Zum Verhältnis von Exklusion und Ausbeutung
Der Begriff der „Arbeiterklasse“ wurde, nachdem er im traditionellen Marxismus überstrapaziert worden war, inzwischen weitgehend entsorgt (kritisch dazu Schlemm 2016, 2017 und 2018). Damit verblasste auch der Begriff der „Ausbeutung“. Meist wurde er zu einem Wort, das eine gewisse Empörung trägt, aber begrifflich nicht mehr bestimmt ist. Oder die Ausbeutung wird bloß als „Moment der Exklusion“ bestimmt (Sutterlütti, Meretz 2018: 37). Die Soziologin Tine Haubner aus Jena versucht seit längerer Zeit, den Ausbeutungsbegrff vor allem in Bezug auf Arbeitende in der Pflege wieder nutzbar zu machen – ich werde etwas später im Text vor allem ihre Lösung hier referieren.
Im deutschen Strafgesetzbuch wird Ausbeutung durch Beschäftigung so definiert:
„Ausbeutung durch eine Beschäftigung […] liegt vor, wenn die Beschäftigung aus rücksichtslosem Gewinnstreben zu Arbeitsbedingungen erfolgt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu den Arbeitsbedingungen solcher Arbeitnehmer stehen, welche der gleichen oder einer vergleichbaren Beschäftigung nachgehen (ausbeuterische Beschäftigung).“ (StGB, § 232 (1))
Hier geht es also um ein Missverhältnis im Vergleich mit anderen „Arbeitnehmern […], welche der gleichen oder einer vergleichbaren Beschäftigung nachgehen“. Für Arbeitende bei Amazon im Vergleich zu anderen Menschen in Logistikzentren sollte das auch zutreffen. Wenn allerdings alle ost- und südeuropäischen Pflegekräfte im 24-Dienst in Privatfamilien unter unzumutbaren Bedingungen schuften, dann ist das gar keine Ausbeutung, weil in dieser Branche alle unter den gleichen Arbeitsbedingungen stehen! Dieser Paragraph bezieht sich vor allem auf Menschenhandel und für eine Strafverfolgung müssen Zwang bzw. eine Drohung mit Gewalt vorliegen – wobei erpresserische wirtschaftliche Not unsichtbar gemacht wird.
Karl Marx hätte das natürlich anders gesehen. Er erwähnt eine Bestimmung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die darin bestehe, „daß ich mir dadurch nütze, indem ich einem Andern Abbruch tue“ (MEW 3 DI: 394). Im weiteren Verlauf der Argumentation dazu betont er, dass “die Art der Exploitation von der Lebensstellung des Exploitierenden abhängt“ (ebd.: 389). Im Rahmen der politökonomischen Analyse des Kapitalismus wird dieser Begriff später präzisiert und einschränkend auf einen bestimmten Moment fokussiert. Auf Grundlage der Unterscheidung zwischen der Arbeitskraft eines arbeitenden Menschen und der Arbeit, die sie leistet, bestimmt Marx die Ausbeutung (im Kapitalismus) als Aneignung jenes Teils des Arbeitsprodukts, der über die notwendige Selbstreproduktion der Arbeitskraft hinaus erzeugt wird. (MEW 23 Kap: 230f.)
„Die Arbeiter sind dann ausgebeutet, wenn sie länger arbeiten, als nötig wäre, um die Subsistenzmittel zu produzieren, die sie mit ihrem Geldlohn kaufen.“ (Berger 1994: 737)
Auf einer Website im Marx-Forum werden die entsprechenden Werte aus dem Statistischen Bundesamt herausgesucht:
Mitgemeint sind bei Marx auch immer „Weiber und Kinder“ (MEW 23 Kap: 15), wobei Marx die Wortwahl den von ihm ausgewerteten damaligen offiziellen Berichterstattungen entnimmt. Dies bezieht sich aber nur auf die von Marx untersuchte Kerndynamik des Kapitalismus, welche die Selbstreproduktion des Kapitals als Kapitalverhältnis betrifft. Auch die „Hausarbeit“ ist bei ihm lediglich häusliche Lohnarbeit (ebd.: 316, 489). Ansonsten gehen die Aufwendungen zur Reproduktion seiner Familie und damit auch die Erzeugung neuer Arbeitskräfte, sowie natürlich die Arbeit der Frauen in der Familie, in den Wert der Ware „männliche Arbeitskraft“ mit ein (ebd.: 185f.). Für die systemische Betrachtung der erweiterten Selbstreproduktion „des Kapitals“ geht Marx von der Existenz des Individuums aus und abstrahiert von dessen „Herstellung“ (ebd.: 185).
Dies provoziert seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine massive feministische Kritik daran, weil die von Frauen nicht in Lohnarbeit ausgeführten Arbeiten unsichtbar gemacht werden (Dalla Costa 1973, Federici 2012 und viele andere, zusammenfassend Kitchen Politics 2012, Haubner 2017: 539).
Rainer Bauböck beschäftigte sich 1988 auf Anregung von solchen feministisch orientierten Autorinnen mit der Entwicklung einer Politischen Ökonomie der Hausarbeit (Bauböck 1988: Vorwort). Hausarbeit und Subsistenzproduktion versteht er als Arbeit, „deren Resultate nicht unmittelbar in einen Austauschprozeß eingehen“ (ebd.: 1). Dadurch, dass „sie notwendig ist, um die Ware Arbeitskraft für den Arbeitsmarkt zu produzieren“, hat insbesondere die Hausarbeit eine besondere Form der Tauschwertorientierung (ebd.) und „[d]er Überschuß der für die (Re)produktion der Arbeitskraft notwendigen Arbeit über die im Wert der Ware Arbeitskraft enthaltene Arbeit kann als Ausbeutung der Hausarbeit und Subsistenzproduktion […] analysiert werden“ (ebd.). Als Definition von Ausbeutung in diesem Bereich gilt für ihn:
„Ausbeutung in der Reproduktion der Arbeitskraft ist der Überschuss der geleisteten Arbeitszeit für alle Güter und Dienste, die notwendig sind, um Arbeitskraft für den kapitalistischen Arbeitsmarkt zu (re)produzieren über die im Wert der Ware Arbeitskraft enthaltene Arbeitszeit.“ (ebd.: 13-14)
In den letzten Jahrzehnten verschob sich die Fragestellungen von der Haus- und Subsistenzarbeit mehr zu dem, was unter dem allgemeinen Begriff Care (Sorge)-Arbeit zusammengefasst wird. Hier wird auch der Zusammenhang zu den Begriffen der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie noch lockerer oder löst sich häufig ganz aus dem „Prokustesbett der Werttheorie“ (Haubner 2017: 539).
Tine Haubner verfolgt nicht den „Loslösungs-„weg, sondern einen, der Marx auch gefallen hätte. Marx holt ja im Fortgang seines Werks „Das Kapital“ immer wieder Voraussetzungen von vorher gefundenen Begriffsbestimmungen ein. Tine Haubner bestimmt nun – indem sie die Verhältnisse im Care-Bereich analysiert – sozialen Ausschluss und die Herstellung von sozialer Verwundbarkeit als Voraussetzungen der Ausbeutung (ebd.: 545). Die zentrale Ermöglichungsbedingung von Ausbeutungsbeziehungen ist das Vorhandensein ausbeutbarer, d.h. sozial verwundbarer Akteure (Haubner 2019: 219). Die soziale Verwundbarkeit „kann ökonomisch, durch den Nichtbesitz von (produktivem) Vermögen, oder durch kulturell-symbolisch vermittelte Ausgrenzungspraktiken hervorgerufen werden“ (ebd.: 220). Damit ist die ursprüngliche Akkumulation, „worin große Menschenmassen plötzlich und gewaltsam von ihren Subsistenzmitteln losgerissen und als vogelfreie Proletarier auf den Arbeitsmarkt geschleudert werden“ (MEW 23 Kap: 744) als eins der Elemente der Herstellung zur Erpressbarkeit der Arbeitskräfte zur Lohnarbeit mit erfasst, aber nicht verabsolutiert.
Es gibt also einen „Dreischritt aus sozialem Ausschluss, daraus resultierender sozialer Verwundbarkeit und der anschließenden (Aus-)Nutzung der Arbeitskraft“ (ebd.). Der Begriff der Ausbeutung ist nun ein erweiterter:
Ausbeutung ist „eine asymmetrische Sozialbeziehung, bei der die Ausbeutenden Vorteile dadurch erzielen, fremde Arbeitsleistung zu bestimmten Konditionen zu kommandieren und anzueignen“ (Haubner 2019: 217).
Der Begriff der „Exklusion“ in der Bedeutung, dass ein Individuum seine Bedürfnisse „auf Kosten der Bedürfnisse anderer“ befriedigt (Sutterlütti, Meretz 2018: 34), kommt der zu Anfang genannten frühen Bestimmung, „… dass ich mir dadurch nütze, dass ich einem Andern Abbruch tue“, sehr nahe. Die Begründung für diese gesellschaftliche Logik sehen Sutterlütti und Meretz jedoch lediglich darin, dass im Kapitalismus “Tausch die bestimmende Vermittlungsform“ ist (ebd.: 35). Dies kann die Ausbeutungsformen, die gerade nicht auf dem Tausch beruhen, nämlich die Haus- und Subsistenzarbeit sowie nicht bezahlte Care-Arbeit, nicht berücksichtigen.[1]
Tine Haubner hat mit dem eben genannten Ausbeutungsbegriff auch die Möglichkeit, Ausbeutung im Pflege- und Care-Bereich zu analysieren.
„Von Ausbeutung kann gesprochen werden, wenn informelle Laienpflegekräfte die Arbeit von Fachkräften verrichten.“ (Haubner 2019: 219) Und: „Es handelt sich um Ausbeutung, wenn materiell und symbolisch verwundbare Langzeitarbeitslose als zusätzliche Betreuungskräfte rechtswidrig für pflegerische Verrichtungen eingespannt werden und sich aus Angst vor erneutem Arbeitsplatzverlust und dessen Stigma über die unbezahlte Mehrarbeit nicht beschweren.“ (ebd.: 220)
Im Bereich der beruflichen Pflege gibt es mittlerweile Widerstand und Kämpfe; die Ausbeutung von als Helfende eingesetzten Erwerbslosen und den Frauen im 24-Stunden-Haus-Dienst bleibt zu oft noch unkritisiert.
Der Kapitalismus basiert auf der Aneignung von Arbeitsleistung, die für die Kapitalisten profitabel ist. Andere wichtige Tätigkeiten, vor allem die, die für die Reproduktion von Mensch und Natur notwendig ist, bleiben liegen. Auf diese Weise entsteht eine umfassende Reproduktionskrise. Um diese angemessen verstehen zu können, muss der Fokus für den „Ausbeutungs“-Begriff ausgeweitet werden, wie es hier beschrieben wurde. Die Veränderung der Begriffe jedoch allein wird nichts erreichen. Es kommt darauf an, dass sich jene organisieren und in Care-Kämpfen engagieren, die nicht von dieser Aneignung profitieren. Leider habe ich auch für die Pflege meiner Schwiegereltern einen 24-Stundendienst zugelassen. Wie ich das Problem heutzutage anders lösen würde, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Aber wie beim Thema der Zerstörung der Natur kommt es nun vor allem auch daran, die systemischen Strukturen zu kritisieren und neue zu konzipieren und zu erkämpfen.
Literatur:
Berger, Johannes (1994): Ausbeutung. In: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 1, Berlin: Argument-Verlag. Sp. 736-743.
Dalla Costa, Mariarosa (1973): Die Frau und der Umsturz der Gesellschaft. In: Dalla Costa, Mariarosa; James, Selma (1973): Die Macht der Frau und der Umsturz der Gesellschaft, Berlin: Merve. S. 27-67.
Federici, Silvia (2012): Aufstand aus der Küche. Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution. Münster: edition assemblage.
Haubner, Tine (2017): Ein unbequemes Erbe. Die Ausbeutung der Pflegearbeiten und der marxistische Ausbeutungsbegriff. In: Das Argument 324, S. 534-547.
Haubner, Tine (2019): Das Glück der Starken und die Not der Schwachen. Die Soziologie, der Ausbeutungsbegriff und sein unbequemes Erbe. In: Soziologie. Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Heft 2, 2019. S. 213-222.
Kitchen Politics – Queerfeministische Interventionen (2012): Einleitung oder: Anleitung zum Aufstand aus der Küche. In: Federici, Silvia (2012): Aufstand aus der Küche. Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution. Münster: edition assemblage. S. 6-20.
Marx, Karl; Engels, Friedrich (MEW 3 DI): Die deutsche Ideologie. In: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke Band 3. Berlin: Dietz Verlag 1978. S. 9-472.
Marx, Karl (MEW 23 Kap): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals. In: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke Band 23. Berlin: Dietz Verlag 1962.
Schlemm, Annette (2016): Kampf und Logik. Klassenkampf reloaded. (abgerufen 2022-02-19)
Schlemm, Annette (2017): Der Klassenkampf! – da ist er aber immer noch… Osnabrück: Packpapier-Verlag.
Schlemm, Annette (2018): Das Fehlen der Klassenbeziehungen. (abgerufen 2022-02-19)
Sutterlütti, Simon; Meretz, Stefan (2018): Kapitalismus aufheben. Eine Einladung, über Utopie und Transformation neu nachzudenken. Hamburg: VSA.
[1] Care wird hier auch in seiner Bedeutung als Voraussetzung des Funktionierens des Kapitalismus betrachtet (ebd.: 91), Da sie als abgespalten vom Produktionsprozess gesehen wird, wird die Ausbeutung IN der Care-Sphäre nicht betrachtet.
März 7, 2022 at 11:09 am
Schöner Text, danke! Mir hat die Diskussion die verschiedenen Ausbeutungsbegriffe geholfen. Ich kannte bisher vom marxistischen Ausbeutungsbegriff nur den Aspekt, der sich auf die Wertebene und die Aneignung des Mehrwerts bezieht – was dann die unbezahlten Care-Arbeiten nicht wirklich fassen kann aber ja auch bei unproduktiver Lohnarbeit auf Probleme stößt. Da finde ich die Erweiterungen interessant und denke die Definition von Haubner („asymmetrische Sozialbeziehung, bei der die Ausbeutenden Vorteile dadurch erzielen, fremde Arbeitsleistung zu bestimmten Konditionen zu kommandieren und anzueignen“) fasst das dann alles ganz gut. Ein bisschen gestolpert bin ich dann über das zweite Zitat von ihr, wo sie bestimmte Formen der Lohnarbeit als Ausbeutung benennt und es dadurch ein bisschen so klingt, als sei Lohnarbeit nicht grundsätzlich Ausbeutung.
Ich hab auch nochmal schnell nach dem marx’schen Ausbeutungsbegriff gesucht und bin im Marx-Forum hierauf gestoßen: „Ausbeutung ist entweder unmittelbare Zwangsarbeit oder vermittelte Zwangsarbeit“, K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 232, https://marx-forum.de/marx-lexikon/lexikon_a/ausbeutung.html Damit sind dann fast alle Formen der Lohnarbeit und der in der patriarchalen Familie geleisteten unbezahlten Care-Arbeiten Ausbeutung, eben weil sie vermittelte (oder in einigen Fällen auch unmittelbare) Zwangsarbeit sind, vermittelt über die Herstellung der „sozialen Verwundbarkeit“ (Haubner).
Zu der Diskussion um den Exklusionsbegriff: Hier sagst du, dass ein erweiterter Ausbeutungsbegriff eigentlich identisch ist mit dem Exklusionsbegriff; und letzterer ist dann aber zu kritisieren, weil er von Simon und Stefan nur aus dem Tausch resultiert. Das schreiben sie so aber in Kapitalismus Aufheben gar nicht. Ihr Fokus liegt zwar auf dem Tausch als dominante Vermittlungsform, die zu Exklusionslogik führt, aber das bedeutet nicht, dass es nicht auch andere Exklusionsbedingungen geben kann. Gerade wenn man sich vorkapitalistische Gesellschaften, etwa feudale, anguckt, wird klar, dass das auch Exklusionsgesellschaften waren, die Exklusion aber anders funktionierte als im Kapitalismus. Ich finde es hier ganz hilfreich, Exklusion zu spezifizieren in die Pole Konkurrenz als horizontales Exklusionsverhältnis und Herrschaft als vertikales Exklusionsverhältnis, wie es Exner und Kratzwald in ihrem Band „Solidarische Ökonomie und Commons“ machen. Ich würde das als Pole und nicht als trennscharfe Kategorien benutzen, weil Konkurrenz eben nie unter gleichen Ausgangsbedingungen stattfindet, sondern Konkurrenz und Herrschaft verknüpft sind. Mit so einer Explikation und der Benennung von Herrschaftsverhältnissen wird auch das Problem umgangen, Exklusion vor allem als horizontales Verhältnis zu begreifen, wie es manchmal in „Kapitalismus Aufheben“ klingt, und was auf jeden Fall eine Gefahr ist bei der wertkritischen Kapitalismusanalyse, die vor allem von „getrennter Privatproduktion“ ausgeht und dabei z.B. das Klassenverhältnis vernachlässigt.