Heute vor 190 Jahren ist Hegel gestorben. Das erinnert mich daran, dass ich einen im Netz verschollenen Text von mir zur Frage, warum ich mich für Hegel interessiere, noch einmal suchen und die Frage beantworten wollte. Ich hab nicht den verschollenen Text (aus einem Forum, das es nicht mehr gibt) gefunden, aber die Erkärung, warum mir Hegel wichtig ist, in einem anderen Text von 2007, den ich hier teilen möchte:

(2007/2021)

Begonnen hat meine Hegelgeschichte erst nach der Wende. Vorher teilte ich wohl mit vielen die Tradition des Marxismus-Leninismus, die Dialektik in der von Friedrich Engels und W.I. Lenin beschriebenen Weise als ausreichend zu betrachten. Spätestens nach der Wende war aber nun endgültig das Selberdenken  und –argumentieren angesagt und ich versuchte, einige Fragestellungen selbst abzuleiten.

Die Frage nach dem Wesen

Ich war schon immer begeistert von Wissenschaft in dem Sinne, dass ich tiefere Zusammenhänge in der mannigfachen Welt der Erscheinungen auffinden und begreifen wollte. Ich studierte dann Physik und machte mein Diplom in Kosmologie. Ich habe dabei viele solche Zusammenhänge kennen gelernt und es war klar: Wissenschaftliche Erkenntnis ist nicht einfach nur eine Zusammenfassung im Sinne der Summe der einzelnen Beobachtungen. Sie ist auch nicht einfach nur „Verallgemeinerung“, denn unwesentliche Sachen werden nicht mit verallgemeinert, sondern nur „wesentliche“. Hoppla… was sind denn wesentliche und was unwesentliche Momente? In der Physik weiß man das im konkreten Fall aus der eigenen Fachkenntnis heraus meistens. Aber mal ganz allgemein gesehen, was ist das Typische, das Allgemeine, das Wesentliche an dem, was man in der Wissenschaft als das „Wesentliche“ herauszieht? Konkret kommt das auch darin zum Ausdruck, dass z.B. Naturgesetze als „allgemein-notwendige, das heißt wesentliche Zusammenhänge“ gekennzeichnet werden. Aber was ist nun das „Wesen“?

Als ich einen Philosophen danach fragte, hatte ich Glück, einen guten Philosophen zu treffen, der mich nicht dogmatisch abfertigte. Ein westlich sozialisierter Philosoph hätte mich wahrscheinlich von der Frage abzubringen versucht, indem er auf die vorherrschende Tradition der analytischen Philosophie (und Wissenschaftstheorie) verwiesen hätte, in der solche Fragen wie nach dem Wesen als metaphysische Fragen aus der Wissenschaft zu verdammen seien.

Mein Philosoph jedoch sagte zu mir, ich fände eine Antwort in der „Wissenschaft der Logik“ von Hegel, am Ende des I. Bandes. Also begann ich zu lesen. Was heißt „zu lesen“…. Wer es einfach mal so versucht hat, weiß in welches Desaster man damit gerät. Ich verstand natürlich nur Bahnhof.

Verständnisprobleme

Mir ging es ganz genau so, wie es einige auch hier in der Debatte schon beschrieben haben. Ich versuchte, den Text einfach so zu lesen und die Wortaufeinanderfolge in dem Sinne zu verstehen, wie die Worte halt in meinem Kopf  vorhanden waren. Allerdings traute ich mir nicht, so schnell mit der Hand zu sein mit Bemerkungen wie „Geschwafel“ und so. Ich ging erst mal davon aus, dass es mir an genügend Vorkenntnissen mangelt. Beispielsweise käme ich mir ziemlich blöd vor, wenn ich – trotz intensiver Matheausbildung und Diplom in theoretischer Physik – irgend ein Buch der höheren Mathematik in die Hand nehmen würde und weil ichs nicht verstehe, zuerst dem Autor Vorwürfe machen würde. Genau so, wie ich für die Mathematik eine aufbauende Bildung brauche, so muss ich sie mir für philosophische Texte auch aneignen. Ich kann keine Statik von Brücken berechnen, ich kann keine Heiltherapie entwickeln, ich kann vieles nicht, ohne mir vorher Fachkenntnisse angeeignet zu haben. Das Problem bei philosophischen Texten ist, dass dort Wörter und eine Grammatik verwendet werden, die jede/r zu verstehen glaubt.

Die Texte sind Antworten – aber was waren die Fragen?

Nun, ich war grad erwerbslos und wollte wirklich mehr Philosophie verstehen, als was ich bis dahin kannte. (Es wäre ja auch langweilig gewesen, bei meinem damaligen Stand zu bleiben und mich darin im Rest meines Lebens im Kreise zu drehen). Glücklicherweise gabs damals noch kein Internet, so dass ich mir mehrmals mehrere Wochen Zeit nahm, die ersten Bücher von Hegel und Sekundärliteratur und ähnliches gründlich durchzuarbeiten. Den Anfang machte ich mit dem Lesen von Biographien der sog. Klassischen Deutschen Philosophen. Dadurch hatte ich die Möglichkeit, die philosophischen Texte nicht nur so für sich zu nehmen, sondern ich konnte einordnen, auf welche Fragestellungen sie eine Antwort zu geben versuchten. Das war vor allem die Frage der Freiheit. Ich fand das überdeutlich bei Fichte (in „Die Bestimmung des Menschen“, dann auch bei Schelling). Mit diesem Wissen im Hinterkopf lasen sich die Texte auf einmal ganz anders als sie heute oft interpretiert werden. Und ich denke, es ist auch wichtig, diese Kontexte immer mit zu berücksichtigen. Ich begann mich auf diese Weise mit den Autoren sehr geistig-verwandt zu fühlen, auch wenn ich nach wie vor nicht in allen Punkten ihre Position teile. Aber es entwickelte sich eine Art „Grundvertrauen“ in ihre Absichten und viel Interesse, mehr über sie kennen zu lernen und von ihnen zu lernen.

Die Systemfrage

Eine dieser Fragen hatte auch mit meiner doch stark von den Naturwissenschaften herkommenden Sichtweise auf die Welt zu tun. Ich hatte nach der Physik vor allem die Selbstorganisationskonzepte (Prigogine, Haken etc.) studiert. Einige Menschen in meinem Umfeld fanden, dies seien nun die verbesserten Formen von allgemeinen Systemtheorien, die aus allen anderen Wissensgebieten die allgemeinsten Zusammenhänge abbilden könnten. Die Philosophie jedoch behauptet aber auch, das „Allgemeinste“ zu sein… Brauchen wir nun keine Philosophie mehr?

Später erfuhr ich, dass genau diese Frage z.B. in der DDR schon Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre diskutiert worden war, als eine Zeitlang eine kybernetische Weltsicht und Begriffsbildung die philosophische zu ersetzen begonnen hatte (man erkennt das z.T. noch an dem bekannten orange „Philosophischen Wörterbuch“). Leider wurde bei der späteren Zurückweisung des überzogenen Anspruchs von Kybernetikvertretern größtenteils nicht sachlich argumentiert, sondern machtpolitisch agiert. Mir persönlich war irgendwie klar, dass die Kybernetisierung kein Ausweg sein konnte, mich befriedigten diese Modelle trotz aller Begeisterung (die man vielleicht aus meinen Webseiten zur Selbstorganisation rauslesen kann) nicht vollständig. In der Philosophie gab es noch mehr, als diese Art Systemdenken erfassen konnte und wollte. Was das genau war, begann ich erstmalig zu ahnen, als ich ein ziemlich altes Buch von Camilla Warnke (von 1972!) dazu las. Sie bezog sich auf den Unterschied von abstrakter Allgemeinheit und konkreter Allgemeinheit. Das klingt schon wieder total abgehoben  Aber der Inhalt ist fundamental für vieles:

Letztlich gibt es in der Welt ja Einzelnes und Zusammenfassungen davon. Die Frage nach dem Vielen und dem Einen, den Teilen und dem Ganzen, dem Mannigfaltigen und der Einheit bzw. dem Einzelnen, Besonderen und dem Allgemeinen ist ja eigentlich die Grundfrage, um die es sich in der Philosophie immer wieder dreht (verbunden mit der oben erwähnten Freiheitsfrage: sie bezieht sich auf die Freiheitsgrade des Vielen, der Teile, des Mannigfaltigen, des Einzelnen, Besonderen). Die einfachste Lösung wäre es, das Eine, das Ganze, die Einheit, das Allgemeine zu leugnen und nur dem Einzelnen eine Existenz zuzusprechen, das ist als „Nominalismus“ bekannt und gerade in der Postmoderne wieder einmal nacherfunden worden. Wer das als Lösung ansieht, wird an allen nachfolgenden Überlegungen zum Allgemeinen, zum Ganzen, zum Systematischen natürlich eher kein Interesse haben. Aber für jene, die denken, dass die Welt doch ein bißchen komplizierter ist, steht die Aufgabe, das Viele, die Elemente und das Eine, das System irgendwie zusammen zu denken, weil es auch real zusammen hängt. Diese Aufgabe kann nun auch wieder auf unterschiedliche Weise gelöst werden. In der einen Variante stellt man sich einerseits die Teile vor und andererseits das Ganze. Das heißt im Extremfall: es könnte eigentlich auch die Teile alleine geben und auch das Ganze ohne Teile. Das nennt sich: die „abstrakte“ Einheit, das abstrakte System, die abstrakte Allgemeinheit. Zumindest im Denken ergeben sich solche Trennungen der Teile vom Ganzen häufig, das ist nichts Ungewöhnliches und auch oft notwendig (schon mal ein Vorgriff: bei Hegel ist solches Denken als „wesenslogisches“ Denken gekennzeichnet, oder als nur „verständiges“ im Unterschied zu „vernünftigem“ Denken). Übrigens ist es in den Naturwissenschaften schon möglich, solche Trennungen vorzunehmen, ohne gleich auf die Nase zu fallen, deshalb liegt es für Naturwissenschaftler(innen) wie mich besonders nahe, beim Nachdenken über das Allgemeine genau auf das abstrakte Allgemeine in den kybernetischen, systemtheoretischen und Selbstorganisations-Theorien zu kommen.

Spätestens beim Verständnis der Gesellschaft kommt man da aber in Probleme. Entweder man sieht nur die Individuen und versteht nicht, wie die soziale Kohärenz zustande kommt oder man nimmt die Gesellschaft als System und die Menschen (oder ihre Beziehungen) als deren Elemente werden unwesentlich oder fallen ganz aus dem System heraus (wie bei Luhmann). Wer darin die angemessene Sichtweise sieht, wird wiederum auch nicht weiter fragen brauchen. Aber für mich war das nicht befriedigend. Es muss doch möglich sein, die spezifische Einheit von Ganzem und seinen Teilen so zu denken, dass Teile und Ganzes nicht ständig auseinander fallen und dann fast künstlich wieder zusammen gebracht werden müssen. Ich habe grad geschrieben: „Einheit von Ganzem und seinen Teilen“. In Hegels Worten kennzeichnet die Dialektik das Denken der „Identität von Identität und Unterschied“. Das klingt für manchen wie Geschwafel, für mich ist es eine sprachliche Formel für die Frage, wie ich Individuelles und Gesellschaftliches zusammen denken kann, ohne es auseinander zu reißen. In der Wirklichkeit, also der „konkreten“ Welt, gibt es ja die Teile und das Ganze auch nie völlig getrennt voneinander, sondern nur miteinander. Deshalb heißt die so gedachte Allgemeinheit auch „konkrete Allgemeinheit“ (mit „Konkretheit“ ist hier nicht das Unmittelbare, Faktische bzw. Sinnliche gemeint) und das komplizierte Denken dieser Einheit heißt auch „begriffslogisches“ Denken.  Das erste Ergebnis meiner Überlegungen zum Verhältnis von Selbstorganisations-Systemtheorien und philosophischer (Dialektik-)Theorie habe ich dann bei der Ernst-Bloch-Assoziation in Salecina vorgetragen.

Verständnis des Systems

Auf meinem Weg, einen Zugang zu diesen Fragen zu finden, machte ich eine interessante Erfahrung: Das Hegelsche System erleichtert das Verständnis seiner Philosophie ungemein. Im Unterschied zu anderen Philosophen, die die Wörter immer mal in anderen Bedeutungen verwenden, oder die in sprachlicher Uneindeutigkeit brillieren, erleichtert uns Hegel den Umgang mit seinen Kategorien. Bei ihm ist die Bedeutung der Worte in seinen Texten selbst erläutert. Dadurch ergeben sich Verschiebungen – ein Wort bedeutet nicht immer das, was wir in der Alltagssprache als seine Bedeutung kennen. Es sind nicht einfach Worte aus einem deutschen Wörterbuch, sondern fachsprachliche Kategorien bzw. Begriffe. Wie die Bedeutung von Zustandsgrößen in der Physik oder Formeln in der Mathematik müssen diese Bedeutungen erschlossen, verstanden und dann in angemessener Weise verwendet werden, um nicht etwas falsch einzuordnen. Außerdem haben wir mit Hegel ein großes Problem: Seine Philosophie verwirklicht den Anspruch, dass nichts von vornherein und ein für allemal festgelegt ist, sondern alles immer in Bewegung bleibt. Für die Bedeutung seiner Kategorien gilt dies auch. Für das, was wir vorhin das „Eine“, das „System“, das „Ganze“ oder die „Einheit“ genannt haben, hat Hegel ganz bestimmte Kategorien, deren Verwendung bei Hegel uns ganz genau etwas darüber sagt, in welchem begrifflichen Kontext er gerade etwas darüber aussagt. Wenn er das Wort „Ganzes“ als Kategorie verwendet, enthält die Bedeutung dieses Begriffs, dass das Ganze noch als getrennt von seinen Teilen gedacht wird. Es wird additiv gedacht: Beispielsweise werden erst die Teile gedacht und dann zusammengesetzt als Ganzes, oder erst das Ganze, was dann unterteilt wird. Aber es ist auch wichtig, eine Einheit zu denken, in der nicht erst das eine und dann das andere gedacht wird, sondern beides zusammen fällt (eben die Einheit von Einheit und Unterschied). Der Mensch ist auch als Individuum ein gesellschaftlich bestimmtes und die Gesellschaft existiert nicht ohne die Lebenstätigkeit der menschlichen Individuen. Da gibt es kein „Erst dies – dann jenes“.

Eine solche Einheit wird durch die Kategorie „Totalität“ benannt. Das hat überhaupt nichts mit „Totalitarismus“ zu tun. Denn die Totalität (z.B. Gesellschaft) ist genau jene Einheit, die nie getrennt von ihren Momenten (z.B. menschlichen Individuen) gedacht werden kann. Die Momente (Individuen) sind konstitutiv, nicht auslöschbar.

Das zeigt sich auch bei der Frage der Entwicklung. Ein System, („nur“) als Ganzes gedacht, ist in sich auch unhistorisch. Bei ihm muss die Entwicklung zusätzlich hinzugefügt werden. Nicht umsonst unterliegen die typischen autopoietischen Systeme keiner Entwicklung, sondern lediglich einem „Driften“ und bei der Selbstorganisation ist der zur Organisierung notwendige Parameterwechsel von außen induziert – beispielsweise durch Zufuhr freier Energie. Eine Totalität dagegen ist immer ein sich entwickelnder Gesamtzusammenhang, bei dem die Bedingungen seiner Veränderung selbsterzeugt sind. (Zum Verhältnis von Ganzem und Totalität)

Aufgrund dieser ständigen Prozessualität befindet sich bei Hegel auch die Bedeutung der Kategorien ständig im Wandel. Es fällt schwer, z.B. ein Karteikartensystem aufzubauen, mit dem jedem Wort eine eindeutige Bedeutung zugewiesen wird. Immer muss die Bewegung mitgedacht werden! (also gerade der Gegenteil von dogmatischen Festlegungen). Aus dieser Prozessualität ergibt sich noch eine andere Besonderheit: Die (deutsche) Grammatik ist unbeweglich. Es wird als Subjekt etwas Statisches vorgegeben, dem dann mittels Verben eine Eigenschaft oder Bewegung zugefügt wird. Das sichselbsterzeugende, selbstbewegliche Subjekt kann damit nur schwer ausgedrückt werden. Ernst Bloch löste die Einbeziehung des ständigen Werdens in die Grammatik mit der Formel: „S ist noch nicht P“ (Das Subjekt ist noch nicht das Prädikat). Bei Hegel ist das Bemühen, die Selbstentwicklung aller Kategorien auch im Satzbau abzubilden, die Ursache für massive Verständnisschwierigkeiten. Wir müssen uns dann entscheiden: Wollen wir weiter statisch denken und sprechen, oder fällt uns eine andere Möglichkeit ein, mit Worten Veränderung und Entwicklung auszudrücken, oder versuchen wirs erst mal mit Hegels Ansatz?

Es muss natürlich nun nicht dogmatisch von allen, die die deutsche Sprache verwenden, gefordert werden, dieselben Worte für dieselben Bedeutungen zu verwenden (auch in der Physik wird eine Kraft mal K mal F genannt…). Aber der Inhalt der Bedeutungen spielt eine Rolle und sollte ernst genommen werden, wenn man philosophische Aussagen verstehen will. Zur Kommunikation und vor allem auch zum Lernen bieten sich natürlich Vereinbarungen an, die alle Beteiligten teilen, und es macht nur selten wirklich Sinn, sich da weit von Hegels Wortverwendungen zu entfernen.

So sehr uns Hegels Anspruch, die Entwicklung immer mitzudenken, den sprachlichen Ausdruck erschwert, so sehr erleichtert er uns das Verständnis aber auch durch die Systematik seiner Kategorien. Es lockt oft, diese Systematik zum Schema zu verflachen. Das passiert z.B. bei der altbekannten Rede von „These“-„Antithese“-„Synthese“. (Hegel hat sich gegen dieses Reden auch explizit gewehrt.) Aber es besteht die Möglichkeit, sich „Eselsbrücken“ zu bauen, um die jeweiligen Bedeutungen in ihrem Kontext besser zu verstehen. Das ermöglicht die typische Struktur seiner Gliederungen (siehe hier und hier).

Zurück zur Wissenschaft

Es ist eigenartig: Wenn ich mich nur für Naturwissenschaften interessiert hätte, und nicht auch für Gesellschaftstheorien (und –politik), hätte ich mich wahrscheinlich nie so intensiv mit Hegel beschäftigen müssen/wollen. Da ich es dann aber getan hatte, erschlossen sich auch für das Verständnis von Naturwissenschaft neue Welten für mich. Alles, was früher unter dem Stichpunkt „Naturdialektik“ abgehandelt wurde, erfüllte sich mit tiefer reichenden Inhalten. Die Rolle des Wesentlichen, von der ich zu Beginn ausgegangen war, wurde zum Thema meiner Dissertation. Ich konnte das Hegelsche Denken nutzen, um die Frage „Was haben Naturgesetze mit der Wirklichkeit zu tun?“ auf andere Weise als die üblichen zu lösen. Die eine der bisherigen Weise verlegte einfach die Naturgesetze in die Welt da draußen und meinte, unsere Erkenntnis leite nur Abbilder, d.h. Kopien, von diesen objektiven Gesetzen ins Bewusstsein, in die Theorie. Die andere Weise ging davon aus, dass die Erkenntnis durchaus ein vom Subjekt und vom Bewusstsein aktiv in Angriff genommener Prozess ist und die Rolle des Subjektiven berücksichtigt werden muss – dies führte im Extrem aber häufig zu übertriebenem Subjektivismus und Idealismus. Mir half bei der Beantwortung der Frage die Unterscheidung zwischen „Realität“ und „Wirklichkeit“, die Hegel traf. Gesetze sind wesentliche Zusammenhänge aus dem Bereich der Wirklichkeit, nicht der Realität. Ja, für viele mag das wieder nach „Wortklauberei“ klingen. Inhaltlich ist das aber wirklich ein wichtiger Unterschied: Wenn wir die Welt als „Realität“ sehen, so nehmen wir ihre Fakten einfach hin. Der berühmte Spruch gegen Träumer: „Sei realistisch!“ – oder aktuell politisch die Losung TINA („There is no alternative“) würden dem entsprechen. Tatsächlich aber sagen die Gesetze nicht „So ist es!“ (und so wird es immer bleiben.“), sondern sie sagen: „Dies und jenes ist unter diesen oder jenen Bedingungen möglich bzw. unmöglich.“ Das Neue hier ist der Begriff der Möglichkeit (was auch die Hauptkategorie bei Ernst Bloch war). Die Möglichkeit ist in der Hegelschen Kategorie der „Wirklichkeit“ enthalten, aber nicht in der „Realität“. Es macht also schon einen Unterschied, was man warum verwendet. Wenn wir Gesetze in den Zusammenhang zur Wirklichkeit/Möglichkeit stellen, sind sie keine Gefängnisgitter, sondern die Hebel, mit deren Wissen wir die Wirklichkeit aktiv verändern können.

Auf diese Weise schließt sich für mich ein Kreis. Für andere werden es andere Fragen sein, und noch andere Menschen haben grad keine solchen Fragen, für die sie Hegelsches Denken brauchen. Ich freue mich darauf, neue Kreise – in typisch hegelscher Weise nicht ewig in sich verlaufend, sondern sich fortentwickelnd wie eine Spirale – zu ziehen mit möglichst vielen Gleichgesinnten…