Ich habe mich bisher immer gedrückt um eine klare Einschätzung jener polit-ökonomischen Systeme über 70 Jahre hinweg, die sich am Ende meistens als „real existierender Sozialismus“ bezeichneten (bei mir hier benannt als „Realsozialismus“).

In einer politisch-theoretischen Debatte, die mit der Weiterführung des von mir schon kritisierten Buchs „Kapitalismus aufheben“ von Simon Sutterlütti und Stefan Meretz (2018) verbunden ist, fühle ich mich nun herausgefordert, meine Position schon vor einer eventuellen Kritik dieser Weiterführung vorzustellen, um eine Debatte dazu zu ermöglichen.

Um sich abzusichern, muss man vielleicht heutzutage überhaupt erst mal eine Distanzierungsklausel formulieren: Nein, ich will die DDR, so wie sie war, nicht zurück! ABER: Sie war auch nicht dasselbe wie der Kapitalismus. Ich hätte es nie gedacht, aber auch das wird heutzutage behauptet. Und dagegen richtet sich der folgende Text:


Zum Kapitalismus

Version 1.0, 28.05.2021

Der Ausgangspunkt der von mir kritisierten Kapitalismuskritik ist die sog. „Wertkritik“ nach Robert Kurz, später von den Zeitschriften „Krisis“ und später „Exit“ vertreten. Diese wurde genau in den „Wende-“ -Jahren breit rezipiert und galt als Erneuerung des Marxismus, als Rettung des  „wahren“ Marxismus aus einer Dogmatik, wie sie in den realsozialistischen Ländern entwickelt worden sei. Man konnte nun weiter MarxistIn sein, ohne die Dogmatik mittragen zu müssen, wie befreiend!

Worin besteht der Inhalt dieser wertkritischen Kapitalismuskritik? Vor allem darin, dass das Kapitalverhältnis als Klassenverhältnis weggelassen werden sollte, weil dies zu einem sog. „Klassenkampf-Fetisch“ führen würde, wie sie schon im Titel eines Textes schreiben (Kurz, Lohoff 1989). Klassen seien nur „letztlich eine sekundäre, abgeleitete Kategorie“ (ebd.). Am Anfang des Marxschen Werkes „Das Kapital“ steht die Ware, am Ende – fast 900 Seiten später – tauchen die „Klassen“ auf. Kurz und Lohoff verstehen das so: „Schon diese Stellung verrät: Die Klassen sind also in der Marxschen Theorie letztlich eine sekundäre, abgeleitete Kategorie.“ (ebd.) Ich habe mich mit dieser Position bereits kritisch auseinander gesetzt (Schlemm 2017, der entsprechende Teil ist auch online). Denn diese Lesart widerspricht ausdrücklich dem, was Marx in seinen methodischen Notizen (den berühmten „Grundrissen zur Kritik der politischen Ökonomie“ MEW 42) dargelegt hat. Darin zitiere ich einen noch älteren Text von mir, der das Problem schon fasst:

 „Um nicht einfach den „objektiven Schein“ gedanklich zu verdoppeln, geht es darum, die „verkehrte Widerspiegelung in der Erscheinung auf der Oberfläche der kapitalistischen Gesellschaft“ (Einleitung zur MEGA II, 5: 18) zu überwinden. Besonders das, was am Anfang als gesetzt genommen […] wird, wird danach negiert/kritisiert/aufgehoben und als konkret-historisch und widersprüchlich nachgewiesen. Manches, was „bei Marx so steht“, ist nicht Marxens Position, sondern eine Aussage, die er später in ihrer Absolutheit/Einseitigkeit selbst widerlegt! Der Ausgangspunkt mit der „Ware“ wird im Verlauf der Argumentation so aufgeschlüsselt, dass sich dabei zeigt, dass die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Menschen in der kapitalistischen Warengesellschaft sich in verkehrter Form als Verhältnis von Sachen verwirklichen und verwirklichen müssen.“ (Schlemm 2009,siehe dazu auch Schlemm 2009/2021

Das Prinzip der Darstellung in Marxens „Kapital“ ist nicht die Ableitung aus einem anfänglichen Prinzip, sondern ein „Rückgang in den Grund“, d.h. ein Vordringen aus abstrakten Momenten heraus in das Wesen des Ganzen hinein und insgesamt ist, wie bei Hegel, das Ganze das Wahre und eben nicht nur der Anfang, nach dem abgebrochen werden könnte.

Wert-Fetisch!

Wenn man die (noch abstrakten) Ausgangskategorien von Marx wie Ware, Wert und Geld als „Fundamentalkategorien“ versteht, und nicht als Ausgangskategorien, die längst noch nicht die ganze Wahrheit und auch nicht den wirklichen „Grund“ des Kapitalismus als gesellschaftliches Verhältnis ausmachen, so entsteht genau jenes fetischaftes Denken, das Marx kritisierte: Die Sachen werden – statt der Verhältnisse -als das Wesentliche angesehen. Der Grund des Ganzen, das Klassenverhältnis, erscheint zwar wirklich als Verhältnis von Sachen (Waren und Wert) und dieses Scheinen ist kein Irrtum, sondern notwendig. Aber es ist eine notwendige Folge aus dem Grund, dem Klassenverhältnis, das es in den bei Marx folgenden 800 Seiten zu entschlüsseln gilt. Auch hier wieder ein Selbstzitat, weil ichs ja nun schon oft genug aufgeschrieben habe:

„Natürlich finden sich bei Marx an vielen Stellen Aussagen, wonach „das Kapital“ irgendetwas „macht“, sich zum Beispiel vergrößert. Marxens ganze Intention geht jedoch dahin, den Schein, der bei der bloßen Betrachtung einer Wertsumme (also der Abstraktion von seinen Produktionsbedingungen) objektiv entsteht, zu entschlüsseln als Folge sozialer Verhältnisse.“ (Schlemm 2017: 34, Onlineteil)

Solange die Wirtschaft nur auf der Ebene des Kaufs und Verkaufs und des Tausches betrachtet wird (Zirkulationsebene), erscheint nur die Identität der Waren als Waren: „Ein Arbeiter, der ein Laib Brot kauft, und ein Millionär, der es kauft, erscheinen in diesem Akt nur als einfache Käufer, wie der Krämer ihnen gegenüber nur als Verkäufer erscheint.“ (MEW 42: 176) Sie erscheinen so, objektiv und notwendigerweise. Aber dieser oberflächliche Schein ist nach Marx nicht die ganze Wahrheit, sondern verkehrt diese sogar. In wertkritischen Texten wird der Fetisch häufig verdoppelt. So lese ich in einem aktuellen Textentwurf: „Bei Fetisch dachte Marx keineswegs an einen Sexualfetisch, sondern bspw. an jene hölzerne Skulpturen, denen Menschen Macht über Regen und Ernte zu sprechen und damit Macht über sie selbst, obwohl sie sie geschaffen haben. Auch mit dem Kapitalismus haben die Menschen eine Sache geschaffen, die Macht über sie selbst hat.“ An keiner Stelle wird dann aufgelöst, dass diese Herrschaft der Sachen nur ein Schein ist. „Nur ein Schein“[1] bedeutet hier, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse zwar einerseits sogar notwendigerweise diesen Schein erzeugen, dass sie aber andererseits wirkliche gesellschaftliche Verhältnisse sind und bleiben und nicht wirklich in oder hinter den Sachen verschwinden.

„Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt.“ (MEW 23: 86)

Der zirkulationstheoretische Schein kann nur durchbrochen werden, wenn zur Analyse der Produktion fortgeschritten wird, auf der die qualitative Besonderheit der Ware Arbeitskraft begriffen werden kann und damit zu Mehrwert, Profit, Durchschnittsprofitrate und der Spezifik der kapitalistischen Konkurrenz. Simon Sutterlütti und Stefan Meretz stellen die Realität im Kapitalismus so dar, dass jeder im Tausch versucht „möglichst wenig zu geben und viel zu bekommen“ (Sutterlütti, Meretz 2018: 34), woraus sich die „Exklusionslogik“ ergäbe. Damit verpassen sie die qualitative Besonderheit des Kapitalismus, bei dem es in der Konkurrenz der Kapitale um mehr Profitanteile geht, also Teile des Mehrwerts. Und beim Mehrwert wird den Ausgebeuteten der Wert ihrer Mehrarbeit abgezogen. Bei der Konkurrenz unter den Kapitalen geht es im Wesentlichen nicht mehr um darum, „möglichst wenig zu geben und viel zu bekommen“, sondern seine Lohnarbeiter so sehr auszubeuten, dass die eigene Profitrate hoch genug ist. Auch wenn es auf der Oberfläche so scheint, ist die kapitalistische Wirtschaft kein Nullsummenspiel, wo die einen gewinnen, was die anderen verlieren. Sondern jeweils die Kapitale (bzw. ihre Vertreter) ziehen den Mehrwert an sich und konkurrieren um die Höhe dieses Mehrwerts. Wenn die Ebene der Ausbeutung in der Produktionssphäre nicht beachtet wird, kommt natürlich eine bloße gedankliche Verdopplung der Zirkulationslogik heraus und auf dieser Ebene ist kein qualitativer Unterschied mehr zwischen Handels“kapitalen“ im Feudalismus, zwischen der kapitalistischen Wirtschaft – und bei Simon Sutterlütti sogar der realsozialistischen Wirtschaft (siehe unten) zu sehen, sondern nur noch ein quantitatives „mehr“ oder eine „Dominanz“ des qualitativ eigentlich gleich Bleibenden.

Marxens Darstellungsweise im „Kapital“ will genau den dadurch begreifbaren gesellschaftlichen Verhältnissen auf den Grund gehen und sie von ihrem scheinhaften dingförmigen Charakter befreien. Er will die Klassenverhältnisse im Grund, d.h. dem Wesen der kapitalistischen Verhältnisse aufzeigen. Diese sind es, die dann notwendigerweise als Verhältnisse zwischen Dingen, d.h. Waren, erscheinen. Die kapitalistische Welt nur bzw. in ihrem Wesen als Warengesellschaft oder Tauschgesellschaft oder „Wertvergesellschaftung“ zu verstehen vollzieht genau den Schein nach, verabsolutiert ihn und verschleiert die von Marx enthüllten Klassenverhältnisse.

Markt, Konkurrenz und Durchschnittsprofitrate

Welche Folgen hat das Abschneiden der Kapitalismusanalyse der WertkritikerInnen nach ca. 100 Seiten des „Kapital“? Es gibt keinen Begriff von Ausbeutung, Mehrwert und Profit. An einer Stelle, die ich jetzt nicht finde, kommentiert Stefan Meretz zu einem Text von mir so ungefähr: „Mehrwert ist doch nur mehr Wert“, bilde also nur einen quantitativen Unterschied. Ich sehe das nicht so. An dieser Stelle kommt die Arbeitskraft als eine qualitativ besondere Ware ins Spiel. Diese lässt sich auch nicht logisch aus dem Wert ableiten, sondern ist eine historische Voraussetzung, der Marx im „Kapital“ das Kapitel zur ursprünglichen Akkumulation widmet. Simon Sutterlütti verwendet ein Buch von Ellen Meiksin Wood („Origins of capitalsm“), um mir zu widersprechen. Demnach sei die Entstehung des Proletariats ein Effekt der kapitalisierten Agrarproduktion gewesen und nicht der Beginn des Kapitalismus. Nicht, dass die Arbeitskraft eine Ware wurde, war der Beginn des Kapitalismus, sondern dass das Land zur Ware wurde und den Menschen damit die Möglichkeit zur Subsistenzproduktion nahm. Bei Ellen Meiksin Wood wird jedoch nicht vergessen, dass es letztlich Klassenkämpfe waren, die zu einer „Umstrukturierung der Eigentumsverhältnisse“ führten, was schließlich dazu führte, dass die Beteiligung an Märkten nicht mehr nur freiwillig, sondern zum Zwang (Imperativ) machte. Allerdings vermerkt auch Wood, dass „[d]er entscheidende Faktor“! dabei „die Herausbildung bestimmter Eigentumsverhältnisse“ war, wodurch diese Marktimperative erst entstanden (Wood 2015: 92). Außerdem spricht sie von Ausbeutung und Profit, unterstellt also die Klassentrennung in ausbeutende und ausgebeutete Klassen. Dass diese sich auch darin zeigt, dass Menschen sich nicht mehr durch Subsistenzproduktion auf eigenem Land der Erpressbarkeit zur Lohnarbeit entziehen konnten, ist eine wesentliche Ergänzung der Analyse dieser Prozesse, setzt aber die wesentliche Bedeutung der Klassenverhältnisse m.E. nicht außer Kraft.

Dabei ist es letztlich auch unerheblich, was zeitlich als der Anfang betrachtet wird. Denn die Frage nach der historischen Entstehung von Etwas hängt von der Vorentscheidung ab, was das „Etwas“ ist. Marx (MEW 42: 39) gab zu bedenken, dass für eine angemessene Methode die „Anatomie des Menschen“ (also die des letztlich Entstandenen) „ein Schlüssel zur Anatomie des Affen“ (also der Vorformen) ist. Schaut man auf Marktbeziehungen oder schaut man auf Klassenverhältnisse? Sogar wenn eins historisch vor dem anderen entstanden ist, heißt das noch nichts für die Bestimmung des Wesens des Entstandenen.

Worin unterscheidet sich nun das Wesen von Märkten und Konkurrenz (und damit auch Geld) vor dem Kapitalismus und darin? Wood meint, dass der Kapitalismus davon bestimmt ist, dass „die Marktimperative Besitz von der Nahrungsmittelproduktion […] ergriffen hatten“ (Wood 2015: 97). Dies mag ein historischer Anfang sein, aber worin genau besteht die Dominanz des Marktimperativs im entwickelten Kapitalismus? Waren, ‚Werte, Geld und Märkte mit Konkurrenzbeziehungen gab es ja schließlich seit vielen Jahrtausenden in eigentlich allen Weltgegenden. Welche davon sind „unschädlich“ und müssten auch nach der Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse nicht unbedingt verschwinden und welche sind problematisch und mit dem Kern des Kapitalismus verbunden?

Marx kritisiert dabei zuerst einmal jene früheren bürgerlichen Ökonomen, bei denen sich alles aus der Konkurrenz ergibt.

„Die „Konkurrenz muss es auf sich nehmen, alle Begriffslosigkeiten er Ökonomen zu erklären, während die Ökonomen umgekehrt die Konkurrenz zu erklären hätten“ (MEW 25: 873)

Dass seiner Meinung nach die Konkurrenz nicht der Ausgangspunkt ist, verdeutlicht er mehrmals:

Konkurrenz ist der Exekutor der ökonomischen Gesetze, er etabliert sie nicht. Er ist die Folge der ökonomischen Gesetze, die „Erscheinungsform, worin sich ihre Notwendigkeit realisiert“ (MEW 42: 457)

„Die Konkurrenz erklärt daher nicht diese Gesetze; sondern sie läßt sie sehn, produziert sie aber nicht.“ (ebd.)

Konkurrenz gehört also nicht zu den Faktoren, welche den Kapitalismus erklären, sondern die spezifisch kapitalistische Konkurrenz kann erst wirklich begriffen werden, „sobald die innere Natur des Kapitals begriffen ist“ (MEW 23: 335).

Wenn man diesen Schritt bei Marx nicht mitgeht, bleibt man politökonomisch etwa bei Ricardo stehen. Marx kritisiert an dessen Position, dass der Wert, der ausgetauscht wird, als gegeben hingenommen werde, aber ihre Quelle, nämlich Arbeit und Mehrwert, nicht betrachtet werden (MEW 42: 458). Von der Konkurrenz auszugehen, wäre demnach sogar gefährlich; Marx schreibt dazu, dass „in der Konkurrenz sich alles falsch darstellt, nämlich verkehrt…“ (MEW 25: 240, genauer dargestellt S. 703, 860ff., insb.871f., MEW 26.2: 215). Hier unterscheidet Marx wieder davon, wie sich die ökonomischen Verhältnisse auf der Oberfläche zeigen und wie sie in „ihrer innern, wesentlichen, aber verhüllten Kerngestalt und dem ihr entsprechenden Begriff“ (ebd.: 219) zu verstehen sind. Die erste, offensichtliche, d.h. oberflächliche Ansicht ist wieder die fetischisierende Sichtweise. Sie zeigt das Wesentliche nur in verkehrter Form.

Wir haben hier eine ähnliche Situation wie bei der Grundrente. Die Grundrente im Kapitalismus ist eine Unterform des Mehrwerts, wie es sie im Feudalismus gar nicht gibt (MEW 25: 59). Dazu schreibt Marx auch:

Z.B. nichts scheint naturgemäßer, als mit der Grundrente zu beginnen, dem Grundeigentum, da es an die Erde, die Quelle aller Produktion und allen Daseins, gebunden ist und an die erste Produktionsform aller einigermaßen befestigten Gesellschaften — die Agrikultur. Aber nichts wäre falscher. In allen Gesellschaftsformen ist es eine bestimmte Produktion, die allen übrigen und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen Rang und Einfluß anweist. Es ist eine allgemeine Beleuchtung, worin alle übrigen Farben getaucht sind und [die] sie in ihrer Besonderheit modifiziert.“ (MEW 42: 40)

Man könnte auch meinen, man müsse mit der Konkurrenz beginnen. Aber wenn man mit der allgemeinen, schon in vorkapitalistischen Zeiten vorkommenden Konkurrenz begänne, würde man an Wesentlichem im Kapitalismus vorbeigehen. Simon Sutterlütti und Stefan Meretz folgen in ihrem Buch „Kapitalismus aufheben“ der Theorie von Ellen Meiksin Wood, wonach sich die Märkte und die Konkurrenz im Kapitalismus von denjenigen vor und außerhalb des Kapitalismus dadurch unterscheiden, dass der Tausch „die Existenzbedingungen des Großteils der Bevölkerung zu dominieren begann“ (Sutterlütti, Meretz 2018: 209). Dabei lassen sie unerwähnt, dass sich natürlich überall auf der Welt schon längst große Handelssysteme entwickelten, bei denen ebenfalls schon getauschte Waren „die Existenzbedingungen des Großteils der Bevölkerung“ dominierten. Im matriarchalen Juchitán etwa besteht zwar weiterhin einer Subsistenzorientierung und ein „Netz der Gegenseitigkeit“ Bennholdt-Thomsen (1994a: 28), aber das erste Kapitel nach der Einleitung in diesem Buch ist benannt: „Der Markt: das Herz Juchitáns“ (Bennholdt-Thomsen 1994b: 38). Der Markt, auf dem 14% aller Frauen ihr Ein- und Auskommen finden (ebd.), ist „der Platz der Frauenöffentlichkeit“ und kulturell so eingebettet, dass sich aus ihm nicht die aus dem Kapitalismus bekannten Eigenlogiken entwickeln. Es kommt bei Märkten, dem Vorkommen von Konkurrenz und Geld durchaus auf die Einbettung in die gesellschaftlichen Verhältnisse an, “die allen übrigen und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen Rang und Einfluß anweist“ (Marx s.o.) und sie können nur aufgrund ihres Vorhandenseins alleine kein Erklärungsgrund sein.

Wenn es nicht die „Dominanz“ der Märkte, auch nicht der Lebensmittelmärkte (ohne die Enteignung der Menschen von ihren Produktionsmitteln zu betrachten) ist, was ist es dann, was die Märkte, die Konkurrenz und das Geld im Kapitalismus zu einer besonderen Form von Märkten, Konkurrenz und Geld macht?

Das lässt sich mit Marx nur nach dem Verständnis des Kapitalismus als Klassenverhältnis begreifen und darstellen. Wir hatten schon erwähnt, dass das Klassenverhältnis von Marx erst am Ende der drei Bände des „Kapitals“ bearbeitet werden sollte. Es sollte die Theorie des Kapitalismus abrunden mit dem schließlich erkannten Grund von allem, was zu Beginn nur als abstraktes Moment eingeführt wurde. Das Klassenverhältnis im Kapitalismus besteht darin, dass sich die gesellschaftlichen Subjekte dadurch unterscheiden, dass die einen kein Eigentum an Produktionsmitteln haben und die anderen dieses Eigentum besitzen, wodurch sie über die Zwecke der Produktion bestimmen können (heute aus ökologischen Gründen besonders problematisch) und sich das Mehrprodukt in Form von Mehrwert aneignen können (Ausbeutung).

„Die erste Bedingung der Kapitalentwicklung ist die Trennung des Grundeigentums von der Arbeit, das selbständige Gegenübertreten der Erde – dieser Urbedingung der Arbeit – als selbständige Macht, in der Hand einer besondren Klasse befindliche Macht, gegenüber dem freien Arbeiter.“ MEW 26.1: 20, vgl. ebenso S. 44 – hier gegen seine bürgerlichen Vorgänger)  

Nur auf Basis des so begründeten Mehrwerts kann man marxistisch von Profit sprechen. Und Mehrwert ist nicht nur einfach quantitativ „mehr Wert“, sondern mit ihm geht ein „Riß“ (MEW 26.1: 59) durch die Geschichte, ein qualitativer Umbruch, ein „Umschlag des Gesetzes des Werts in sein Gegenteil“ (ebd.).

Profit unterscheidet sich von Mehrwert dadurch, dass in der Profitrate nicht nur das Verhältnis des Mehrwerts zur lebendigen Arbeit (wie bei der Mehrwertrate), sondern das Verhältnis des Mehrwerts zum gesamten vorgeschossenen Kapital (also auch des konstanten Kapitals) betrachtet wird. Dabei kommt es im entwickelten Kapitalismus dazu, dass sich die Proftraten gesamtgesellschaftlich (erst national, schließlich mehr und mehr auch global) angleichen. Zuerst unterscheiden sie sich auch zwischen den Unternehmen, weil alle Unternehmen bzw. Branchen jeweils unterschiedliche Maße von konstantem und variablem Kapital einsetzen. Hier bekommt nun die Konkurrenz ihre spezifische Funktion im Kapitalismus. Sie bedeutet weniger den Konkurrenzkamp des einen Unternehmers gegen irgend einen anderen oder viele andere. Sondern jeder muss sich mit der Durchschnittsprofitrate messen.[2]

„Was die Konkurrenz bewirkt, ist die Equalisierung der Profite, also die Reduktion der Werte der Waren zu Durchschnittspreisen.“ (MEW 26.2: 64)

„Die Konkurrenz der Kapitalien sucht so jedes Kapital als Stück des Gesamtkapitals zu behandeln und danach seine Partizipation am Mehrwert und daher auch Profit zu regulieren.“ (MEW 26.2: 23).

Erst auf diese Weise wird die Dynamik in Gang gesetzt, die u.a. bei Sutterlütti und Meretz nur beschrieben, aber nicht in ihrem Kern erklärt worden ist: Verwertungszwang, Wachstumszwang usw. (Sutterlütti, Meretz 2018: 32). Auch den ständig wiederholten Behauptungen über den Wachstumszwang im Kapitalismus, der die Unmöglichkeit des Übergangs zu einem ökologisch vertretbaren Wirtschaften begründe, fehlt in der  Argumentation noch dieser Abgleich der Durchschnittsprofitrate.

Die Bedeutung der Durchschnittsprofitrate beschreibt Marx so:

„Sobald die kapitalistische Produktion einen gewissen  Entwicklungsgrad erreicht hat, geht die Ausgleichung zwischen den verschiednen Profitraten der einzelnen Sphären zu einer allgemeinen Profitrate keineswegs bloß noch vor sich durch das Spiel der Attraktion und Repulsion, worin die Marktpreise Kapital anziehn oder abstoßen.“ (MEW 25: 220) 

Da nun unzweifelhaft der Begriff des Profits den des Mehrwerts voraussetzt (vgl. auch MEW 25: 703), zeigt sich, dass das ausbeutende Klassenverhältnis genau das Verhältnis ist, das allen Momenten des gesellschaftlichen Verhältnisses, auch der Konkurrenz seine Besonderheit im Kapitalismus zuweist. Würde man in oberflächlicher Weise von vereinfachten Vorstellungen von Konkurrenz ohne die Voraussetzung des Klassenverhältnisses ausgehen, wird alles falsch und „so, auf den Kopf gestellt“ (ebd.). Das fünfzigste Kapitel des „Kapitals“ ist sogar betitelt mit „Der Schein der Konkurrenz“ (ebd.: 860). Und abschließend zu diesem methodisch falschen Ausgehen von der Konkurrenz: „Kurz, die Konkurrenz muß es auf sich nehme, alle Begriffslosigkeiten der Ökonomen zu erklären, während die Ökonomen umgekehrt die Konkurrenz zu erklären hätten.“(ebd.: 873).

Insbesondere bei Adam Smith findet Marx die von ihm auch verwendeten Kategorien schon vor, sieht sie dort aber bloß in einem „Zusammenhang, wie er scheinbar in den Erscheinungen der Konkurrenz gegeben ist und sich also dem unwissenschaftlichen Beobachter darstellt, ganz ebensogut wie dem in dem Prozeß der bürgerlichen Produktion praktisch Befangenen und Interessierten.“ (MEW 16.2: 162). Das feit nachmarxistische Autoren nicht davor, den oberflächlichen Betrachtungen ebenfalls zu verfallen.

Dieser Text wird fortgesetzt mit dem Teil II: Zum Realsozialismus.


[1] Diese Begriffsverwendung bezieht sich auf Hegel, der „Erscheinung“ und „Schein“ u.a. dadurch unterscheidet, dass in einer Erscheinung (die eine Existenzform des Wesens darstellt), noch Widersprüchlichkeit enthalten ist, während ein Schein bloß die Vorstellung von etwas Unmittelbarem und Wesenlosen ist (HW 8: 262, vgl. HW 6: 19f.).  

[2] Das heißt, der Übergang von vorher vereinzelt vorkommenden kapitalistischen Momenten wird im „Dominanzwechsel“ (Holzkamp 1983: 76f., 151,174, wobei schon Holzkamp auf die Grenzen einer Übertragbarkeit seiner funktional-historischen Analyse der Evolution des Psychischen auf andere Gegenstände aufmerksam machte (ebd.: 57ff.)) nicht einfach durch die „Dominanz“ des Moments erreicht, wie etwa eine „Dominanz“ des Marktes (wie bei Wood) bzw. des Tausches als „bestimmende Vermittlungsform“ (Sutterlütti, Meretz 2018: 35), sondern das Moment wandelt sich qualitativ selbst auch.