischen Reichs und der römischen Kirche an (Hintze 1929/1970: 16). Die Innovation des Lehnswesens diente hier der Erhaltung einer „Institution“, die „eigentlich aus dem Geiste des römischen Beamtenstaates stammte“ (ebd.). Für beide beteiligten Kulturen entstanden disruptive Veränderungen. So veränderten sich die Eigentumsformen im ehemals germanischen Gebiet durch den römischen Einfluss. Früher durfte Allod-Eigentum nur mit ausdrücklicher Zustimmung der Gemeinde an Fremde vergeben werden. Erst durch „[d]as Zusammentreffen mit dem römischen Privateigentum streifte das germanische Allod diese urgesellschaftlichen Beschränkungen ab, es wurde Privateigentum und veräußerlich. Damit aber wurde das Allod zum Angelpunkt des Kampfes der entstehenden Klassen.“ (Herrmann 1986: 168) Auch im römischen Reich konnten die notwendigen Veränderungen nicht allein von innen heraus erreicht werden: „Die ausgedehnten Volksaufstände, die seit dem 2. Jd. In großer Zahl im Zusammenhang mit der krisenhaften Entwicklung im weströmischen Reich ausbrachen, beschleunigten den Übergang zum Kolonat; es gelang jedoch nicht, den alten Staatsapparat zu zerschlagen und eine gesamtgesellschaftliche Umwälzung zu vollziehen. Diese wurde erst durch das Auftreten der „barbarischen“ Stämme, die seit Jahrhunderten mit der Geschichte der Sklavenhaltergesellschaft verbunden waren, möglich.“ (ebd.: 166-167)

Auch Marx und Engels betonten die Bedeutung des Zusammentreffens von germanischen und römischen Elementen, aber sie verwiesen dabei auf die grundlegende Bedeutung der Produktivkraftentwicklung: „Die Feudalität wurde keineswegs aus Deutschland fertig mitgebracht, sondern sie hatte ihren Ursprung von seiten der Eroberer in der kriegerischen Organisation des Heerwesens während der Eroberung selbst, und diese entwickelte sich nach derselben durch die Einwirkung der in den eroberten Ländern vorgefundenen Produktivkräfte erst zur eigentlichen Feudalität.“ (Marx, Engels 1846/MEW 3: 64-65)

Es gab noch keine sachliche Grundlage einer neuen Struktur, die nicht mehr durch die Stammesgliederung bestimmt war, deshalb entwickelte sich die Dominanz der persönlichen Herrschaftsmittel. Vorher war ein Mensch eng in seinen Stammesverband eingebunden und bezog seine Stärke daraus. Wer aus dieser Gemeinschaft herausfiel, verlor vieles. Ein „freier Mann“, der den Vasallenstatus eingeht, erlangt aber einen erhöhten Status. Gleichzeitig haben die neuen bäuerlichen Gemeinden nicht mehr den traditionellen Schutz durch ihre eigene kriegerische Tradition, sondern es beginnt eine Arbeitsteilung zwischen Vasallen-Kriegern und BäuerInnen, die die BäuerInnen abhängig vom Schutz durch die anderen macht. Da die Macht der Vasallen von der Landübergabe durch den König abhängig ist, neigen BäuerInnen über die gesamte Zeit des Feudalismus hindurch dazu, diese Macht des Königs anzurufen und auf sie zu hoffen, wenn es zu direkten Konflikten mit ihren direkten ausbeuterischen Grundherren geht (dazu mehr in einem späteren Text über bäuerlichen Widerstand).

In den anderen feudalen Regionen sieht Hintze ähnliche Kulturverflechtungen: In Rußland begegneten sich das Ostslawentum und das oströmische Reich sowie die griechisch-katholische Kirche. Auch hier wird den Rittern ein privilegierter Stand als Grundherr und Obrigkeit eingeräumt und dieser privilegierte Stand lebt von den Abgaben der Untertanen (ebd.: 37f.). In den Islamstaaten kamen die sassanidische und die byzantische Zivilisation zusammen. Besondere arabische Krieger wurden mit Land ausgestattet – allerdings gab es hier kein privates Vasallentum. Der privilegierte Kriegerstand lebte auch hier von den Abgaben der BäuerInnen auf dem Land. Und in Japan wurde die Feudalisierung durch die Rezeption der chinesischen Staatlichkeit und des Konfuzianismus angeregt. All dies sind „unnormale“ Formen der Herausbildung von Staaten nach der früher vorherrschenden Stammeskultur. Die antiken Reiche bildeten sich eher „normal“ und direkt aus den Stämmen heraus. Auch in Ägypten und China bildete sich keine im oben genannten Sinne bestimmte feudale Gesellschaft, vor allem, weil sie keine Lehnsverhältnisse kannten und auch die Bauern nicht systematisch in ein feudales System der Grundherrschaften eingebunden waren.  „Solange die staatsbildenden Kräfte im richtigen Verhältnis zu den von ihnen zu bewältigenden Aufgaben bleiben, ist es nicht nötig, zu feudalen Herrschaftsmitteln zu greifen oder dem Partikularismus Zugeständnisse  zu machen…“ (ebd.: 33)

„Der Feudalismus im vollen Sinne stellt sich in der Regel nur dort ein, wo die normale, direkte Entwicklung vom Stamm zum Staat abgelenkt wird durch eine weltgeschichtliche Konstellation, die zu einem überstürzten Imperialismus führt.“ (ebd.: 28)

Ich kann gleich weiter zitieren, weil hier interessante Gedanken folgen: „Der Feudalismus ist nicht das Geschöpf einer immanenten nationalen Entwicklung, sondern eine weltgeschichtlichen Konstellation, wie sie nur in größeren Kulturkreisen vorkommt.“ (ebd.: 27) Nur dann entsteht ein Widerspruch zwischen den Möglichkeiten eines rein persönlichen Herrschaftsprinzips und der Notwendigkeit, „weite Räume politisch zu organisieren“, unter der Voraussetzung, dass die Stammeskulturen bereits nicht mehr prägend sind und Naturalwirtschaft herrscht.

Feudalismus als „eine Begleiterscheinung jenes Doppelprozesses […]: einmal des Überganges von der alten, lockeren, vorwiegend genossenschaftlich charakterisierten Stammes- und Sippenverfassung zu einer festeren, vom herrschaftlichen Prinzip durchdrungenen Staats- und Gesellschaftsordnung, zugleich aber der diesen […] Prozeß kreuzenden und ablenkenden, durch weltgeschichtliche Fügung bewirkten Einstellung auf eine imperialistische Staatsidee [..].“ (ebd.: 45)

Kommen wir nun noch einmal auf marxistische Konzepte zurück. In ihnen wird nicht die Beziehung zwischen Lehnsherr und Vasall als die wesentliche angesehen, sondern jene “zwischen den unmittelbaren Produzenten (Handwerkern und Bauern) und ihren Feudalherren“ (Takahashi 1978: 90) – d.h. das ökonomische Verhältnis ist das wesentliche und der Begriff des Feudalismus kann dann auch ausgeweitet werden auf Gesellschaften, in denen die kriegerische oder die politische Verfassung nicht den Bestimmungen von Hintze folgt. Trotzdem hängen diese verschiedenen Aspekte zusammen, nur werden in den marxistischen Betrachtungen die Beziehungen zwischen den arbeitenden Menschen und ihren objektiven Arbeitsbedingungen als das Wesentliche betrachtet. Aus marxistischer Sicht jedenfalls ist wichtig „vor allem die gesellschaftliche Daseinsform der Arbeitskraft […], da sie der grundlegende und entscheidende Faktor der verschiedenen Produktionsweisen ist“ (Takahashi 1978: 91).

„Es ist jedesmal das unmittelbare Verhältnis der Eigentümer der Produktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten. […] Dies hindert nicht, daß dieselbe ökonomische Basis – dieselbe den Hauptbedingungen nach – durch zahllos verschiedne empirische Umstände, Naturbedingungen, Racenverhältnisse, von außen wirkende geschichtliche Einflüsse usw., unendliche Variationen und Abstufungen in der Erscheinung zeigen kann, die nur durch Analyse dieser empirisch gegebnen Umstände zu begreifen sind. (MEW 25: 799-800)

Was kennzeichnet hier die feudalen Formen? Gegenüber den früheren ist es sicher die Auflösung der Sippenverbände (die neue Strukturen notwendig machten) und auch die vorwiegend landwirtschaftlich-sesshafte Lebensweise. Greifen wir den Marx-Satz mit der Anatomie des Menschen als Schlüssel zur Anatomie des Affen auf, so kann auch hier gelten: „Ein rationales Erfassen des Feudalismus setzt wissenschaftliches Verständnis des Kapitalismus als historische Kategorie voraus.“ (Takahashi 1978: 90)

Auch aus der Negation dessen, was sich im Kapitalismus geändert hat, kann auf das vorherige Feudale geschlossen werden. Der Kapitalismus bedeutet eine Loslösung der Individuen von den objektiven Bedingungen der Arbeit (Marx MEW 42: 410), im Feudalismus sind sie noch verbunden. Der Arbeiter ist unabhängiger Produzent mit eigenen Produktionsmitteln und der Möglichkeit, sich selbst zu ernähren; dies ermöglicht auch, dass die Arbeitskraft ist noch keine Ware ist (vgl. Takahashi 1978: 93).

Die Arbeitskraft ist im Feudalismus keine Ware, der arbeitende Mensch tritt dem Besitzer der objektiven Arbeitsbedingungen nicht als zumindest rechtlich Gleichwertiger auf. Die Arbeit im Feudalismus ist letztlich bei aller Verbindung mit den objektiven Lebensbedingungen eine ausgebeutete, denn der Zugang an diese objektiven Lebensbedingungen, vor allem Land, ist auch hier an Bedingungen gebunden, an die Abführung von Arbeitsleistungen oder -ergebnisse an denjenigen, der das Land zur Verfügung stellt.

Feudale Eigentumsformen

Die wohl häufigsten Eigentumsformen sind das Lehngut (beneficium), in der Volkssprache feudum von  *fëhu-ôd = Vieh-Eigentum: Dem Inhaber steht nur das Eigentum auf dem darauf gezogenen Vieh, nicht dem Grundstück selbst zu (Hintze 1970: 17f.) und das Allod, ein volles Privateigentum, das der bäuerlichen Ackerwirtschaft und der Hufenverfassung der Dorfmark zugrunde liegt (wobei die Bewirtschaftung dem sog. Hufenzwang unterliegt und oft verbunden ist mit der Allmende).

Als Allmende wird nur ein Teil, insbesondere des Lands, bewirtschaftet. Es hatte ein großes Gewicht insb. zur „Stabilisierung sozialer Ungleichheit und Exklusion“ (Scholten 2016: 8) als „Zusatzeinnahme“ (ebd.). Die „horizontale Integration der Markberechtigten auf der Grundlage gemeinsam genutzter Ressourcen“ war jedoch immer eingebunden in die „vertikale[n] Integration in die Macht- und  Gesellschaftsstrukturen einer ständischen Gesellschaft” (Scholten 2016: 8 vgl. auch Hübner 2016) und konnte nur da besonders aufleben, wo die feudale Macht „Nischen“ ließ, d.h. „unterhalb des Zugriffs der Institutionen und im toten Winkel des Auges der Obrigkeit“ (vgl. Schibel 1985: 266). Fachsprachlich wird dieser Zusammenhang so formuliert, dass „auch die Differenzierungslogik ständischer Gesellschaften [zu] berücksichtigen [ist], um Partizipationsformen strukturell zu kontextuieren“ (Scholten 2016: 9) 

Diese Eigentumsformen sind recht vielfältig in ihrer konkreten Ausgestaltung und haben eine lange Geschichte. Das bäuerliche Eigentum wurde immer wieder bedroht und direkt oder indirekt enteignet. Zur Zeit Karls des Großen (747-814) wurden die freien Bauern z.B. durch die mit dem Land verbundene Pflicht zum Kriegsdienst stark belastet. Vom Hoftag von 811 wird berichtet: „Danach brachten die Bauern die Klage vor, wenn jemand seine Eigengüter dem Bischof, Abt, Grafen, Richter oder Amtmann und Zentenar nicht geben wollte, so ließen sie ihn immer wieder gegen den Feind ziehen bis er, verarmt, sein Eigen ihnen wohl oder übel übergebe oder verkaufe. Andere aber, die ihr Eigentum schon übergeben hätten könnten zuhause bleiben.“ (Gilomen2014: 46) Auch andere Zwangslagen können zur Übergabe des Besitzes führen. So zitiert Drexler (2001: 137) jemanden, der seinen Besitz „freiwillig“ abgibt: „Da es jedermann bekannt ist, daß es mir an Nahrung und an Kleidung fehlt, habe ich mich bittend in Euer Erbarmen gewandt und frei beschlossen, mich in Eure Munt zu geben bzw. zu kommendieren. Das habe ich getan; es soll sein, daß Ihr mit Speise und Kleidung mir helft und mich unterhaltet; -in dem Maße, wie ich mit meinem Dienst Eure Hilfe erwerben kann. Bis zu meinem Tod muß ich Euch dienen und Eurem Befehl folgen, wie ich es als Freier kann.“ (Munt: Von „mundium“ : „Gewalt eines Muntherrn über einen spezifischen Personenkreis der Hausgemeinschaft“)

Die lange Geschichte solcher Eigentumsformen zeigt sich für England auch schon in der vornormannischen Zeit:

„Sippen- oder Dorfgenossenschaften hatten bei den Angelsachsen von altersher ein Einspruchs- und Vorkaufsrecht für Land, das nach Volksrecht vererbt wurde. Solches „Folkland“ konnte aber der König mit Zustimmung der „witan“ durch ein urkundliches Privilegium (bok) zum frei veräußerlichen und vererblichen Allod (bokland) machen, was besonders erwünscht für die Kirche war. Der König mit den „witan“ trat damit als der Rechtsnachfolger der Sippenverbände auf. Gestützt darauf, konnte sich Wilhelm der Eroberer zum Obereigentümer alles Grund und Bodens im Lande erklären und den Grundsatz durchführen, daß aller Grundbesitz vom König verliehen sei und als ein „tenementum“ besessen werde. Es war die allgemeine Feudalisierung des Grundbesitzes, die noch heute im englischen Bodenrecht, z.B. bei  Enteignung zu öffentlichen Zwecken, nachwirkt.“ (Hintze 1929a/1970: 32)

(Witan: „Treffen der Weisen“, tenementum: von lat. teneo, engl. Bedeutung: hold, have, grasp, posess, occupy, control…)

Ausbeutung im Feudalismus

Ausbeutung im Feudalismus ist die „erzwungene, von seinem Willen unabhängige Verpflichtung des Produzenten, bestimmte wirtschaftliche Forderungen seines Oberherrn zu erfüllen“ (Dobb 1946/1972: 46). Diese Forderungen betreffen unmittelbar die Mehrarbeit oder das abzuliefernde Mehrprodukt oder Geld, das diesem entspricht. Letztlich war es egal, ob unmittelbare Arbeit, oder Naturalien oder Geld abgeliefert werden musste – das Ergebnis ist die feudale Grundrente.

„Das gesellschaftliche Basisverhältnis beruhte im wesentlichen auf der Aneignung des Mehrprodukts dieser Kleinproduktion durch die herrschende Feudalklasse – ein Ausbeutungsverhältnis, das durch verschiedene Formen „außerökonomischen Zwangs“ untermauert wurde.“ (Dobb 1978c: 223)

Dieser außerökonomische Zwang zeigte sich auch unmittelbar in ständigen Kämpfen zwischen den beteiligten Klassen. Es gab einen „Grundkonflikt zwischen den unmittelbaren Produzenten und ihren feudalen Oberherren […] die deren überschüssige Arbeitszeit oder das Mehrprodukt kraft des feudalen Rechts und ihrer feudalen Macht eintrieben.“ (Dobb 1978c: : 223-224). Der Kampf um die Renten wird auch als „Haupttriebkraft“ in der Feudalgesellschaft (Hilton 1978b: ebd.: 155) betrachtet. Ich werde in einem späteren Text mehr berichten zum Widerstand gegen die Ausbeutung im Feudalismus.


Literaturliste zu diesem Themenkomplex:

Brenner, Robert (1976/1995): Agrarian Class Structure and Economic Development in re-Industrial Europe. In: The Brenner Debate. Agrarian Class Structure and Economic Development in Pre-Industrial Europa. Ed. By T.H. Aston and C.H.E. Philpin. Cambridge, New York, Melbourne: Cambridge University Press. S. 10-63.

Brenner, Robert (1982/1995): The Agrarian Roots of European Capitalism. In: The Brenner Debate. Agrarian Class Structure and Economic Development in Pre-Industrial Europa. Ed. By T.H. Aston and C.H.E. Philpin. Cambridge, New York, Melbourne: Cambridge University Press. S. 213-327.

Dobb, Maurice (1946/1972): Entwicklung des Kapitalismus. Vom Spätfeudalismus bis zur Gegenwart. Köln: Berlin: Kiepenheuer & Witsch.

Dobb, Maurice (1978c): Vom Feudalismus zum Kapitalismus. In: Sweezy, Paul; Dobb, Maurice u.a. (1978): Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Bodenheim: Athenaeum Verlag. S. 222-228.

Drexler, Hans-Peter (2001): Metamorphosen der Macht. Die Entstehung von Herrschaft, Klassen und Staat untersucht am Beispiel der germanisch-fränkischen Gesellschaftsgeschichte. Marburg: Tectum Verlag.

Gilomen, Hans-Jörg (2010): Kredit und Innovationen im Spätmittelalter. In: Aufbruch im Mittelalter – Innovationen in Gesellschaften der Vormoderne (Festschrift für Rainer C. Schwinges), hg. von Christian Hesse und Klaus Oschema. Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag. S. 97-112. Online unter: http://www.researchgate.net/publication/278749485 (abgerufen 2018-06-24).

Gilomen, Hans-Jörg (2014): Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters. München: Verlag C.H.Beck.

Herrmann, Joachim (1986): Wege zur Geschichte. Ausgewählte Beiträge. Akademie-Verlag Berlin 1986.

Hilton, Rodney (1978a): Einführung. In: Sweezy, Paul; Dobb, Maurice u.a. (1978): Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Bodenheim: Athenaeum Verlag. S. 7-38.

Hilton, Rodney (1978b):Ein Kommentar. In: Sweezy, Paul; Dobb, Maurice u.a. (1978): Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Bodenheim: Athenaeum Verlag. S. 147-159.

Hilton, R.H. (1985a/1995): Introduction. In: The Brenner Debate. Agrarian Class Structure and Economic Development in Pre-Industrial Europa. Ed. By T.H. Aston and C.H.E. Philpin. Cambridge, New York, Melbourne: Cambridge University Press. S. 1-9

Hintze, Otto (1929/1970): Wesen und Verbreitung des Feudalismus. In: Feudalismus-Kapitalismus. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht. S. 12-47.

Hobsbawm, Eric (1978): Vom Feudalismus zum Kapitalismus. In: Sweezy, Paul; Dobb, Maurice u.a. (1978): Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Bodenheim: Athenaeum Verlag. S. 214-221.

Hübner, Jens (2016): Soziale Ungleichheit in einem ländlichen Ressourcenregime der Frühen Neuzeit. In: Niels Grüne, Jonas Hübner, Gerhard Siegl (Hr.):  Ländliche Gemeingüter / Rural Commons. Kollektive Ressourcennutzung in der europäischen Agrarwirtschaft. Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raums 2015. Innsbruck: Studien Verlag. S. 150-162.

Marx, Karl; Engels, Friedrich (1846/MEW 3): Die deutsche Ideologie. In: Karl Marx, Friedrich Engels. Werke. Band 3. Berlin: Dietz 1990. S. 9-530.

Marx, Karl (MEW 42): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Band 42. Berlin: Dietz Verlag 1983. S. 46-768.

Mothes, Gerlinde (1983): England im Umbruch. Volksbewegungen an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger.

Schibel, Karl-Ludwig (1985): Das alte Recht auf die neue Gesellschaft. Zur Sozialgeschichte der Kommune seit dem Mittelalter. Frankfurt am Main: Sendler.

Scholten, Friederike (2016): „Totgesagte leben länger?“ Geschichte und Aktualität ländlicher Gemeingüter in vergleichender Perspektive – ein Tagungsbericht. In: Newsletter Agrargeschichte. Nr. 1, Juni 2016. S. 7-10.

Takahashi, Kohachiro (1978): Ein Diskussionsbeitrag. In: Sweezy, Paul; Dobb, Maurice u.a. (1978): Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Bodenheim: Athenaeum Verlag. S. 89-131.