Grad läuft ein Disput zwischen den LINKEN Sahra Wagenknecht und Gregor Gysi, der nicht nur wegen den direkten Inhalten interessant, ist, sondern auf ein grundlegendes Problem aufmerksam macht, das die Politik mittlerweile bestimmt. Der Tagesspiegel berichtet, dass Sahra Wagenknecht und andere sich mit bestimmten Gründen gegen eine „Strategie der Abschreckung“ ausgesprochen haben. Gregor Gysi wirft ihr daraufhin „völlige Emotionslosigkeit“ vor. Bei Anne Will hatte Sahra Wagenknecht auf „Russlands Sicherheitsinteressen“ verwiesen, woraufhin ihr vorgeworfen wurde, „zu 100 %“ die Sichtweise des Kremls zu vertreten. Und eben, dass sie „emotionslos“ sei.

Es gab schon einmal eine, heute als unzivilisiert bewertete, Zeit, in der Politik auf Affekten zu beruhen schien. Solche Leidenschaften sind recht willkürlich und unberechenbar, sie ermöglichen nur eine Reaktion auf gleicher Ebene in einem ständig kriegerisch auszutestenden Kräfteverhältnis. Die Vorstellung von klarer Vernunft als Handlungsbegründung als Gegenentwurf hatte allerdings auch nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Albert O. Hirschmann arbeitete heraus, dass mit dem Begriff des „Interesses“ hier ein fester Boden für die Einschätzung von Handlungsgründen u.a. im politischen Bereich entstehen konnte.

„Wenn die Individuen im Sinne ihrer ökonomischen [und anderen, AS] Interessen handelten, so war das Nebenprodukt nicht ein prekäres Gleichgewicht, sondern ein starkes Netz von interdependenten Beziehungen.“ (Hirschmann 1987: 60)

Auf diesen zivilisatorischen Fortschritt zu setzen, wird Sahra Wagenknecht nun zum Verhängnis. Wer rational und analytisch Interessen analysiert, wird als „emotionslos“ diffamiert.

Dies hat nun wiederum inzwischen auch eine längere Geschichte. Richard Sennett beschrieb schon vor fast 50 Jahren einen Trend zur „Psychologisierung gesellschaftlicher Beziehungen“ (Sennett 1974/2000: 376) und greift noch weiter zurück in der Geschichte. Sehr eindrucksvoll analysiert er, wie Alphonso de Lamartine die rebellierenden Menschen in Paris zwischen Februar und April 1848 besänftigen konnte.

„Er ››fasziniert‹‹ sie als Person, und sie reagieren mit  Reue“ […] Er sagte den Leuten, er sei etwas Besseres als sie, weil er über ››Zurückhaltung und Macht‹‹ verfüge, während sie sich wie Tiere gebärdeten. Das machte sie unterwürfig und respektvoll.“  (ebd.: 292)

Wodurch erreichte er diese Wirksamkeit? „Lamartine als empfindendes Wesen. Sobald die Menge von seiner Darstellung ergriffen wurde […] so wurde sie ››unvernünftig still‹‹. Sie vergaß ihre Unzufriedenheit und ihre Interessen “ (ebd.: 294). Ja, sie „vergaßen ihre Unzufriedenheit und ihre Interessen“!!! Bei den Wahlen im April wählten die Arbeiter „vielfach bürgerliche Kandidaten; nur zwölf sozialistische Deputierte wurden gewählt, und so prominente Radikale wie Blanqui und Raspail fielen durch“ (ebd.: 296). Ein anderes Beispiel ist der berühmte Brief Zolas in der der Deyfus-Affäre. Unrühmlich daran ist, dass das von ihm formulierte „Ich klage an“ sich nicht auf konkretes Handeln bezieht, sondern auf „Charakterverbrechen“ (ebd.: 317). Die Menschen „wollten genau das, was Zola ihnen anbot, nämlich eine Sprache der Zugehörigkeit zu einem kollektiven Kampf, und nicht eine logische Beweisführung für die Unschuld von Dreyfus“ (ebd.).

Derzeit, so schreibt Sennet 1974, habe sich in der Politik bereits durchgängig eine Personalisierung der Politik durchgesetzt. Nicht ihr Handeln wird betrachtet, sondern die Darstellung ihrer „Persönlichkeit“.

„Es ist ein Merkmal von Unzivilisiertheit, wenn eine Gesellschaft ihren Bürgern das Gefühl vermittelt, ein Politiker sei glaubwürdig, weil er sein eigenen Motivationen zu dramatisieren vermag. Dann wird Politik zur Verführung. Insbesondere die Herrschaftsstrukturen bleiben unangetastet, wenn die Menschen dazu verleitet werden, einen Politiker bloß deshalb zu wählen, weil er mit zorniger Stimme seine Bereitschaft erklärt, alles mögliche zu ändern; die Alchimie der Persönlichkeit enthebt diese Politiker der Notwendigkeit, ihrem Zorn Taten folgen zu lassen.“ (ebd.: 337)

Hier liegt übrigens wohl auch die Wurzel für die Problematik des derzeitigen Vorrangs von Identitätspolitiken und der Reduzierung des Klassenbezugs auf „Klassismus“. Auch hierfür beschreibt Sennet ein Beispiel aus dem Forest-Hill-Konflikt in New York (ebd.: 380): „Die Gemeinschaft war zu einem unerbittlichen Verteidiger der Integrität jedes ihrer Angehörigen geworden“ (ebd.: 382). Solch ein Beschwören einer vor allem emotionalen Einheit finde ich auch bei fast allen Demonstrationsreden wieder; ich weiß jetzt, warum mich diese emotionalen Überwältigungsversuche, diese „Politik des Ressentiments“ (ebd.: 352), eigentlich immer eher abstoßen. Wir sollten mal aufpassen wo uns dies auch heute immer wieder begegnet:

Die „Mitglieder verhielten sich so, als hätten sie die moralische Entrüstung für sich gepachtet. […] Jede Stellungnahme wandelt sich mehr und mehr zur Reproduktion eines rigiden, symbolischen Kollektivselbst.“ (ebd.: 389)

Vielleicht braucht das auch seinen Platz, vielleicht sind Demos grade gut zur Versicherung des „kollektiven Kampfs“ (woraufhin man wieder in sein gemütliches Zuhause geht und sich einbilden kann „dabei gewesen“ zu sein – ich  möchte all die Hundertausenden aus den  Demos der letzten Tage in Zukunft in einer aktiven Friedensarbeit wiedersehen!!!). Aber wenn eine Politikerin in einer eigentlich sachlichen Debatte meint:

„Berücksichtigung aller Sicherheitsinteressen durch beide Seiten sind dennoch ohne Alternative, um Frieden in Europa zu sichern.“ (S. Wagenknecht auf twitter, nach Tagesspiegel),

dann sollte man das als Einladung verstehen, sich über diese Interessen zu verständigen, so dass durch die gemeinsame Klugheit Fehleinschätzungen, wie sie Wagenknecht im Fall des Ukraine-Kriegs eingestehen muss, seltener werden.

Damit sei nichts gegen Emotionalität gesagt, aber alles gegen eine Reduktion der menschlichen Fähigkeiten darauf.

Zitierte Literatur

Hirschmann, Albert O. (1987): Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Sennett, Richard (1974/2000): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt am Main: Fischer.