Seit mehr als 10 Jahren hat mich die Hoffnung verlassen, dass es mit der Menschheit bald weiter bergauf gehen könnte. Bergauf mit dem Wohlstand für immer mehr Menschen, bergauf auch mit der Emanzipation von Unterdrückung und der Befreiung von Ausbeutung. Ich hatte grad eine Vortragsserie zu „utopischen“ Gesellschaftsentwürfen hinter mir und merkte, dass ich ihnen selbst nicht mehr glauben konnte, weil ich parallel dazu auch zur Kenntnis nehmen musste, dass die Berichte des Weltklimarats (IPCC – Intergovernmental Panel on Climate Change) den Temperatur- und damit auch den Zeitbereich, ab dem es für uns kritisch werden würde – wegen der vielen dramatischen Umweltveränderungen u.a. durch die globale Temperaturerhöhung – immer näher an die Gegenwart heranrückte. Und gleichzeitig war und ist nichts in Aussicht, das die Treibhausgasemissionen im erforderlichen Maße zu reduzieren verspricht. Aufrufe zu mehr „Hoffnung“ erschienen mir seitdem fehlgeleitet. Die Hoffnung darauf, dass es schon nicht so schlimm werden würde, ist eine der Ursachen dafür, dass nicht rechtzeitig umgesteuert wurde. Deshalb entstand nach meiner „utopischen“ Broschüre „Selbstentfaltungsgesellschaft als konkrete Utopie“ (2006) der Text „Schönwetter-Utopien im Crashtest“ (2013).

Wenn wir noch über Utopien reden wollen, so müssen wir sie als „Utopie in der Dystopie“ behandeln, so diskutierten wir in einer Gruppe des Commons-Instituts. Neuere Überlegungen in diesem Rahmen beschäftigen sich tatsächlich mit der Frage danach, inwieweit vielversprechende Praxen des Commoning resilient (also widerstandsfähig) gegenüber den zu erwartenden natürlichen und sozio-ökonomischen Desastern sind bzw. sein können (Euler, Helfrich, Schlemm 2021). Einen Lichtblick verschaffte mir das Buch „A Paradise Built in Hell“ („Ein in der Hölle gebautes Paradies“) von Rebecca Solnit.

Bis dahin hatte ich bei der Vorstellung über Katastrophen aller Art auch vorwiegend die Bilder im Kopf, die das Schlechteste in den Menschen offenbaren. Sollte tatsächlich im Fall des Zusammenbruchs der zivilisierten Ordnung die Menschen um die letzten Ressourcen kämpfen (müssen)? Weltuntergangsfilme zeigen panische Horden von Menschen, nur einzelne „Helden“ retten dann noch irgendetwas. Solche Vorstellungen können zu sich selbst bestätigenden Weltbildern werden. Wenn es los geht, sind wir geistig alle darauf vorbereitet, dann auch so vorzugehen, oder?

Nein, wenn wir Rebecca Solnit kennen (was für uns auf Grund des Fehlens einer deutschen Übersetzung schwer ist), dann nicht. Ich werde im Folgenden einiges aus diesem Buch referieren, aber zuerst kann ich auch andocken an eigenen Erfahrungen. Verwandte von mir leben im Gebiet, in der wegen der Elbeflut im Jahr 2002 vieles zerstört wurde und viele Menschen von Haus und Hof flüchteten. Im Fernsehen sah ich dann tagelang, wie die Menschen Sandsäcke füllten und sich zureichten… Als ich meine Verwandten später wieder besuchte, fiel mir auf, dass die Gesichter beim Erzählen über diese Zeit erstaunlich entspannt und oft sogar freudig erregt waren. Trotz der materiellen Verluste überwogen in der Erinnerung die Aufregung und das Spannende, das vor allem mit der außergewöhnlichen Gemeinschaftlichkeit in dieser Zeit verbunden war. Genau davon wird aus vielen gemeinsam bewältigen Notfällen und Katastrophen berichtet. Rebecca Solnit nennt es „Freude in der Trauer, Mut in der Angst“ (Solnit 2009).

Eine andere nachvollziehbare Erfahrung ist jene, die Feuerwehrleute so zusammenschweißt: Ihre Arbeit fordert sie persönlich und ihren Gemeinschaftsgeist immer wieder heraus. Sie könne ihre Fähigkeiten beweisen und auch die Zweckhaftigkeit ihres Tuns ist offenbar. Im Alltagsleben anderer Menschen kommt dies kaum vor. Erst Erschütterungen ihres Alltags öffnen manchmal die Tore, für kurze oder auch längere Zeit, sich und andere in schlimmen Situationen ganz besonders zu erleben. Rebecca Solnit beginnt mit den Erfahrungen des großen Erdbebens in San Francisco im Jahr 1906 mit tausenden Opfern. Drei Tage lang wüteten Feuer und Explosionen, ca. 200 000 Menschen wurden obdachlos. Beteiligte berichten, dass sie kein Weinen und Schreien hörten, dass sie weder Hysterie noch Unordnung erlebten. Stattdessen fanden sich die Menschen im Golden State Park zusammen, eine Gemeinschaftsküche entstand aus einer kleinen Suppenküche heraus, Schlachthausbesitzer gaben ihr Fleisch kostenlos her. Das Geld wurde bedeutungslos und „niemals in der Geschichte San Franciscos waren die Menschen so freundlich und zuvorkommend wie in dieser Nacht des Terrors“. Dorothy Day, die das Erdbeben als Kind erlebte, berichtete später: „Was mir von dem Erdbeben am meisten in Erinnerung geblieben ist, war die menschliche Wärme und Freundlichkeit aller Menschen danach.“ (Day, zit. in Solnit 2009) Eine andere Zeitgenossin schrieb:

„Niemals mehr, selbst wenn sich die eigenen vier Wände in einer neuen Stadt wieder um uns schließen, werden wir die alte Einsamkeit spüren, die noch herrschte, als wir uns von unseren Nachbarn abschotteten. Niemals mehr werden wir uns in Not und Unglück allein unserem Schicksal überlassen fühlen. Und das sind die süßen Wonnen und Freuden dieses Erdbebens und der Brände.“ (Jacobson 1906 in einer Zeitschrift von San Francisco)

Es war dann auch typisch, dass der Brigadegeneral der nach drei Tagen einrückenden militärischen Truppen in den Menschen nur einen Mob sah, der unterdrückt werden müsste, bestenfalls eine zu hütende Herde. Die Stadt wurde von diesen Truppen derart vor den Menschen geschützt, dass Menschen daran gehindert wurden, Brände zu löschen. Das Requirieren von Versorgungsgütern wurde als Plünderung bewertet und mehrere Betroffene wurden getötet – dasselbe geschah auch in New Orleans nach dem verheerenden Hurrikan Katrina im Jahr 2005: „…die gestrandeten Bürger waren der Feind und die Stadt sollte ihnen genommen werden. New Orleans sollte nicht gerettet, sondern erobert werden“. Dass solche Schocks für die Gesellschaft auch von konservativen Kräften genutzt werden, um z.B. Privatisierungen des Bildungswesens durchzusetzen und ähnliches, erwähnt Solnit auch. Sie nennt das „Katastrophen-Kapitalismus“. Damit verwendet sie einen Begriff von Naomi Klein aus deren Buch „Die Schockstrategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus“ (2009, siehe hierzu auch Schlemm 2011). Der Schwerpunkt des Buches von Solnit liegt aber auf anderen Erfahrungen. So entwickelten sich in New Orleans gerade auf Grund der Versäumnisse der herrschenden Elite Bewegungen und Organisationen wie das „Common Ground Collective“, wodurch die Bewohner mit dem Nötigsten bis hin zur Gesundheitsversorgung versorgt werden und die das Motto entwickelten: „Solidarität, keine Wohltätigkeit!“. Dass dies eher weniger bekannt ist, als das Schlimme; es verschiebt unseren Erwartungshorizont und damit auch unsere Verhaltensvorbereitung. Wenn Du denkst, die Leute werden in Notfällen zu Bestien, wirst Du auch eine oder willst Dich nur vor ihnen schützen – wenn Du dagegen mit einem Aufflammen von Hilfsbereitschaft und Solidarität rechnen kannst, kannst Du viel eher in dieser Richtung Initiative oder wenigstens Beteiligung entwickeln. Und die vielen Beispiele in Solnits Buch, wie die Bombardierung Londons 1940, ein Erdbeben in Nicaragua 1972 und das Erdbeben in Mexico City 1985 verweisen darauf, dass „die vorherrschende menschliche Natur bei Katastrophen […] belastbar, einfallsreich, großzügig, empathisch und mutig“ ist. Nachdem im Hafen von Halifax 1917 ein Munitionstanker explodiert war, zogen es die Menschen vor, „sich gegenseitig zu versorgen , anstatt von Fremden versorgt oder fremdbestimmt zu werden“; es entstand „ein neues Gefühl der Einigkeit im Umgang mit gemeinsamen Problemen“ (Prince 1920). Wenn die Menschen dies ausleben können, dann können sie sogar ein „post-traumatisches Wachstum“ (Solnit 2009) erfahren.

Nach dem Erdbeben in Mexico City 1985, als die Bürokratie wie paralysiert war, entstand eine stadtweite Bewegung für Wohnrechte und u.a. daraus dann auch so etwas wie eine aktive Zivilgesellschaft. Rebecca Solnit schreibt dazu:

„Indem sie eine tiefe Verbundenheit miteinander gefunden haben, haben die Menschen auch ein Gefühl von Macht gefunden, die Macht, auf die Regierung zu verzichten, ihre Funktionen zu ersetzen und ihr auf vielfältige Weise zu widerstehen. Sie begannen mit erstaunlichen Ergebnissen, dies zu tun. Die Zeit des Erdbebens war vergleichbar mit der der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten, als das, was lange Zeit der Status quo war, als unerträglich empfunden wurde. Wenn das passiert, folgt der Wandel.“

Aus all diesen Berichten geht hervor, dass zwar jede Katastrophe ein Ende ist, ein Höhepunkt von Verderben und Tod, aber es ist auch die Chance für einen Neuanfang. In jeder Katastrophe treffen gegensätzliche Kräfte und Visionen von Gesellschaft aufeinander und das jeweils individuelle Verhalten ist tatsächlich wichtig und bedeutsam und oft auch entscheidend für das Kräfteverhältnis. Auf diese Weise bestätigt sich der Begriffsinhalt des Worts „Katastrophe“. Dieses Wort enthält den griechischen Wortteil „Kata“, das „nach unten“ bedeutet, und „streiphen“ mit der Bedeutung „umkippen/umblättern“. Das englische Wort für Notfall: „Emergency“ (Notfall) enthält emerge = emporsteigen. Ein Notfall, eine Emergency ist also „eine Trennung vom Gewohnten, ein plötzliches Eintauchen in eine neue Atmosphäre“.

Rebecca Solnit kann zeigen, dass diese Beobachtungen keine Ausnahmen herauspicken, sondern auch mit den Ergebnissen der „Katastrophen-Forschung“ („Disaster Studies“) übereinstimmen. Die Forscher stellten im zweiten Weltkrieg erstaunt fest, dass die Deutschen während der britischen Bombenangriffe nicht, wie erwartet worden war, demoralisiert wurden, und dass sie über Panik nicht forschen können, weil sie die so gut wie gar nicht fanden in katastrophalen Situationen. „Katastrophen stellen eine Form des gesellschaftlichen Schocks dar, der gewohnte, institutionell verankerte Verhaltensmuster unterbricht und die Menschen für soziale und persönliche Veränderungen anfällig macht.“ (Fritz, zit. in Solnit 2009) Und diese Veränderungen gehen eher nicht in die Richtung einer Entzivilisierung, wie erwartet wurde und auch heutzutage noch meist unterstellt wird, sondern „[d]ie Geschichte der Katastrophen zeigt, dass die meisten von uns sind soziale Tiere sind, hungrig nach Verbindung, ebenso wie nach Zweck und Bedeutung“. „Der Begriff der gegenseitigen Hilfe ist zum Standardwortschatz der Katastrophenvorsorge geworden.“ Im Gegensatz dazu wird die Effektivität von Katastrophenhilfe gemindert, wenn Bevormundung oder gar Befehl und Kontrolle dominieren.

In diesen Schocks werden häufig auch gesellschaftlich lähmende Strukturen aufgebrochen. Wie durch einen Blitz werden die alten Strukturen zerschmettert. Schon Thomas Paine wusste: „In dem Moment, in dem die formale Regierung abgeschafft wird, beginnt die Gesellschaft zu handeln.“ Das Verhalten von Menschen nach Katastrophen, wenn sie nicht darin gehindert werden, zeigt, wie sich Menschen ohne die Anwesenheit von Zwangsgewalt verhalten und welche Art menschlicher Gesellschaft möglich ist. Die Katastrophen bringen eine Mischung als Himmel und Hölle, d.h. sie öffnen auch eine Schleuse in Richtung Himmel: „… die Katastrophe wirft uns in die vorübergehende Utopie einer verwandelten menschlichen Natur und Gesellschaft, einer, die kühner, freier, weniger gebunden und geteilt ist als in gewöhnlichen Zeiten, nicht leer, aber auch nicht gefesselt.“  Aus der „Katastrophen-Gemeinschaft“ kann eine „Desaster-Utopie“ erwachsen: ein Paradies der „ungebrochenen Solidarität“. Die häufig beschriebene Freude in den Gesichtern „zählt als Maß für sonst vernachlässigte Sehnsüchte, Sehnsüchte nach öffentlichem Leben und Zivilgesellschaft, nach Inklusion, Sinn und Macht.“ Ist dies nicht genau die „Utopie in der Dystopie“, über die wir in der Diskussionsgruppe beim Commons-Institut nur leise raunten?

Solch eine Utopie kommt wie alles Bessere nicht von alleine. In den Katastrophen findet „oft ein Machtkampf statt – und es kann zu echten politischen und sozialen Veränderungen kommen, sei es durch diesen Kampf oder durch das neue Selbst- und Gesellschaftsverständnis, das dabei entsteht.“ Wer die Utopie möchte und nicht die Dystopie, muss in kritischen Situationen gegen die Rückkehr von „Dominanz und Kontrolle“, auch durch scheinbar wohlwollende Hilfskräfte, angehen. Wenn wir die Möglichkeit der Katastrophe verleugnen, sind auch wir unvorbereitet gegenüber den Gefahren aber auch gegenüber den Möglichkeiten, die sich eröffnen.

Die Erfahrungen aus diesen Ausnahmesituationen zeigen auch, was zu Utopien gehört, in denen Menschen freudige Gesichter haben: Sie müssen „flexibler und improvisatorischer, egalitärer und weniger hierarchisch, mit mehr Raum für sinnvolle Rollen und Beiträge aller Mitglieder – und mit einem Gefühl der Zugehörigkeit“ sein.


Literatur

Helfrich, Silke; Euler, Johannes; Schlemm, Annette (2021): Commoning als Resilienzstrategie. In Arbeit für die Zeitschrift Politische Ökologie.

Klein, Naomi (2009): Die Schockstrategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus. Frankfurt am Main. Fischer Taschenbuchverlag.

Prince, Samuel Henry (1920): Catastrophe and Social Change. Based upon a sociological study of the Halifax disaster. New York: Columbia University.

Schlemm, Annette (2006): Selbstentfaltungsgesellschaft als konkrete Utopie.Packpapier-Verlag Osnabrück.

Schlemm, Annette (2011): Schock-Strategie im Katastrophen-Kapitalismus: Online: https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2011/07/31/schock-strategie-im-katastrophen-kapitalismus/ (abgerufen 2021-07-09)

Schlemm, Annette (2013): Schönwetter-Utopien im Crashtest. Osnabrück: Packpapier-Verlag.

Solnit, Rebecca (2009): A Paradise Built in Hell. The Extraordinary Communities that Arise in Disaster. New York: Penguin Books.