Dieser Text gehört zur Dieser Text gehört zur Vorstellung des Buches „Omnia Sunt Communia“ von Massimo de Angelis.
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Industrie-Commons?
Massimo de Angelis gewinnt seine Erkenntnisse aus der Praxis vieler Gemeinschaften, die um ihre Existenz kämpfen und dabei ihr Commoning entwickeln. Der Commons/Commoning-Diskurs lebt auch ganz stark davon, traditionelle, vorindustrielle gemeinschaftliche Formen des Lebens und der Re-Produktion ernst zu nehmen und sie aufzugreifen. Um die Jahrtausendwende wurden auch nichtkapitalistische Praxen z.B. der Herstellung und Nutzung von immateriellen Produkten wie Freier Software in die Debatte einbezogen. Nun konnten Low-Tech- und High-Tech-Bereiche unter der gemeinsamen Perspektive des Commoning zusammen geführt werden. Es wurde dann überlegt, wie die Erfahrungen aus der immateriellen Software-Sphäre in die normale materielle „Hardware“ -Produktionswelt übertragen werden könnten. Das wurde oft als „Brötchen“ – oder „Kühlschrank“-Frage thematisiert. Aus dem, was wir uns damals überlegten, folgte die Hoffnung: „Eine andere Produktionswelt ist möglich“ (Schlemm 2005a, 2005b). Für die industrielle Produktion setzten wir insbesondere auf die sog. 3D-Drucker, für die eine ähnliche Dezentralisierung möglich schien wie für die digitalen Techniken. Darauf setzte z.B. auch Nick Dyer-Witheford (2006).
Bei Massimo de Angelis und in anderen Commons-Konzepten taucht dieser Bereich eigentlich gar nicht auf. So z.B. bei der Aufzählung der Commonsgüter (ab S. 52). Da gibt es nur einmal die unspezifische Bezeichnung „Sachliche Commons“ (ebd.: 53). Während Marx sein Augenmerk vor allem auf die jeweils „fortgeschrittensten“ Produktionsmethoden gelegt hatte, wird davon abgegangen, sondern die von Marx vernachlässigten bzw. auch die als rückschrittlich verurteilten alten Reproduktionsweisen werden rehabilitiert gegenüber der industriellen Megamaschine. Dass deren Potenzen zur Befreiung der Menschen von zeitzehrenden Arbeiten jedoch völlig unter den Tisch fallen, ist meiner Meinung nach unangemessen für ein wirklich vertretbares alternatives Re-Produktionskonzept.
Wenn die Übernahme und Umgestaltung des industriellen Bereichs völlig fehlt, dann brauchen auch überhaupt keine Überlegungen angestellt werden zu den Problemen, an denen die realsozialistischen Staaten im Bereich der Produktion gescheitert sind. Man soll durchaus gegenüber einer Überbetonung der Produktion die Reproduktion stark machen, aber wenn die Produktion darüber vernachlässigt wird, ist das Konzept unzureichend, bzw. unterkomplex[1].
Bei Massimo de Angelis ist dieser Bereich nicht betrachtet, weil er 1. in seinen Beispielen keine Rolle spielt bzw. nur eine Randerscheinung (bei besetzten Fabriken, meist aber ohne hohen Industrialisierungsgrad) ist. 2. jedoch gibt es auch eine inhaltliche Begründung. Für ihn haben auch konzeptionell jene Bereiche Priorität, die direkt mit der Reproduktion des menschlichen Lebens und der Natur zu tun haben (de Angelis 2017: 14). Dafür spricht auch: Wenn und insoweit die Menschen sich außerhalb des Kapitalismus reproduzieren könnten, wären sie nicht mehr abhängig vom Lohn und dem Lebensmittelerwerb als Waren. Ich erinnere mich, dass auch das Umsonstladenkonzept des Umsonstladens in Hamburg darauf ausgerichtet war, nicht nur gebrauchte Dinge umsonst weiter zu geben, sondern durch kleine Werkstätten für die Aufarbeitung von Kleidung, Kleinmöbeln und Fahrrädern Menschen, die sich daran beteiligen, mehr und mehr vom Zwang, Geld für diese Dinge ausgeben zu müssen, zu befreien. Deshalb muss nach de Angelis alles was „direkt mit der (Re)produktion von Körpern und der Erde verknüpft“ ist (ebd.: 139) eine privilegierte Rolle spielen (ebd. 13). Das will ich nicht in Frage stellen, allerdings zeigt sich darin die Beschränktheit dieses Konzepts, das jene Weltregionen ausschließt, in denen die industrielle Produktion inzwischen eine maßgebliche Rolle für die Bereitstellung vieler Dinge spielt, die wirklich nicht sinnvoll auf ein nur rein handwerkliches Maß zurückgefahren werden können (etwa die Kleidungsproduktion in Europa). Das Konzept auf Basis der nichtindustriellen Commons entspricht den Praxen der von de Angelis aufgegriffenen sozial-ökologischen Bewegungen und Commons. Wenn der industrielle Bereich, in dem das Kapital historisch gesehen seine besondere Stärke entwickelte, völlig außen vor gelassen wird, wird nur eine Ausweichbewegung vollzogen, keine Überwindung. Die ungelösten Probleme des Realsozialismus, wie auf menschlichem und ökologischem Wege eine industrielle Produktion auch auf Basis von hoher Produktivität (Verhältnis von zeitlichem Aufwand zu Nutzen) und Effizienz (Verhältnis von Aufwand zu Nutzen) gestaltet werden kann, werden nicht einmal als zu lösendes Problem adressiert und bleiben deshalb unbearbeitet. Für die Menschen in den derzeit industrialisierten Ländern sind diese Commons-Konzeptionen deshalb keine wünschbare Alternative. Es verwundert nicht, dass sie bei der Mehrheit der Menschen hier auf wenig Interesse oder gar Begeisterung stoßen.
Ich war von der Entwicklung der Commons-Konzepte seit dem neuen Jahrtausend ausgegangen; was ist daraus – auch über de Angelis hinaus betrachtet – geworden? Die Hoffnung auf die 3D-Drucker hat sich weitgehend zerschlagen. Sie werden nicht kleiner und billiger, sondern größer, technisch komplexer, von vornherein nur als Element innerhalb der sowieso schon sehr komplexen industriellen Produktionsprozesse entwickelt. Über die „Brötchen“-Frage kann man auf der Grundlage von LowTech gut reden und de Angelis berichtet auch, dass sie in Projekt, an dem er sich beteiligt, eine Lieferkette vom Weizen bis zum Brot aufbauen (de Angelis 2017: 15). Aber bis zu den Kühlschränken kommt dieses Konzept nicht mehr. Ein Uhrwerk, das eventuell noch manufakturiell-handwerklich hergestellt werden kann, hat wohl maximal 1500 Teile, wenn ich meinen gegoogelten Informationen vertrauen kann. Ein Auto kommt dann schon auf 10 000 Teile, die aus ca. 80 Ländern kommen. Leider finde ich für andere Produkte solche Angaben nicht. Mit diesen Zahlen will ich darauf hinaus, wie viele komplexe Lieferketten in einem heutzutage normalen industriellen Produkt stecken. Für diese wirkliche, auch aus sachlichen Gründen begründbare Komplexität der industriellen Produktion, über eine Fertigungstiefe von vielen, vielen Stufen, bieten auch die Commoning-Konzepte von Christian Siefkes (2008) und Simon Sutterlütti und Stefan Meretz (2018) nicht wirklich eine Lösung.[2] Nur für jeweils sehr vereinfachte Vorstellungen sind sie anwendbar.
Diese Vereinfachungen könnten in Zukunft durch die Zerstörung der gegenwärtigen Re-Produktionszusammenhänge „per Desaster“ von selbst entstehen. Es könnte tatsächlich sein, dass zwar nicht freiwillig auf diese industriellen produktionstechnischen Möglichkeiten verzichtet wird, dass aber ihre infrastrukturellen Grundlagen bei den kommenden Katastrophen irgendwann sowieso zerstört werden. Nur für die „nötigsten“ Sachen wird sie dann wieder rekonstruiert werden und dabei auf ein Maß zurückgefahren, das weit hinter dem Erreichten liegt. Eine nur landwirtschaftlich-handwerkliche Reproduktion kann sicher unter der Bedingung von einer dann geringeren Bevölkerungsdichte und mit viel mehr Arbeitsaufwänden eine Überlebensgrundlage bilden. Vielleicht entsteht dann aus den Resten des Alten und des Wissens darüber auch eine neuartige konviviale Industrie mit einer höheren Komplexität, Produktivität und Effizienz – bezogen auch auf die Reproduktion – als in der Gegenwart, die dann vorbei sein wird. Allerdings sind solche Aussichten wegen der Ausblendung oder unzureichenden Behandlung der Industrie in der gegenwärtigen Debatte überhaupt nicht vorbereitet, um auch für die die Menschen in den jetzigen industrialisierten Ländern eine Perspektive sein zu können.
[1] „Es ist vor allem in sozialen Kontexten fatal, wenn komplexe Vorgänge ignoriert und der Fokus der Betrachtungsweise nur auf einem oder zwei Punkten liegt. Die Forschung arbeitet mit dem Ziel einer Komplexitätsanreicherung. Wäre es anders, bräuchte es keine Forschung. Beispielsweise kann man sagen: Das Wasser kocht, weil die Herdplatte heiß ist. Prinzipiell ist diese Erklärung ausreichend. Dennoch ist der Vorgang des Wasserkochens wesentlich komplexer als hier beschrieben. Es geht unter anderem um Moleküle, um Wärmeleitung, Energiezuführung, um den Luftdruck oder auch um das Material des Kochtopfs.“ (BedeutungOnline)
[2] Einige Kritiken an unterkomplexen alternativen Vorstellungen liefert z.B. auch Fischbach 2013.
- Zum Weiterlesen zu diesen Thema siehe auch: Rainer Fischbach 2011: „Einige Bestimmungsstücke möglicher Zukünfte“
September 1, 2021 at 8:39 am
Ich denke schon, dass das Konzept aus meinem Buch (Siefkes 2008) prinzipiell auch für industrielle Produktion funktionieren würde. Da werden ja Beiträge und Entnahmen über „gewichtete Arbeit“ miteinander verrechnet. Das ist nicht so viel anders als im Markt, der das ja auch hinkriegt – nur dass es keinen Profit mehr gibt und keine Möglichkeit, Geld in mehr Geld zu verwandeln.
Ich stimme aber zu, dass Modelle, die komplett auf freiwillige Beiträge setzen und jede Art von Verrechnung vermeiden wollen, so wie Simon und Stefan sie vertreten und ich sie zeitweise ebenfalls vertreten habe, hier scheitern dürften – weil Tätigkeiten, die nur ein sehr gut verstecktes Teilchen in einem hochkomplexen „Uhrwerk“ darstellen, vermutlich nicht in ausreichendem Umfang die intrinsische Motivation hervorrufen können, die hier notwendig wäre.
Vielen Dank für deine Serie insgesamt, das war eine sehr fundierte und gut begründete Kritik!
September 1, 2021 at 12:08 pm
Worum es mir vor allem geht, ist die Notwendigkeit, die Aufwände für etwas über die gesamte „Lieferkette“ hindurch im Vorhinein bekannt zu haben, um dann auch die vom Aufwand her Günstigste wählen zu können. Ich weiß jetzt nicht, ob das mit Deinem Konzept ginge…
September 9, 2021 at 9:38 am
Naja, sofern alle Produkte einen Preis (in meinem Modell in „gewichteter Arbeit“ statt Geld) haben, geht das im Prinzip, sofern man eben vorher weiß, welche Vorprodukte es braucht und diese schon verfügbar sind. In der Realität wird das bei Innovationen allerdings natürlich oft nicht so sein, da der ganze Produktionsprozess erst entwickelt werden muss und zum Teil auch neue Vorprodukte benötigt werden. In solchen Fällen funktioniert ja auch der Kapitalismus nach dem Prinzip des „Trial and Error“: unterschiedliche Firmen setzen auf unterschiedliche Prozesse, die unterschiedlich gut funktionieren können – die meisten davon gehen pleite, einige hingegen sind erfolgreich und definieren den neuen Standardprozess, dem dann alle folgen (sofern sie nicht durch Patente o.ä. daran gehindert werden).
In der von mir skizzierten Gesellschaft wäre das vermutlich nicht SO viel anders, nur dass die Umstellung von Betriebsprozessen ohne Betriebsgeheimnis und Patentrecht – und v.a. ohne Interesse am Niederkonkurrieren der anderen – einfacher wäre und das temporäre Scheitern weniger schlimme Folgen hätte. (Betriebe gehen nicht pleite, aber die Beteiligten müssten gewisse Verluste hinnehmen, etwa dass sie Arbeitszeit geleistet haben, die ihnen gesellschaftlich nicht vollständig anerkannt wird, weil sie letztlich nicht dem gesellschaftlichen Bedarf entsprach.)
Nun vertrete ich das Konzept ja nicht mehr aktiv und will gar nicht behaupten, dass das alles bis ins Detail zuende gedacht ist, aber der Vorwurf einer zu großen Vereinfachung erscheint mir trotzdem nicht ganz angemessen.
September 9, 2021 at 2:37 pm
Genau und das mit dem Trial-and-Error ist das, was mir nicht passt. So darf es nicht laufen. Mal von der Sozialismustheorie her: das soll ja nun endlich mal eine bewusst gestaltete (Re-)Produktion sein und das betrifft den Produktionsprozess als Ganze, nicht nur das jeweilige Agieren an einer Stelle. Und für eine grundlegende Rationalitätsbilanz (bezüglich Arbeitsproduktivität und Ressourceneffizienz) brauchts auch eine Gesamtübersicht, egal, wo die vorliegt und wer dann was dazu entscheidet.
Oktober 2, 2021 at 2:09 pm
[…] in ihrer Auseinandersetzung mit De Angelis auch auf diese Punkte ein, zum einen unter dem Stichwort Industrie-Commons zum anderen unter Zweifel an der präfigurativen […]