Dieser Beitrag gehört zum Text über „Klassenanalyse bei Werner Seppmann“
Kapitalismus kann vielfältige Formen annehmen. Seit der Krise Mitte der 70er Jahre des 20.Jhd. begann die Phase des sog. „Neoliberalismus“. In ihm fand eine tiefgreifende „Neustrukturierung der Klassengesellschaft“ (Seppmann 2017: 28) statt.
„Traditionelle Gliederungsraster haben sich verändert, ohne dass die großen Konfrontationslinien verschwunden wären. Sie haben sogar an Profil gewonnen – aber vor dem Hintergrund einer stärkeren Differenzierung innerhalb der Hauptblöcke.“ (ebd.: 69)
Dementsprechend sind die „Prekarisierungs- und Verarmungsprozesse […] Ausdruck einer grundlegenden Veränderung der klassengesellschaftlichen Regulationsformen“ (ebd.: 150). Uwe Hück, ein Porsche- Gesamtbetriebsrat, meinte dazu, dass und die Globalisierung nur eins gebracht habe, nämlich „dass die Arbeitgeber sich nach den Gehältern der Amerikaner richten und die Arbeitnehmer sich nach denen der Chinesen. (nach isw-wirtschaftsinfo 37 (2005): 27) Bei der Privatisierung des Nahverkehrs in Münster sollten die Arbeitenden Lohneinbußen von ca. 35% hinnehmen. (Meyer 2004: 104) Im Gesundheitswesen entstand endgültig eine Zweiklassenmedizin: „Schwarzwaldklinik für die Reichen, Grundversorgung für die Armen. Die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft, wie es sie in Westdeutschland nur im Gesundheitswesen gab, wird als vermeintlicher Sozialballast entsorgt.“ (Gillen 2004a: 222)
In der herrschenden Klasse hat die Bedeutung des Finanzkapitals zugenommen. Der Grund dafür ist die Vergrößerung des Anteils des konstanten Kapitals (wie Maschinen) an den Gesamtinvestitionen, d.h. die für je einen Arbeitsplatz notwendigen Investitionen werden immer größer (ebd.: 69). Auf den Finanzmärkten haben die sog. „institutionellen Anleger“ an Bedeutung gewonnen; Manager der Aktienfonds kaufen Konzerne oder Anteile, um direkt Druck auf schnelle Profite auszuüben (ebd.). Zulieferer sind selbst immer mehr Opfer der Abhängigkeitsstrukturen und üben Druck gegen Lohn- und soziale Sicherungssysteme aus (ebd.: 73) („Lohnverzicht sichert Arbeitsplätze“). Das Kapital ist dabei nicht wirklich eine „anonyme Machtmaschine“, sondern wird durch Akteure gestaltet (ebd.: 74f.).
- Weltweit verfügen etwa zwei- bis dreitausend Personen über ein größeres Geldvermögen als die unteren vier Fünftel der Weltbevölkerung (ebd.:87).
- 12 4000 Personen verdienen in der BRD mehr als eine Million Euro pro Jahr, vorwiegend aus Kapitalvermögen (ebd., nach Berliner Zeitung vom 21.11. 2005).
Im Interesse dieser „Geldelite“ agiert eine „Funktionselite“ (Seppmann 2017: 87) – „Die konstitutive Kategorie für ihr Handeln ist die Durchschnittsprofitrate…“ (88). Hinter dem scheinbar ››objektive[n]‹‹ Zwang zur Rentabilität“ (145) steckt aber auch ein gehöriges Maß an Inszenierung und Ideologie. So äußerte sich 1993 der damalige BDI-Präsident Tyll Necker:
„Wir müssen die Krise jetzt nutzen, denn jetzt sind die Menschen reif“ (zitiert bei Seppmann 2017: 143)
Auch für die Menschen, die arbeiten, hat sich viel verändert, eine „gemeinsame Erfahrungsbasis und kollektive Konflikterlebnisse in der Arbeitswelt“ sind kaum noch vorhanden (Seppmann 2017: 15). Von großer Bedeutung für die objektive Klassenstruktur ist auch die Internationalisierung (ebd.: 17) -es muss deshalb von „Arbeiterklasse(n) im Plural gesprochen werden (ebd.:18), innerhalb einer „globale[n] Arbeiterklasse“ (ebd.: 46).
Die Arbeitsplätze sind oft isoliert, es gibt eine Trennung von „Privilegierten“ und Unterprivilegierten (ebd.: 16). Schon 1994 arbeiteten nur noch ca. 15-20% der Lohnarbeiter:innen in Hochlohnbereichen (ebd.: 30). Zusätzlich entstand ein “neues Proletariat“ (K.H. Roth), das „langfristig von Erwerbslosigkeit, von prekären Beschäftigungsverhältnissen, von ›zweiten‹ und ›dritten‹ Arbeitsmärkten und von abrupt auftretenden Armutsphasen geprägt“ ist“ (K.H. Roth, zit. in Seppmann 2017: S. 30). Kernbelegschaften wirken „als Stabilisierungselement“, die Ausgegrenzten dagegen „als Bedrohungspotenzial“ (ebd.: 31).
Deshalb gehen „Spaltungstendenzen […], mitten durch die Schichten der Arbeitskraftverkäufer selbst“ (29). Die Hauptspaltungslinie ist wohl die zwischen deutschen und den Menschen aus dem Ausland bzw. mit Migrationshintergrund: Mehmet sagt dazu: „Die Leute brauchen immer einen zum Draufhacken, egal ob Politiker, Arbeitgeber, normale Leute, sogar die Deppen, die ich beim Sozialamt getroffen habe. Die müssen immer noch jemanden drunter haben zum Hacken. Und das sind wir“ (zitiert in: Tuckermann 2004: 568).
Das sog. „Normalarbeitsverhältnis“ wurde für immer weniger Menschen normal. Leiharbeit nahm z.B. deutlich zu:

(isw-wirtschaftsreport 2012: 54)
Die dabei erlebte „Vereinzelung“ der Schicksale hat nichts mit der vielbeschworenen emanzipativen ››Individualisierungstendenz‹‹“ (Seppmann 2017: 16) zu tun. Gerade bei den Unterprivilegierten „werden identitätsstiftende Rechtsprinzipien wie freie Berufswahl, die Koalitionsfreiheit (Recht zur gewerkschaftlichen Interessenvertretung) und territoriale Freizügigkeit in dereun diversen ››Arbeitsmarkt‹‹-Konzepten zur Disposition gestellt“ (ebd.: 38). Aber auch für die „Mitte“ verändern sich die Lebensbedingungen durch geringe Löhne und vermehrte Prekarität (ebd.: 93).
Aufgrund der Möglichkeiten der Produktivkraftentwicklung werden letztlich „nur noch die leistungsfähigsten Teile der Bevölkerung für die Mehrwerterzeugung benötigt“ (ebd.: 11). „Die Kernbelegschaften werden dabei auf die Leistungsfähigsten reduziert, die Überzähligen an den Rand, in eine Zone der Unsicherheit gedrängt.“ (ebd.: 29), das betrifft auch Mittelschicht mit ihren Qualifikationen (Journalisten, Wissenschaftler, Grafiker, Computerspezialisten). In einer Wahlforschungsanalyse wird festgestellt: „Inhaltlich bedeutsam ist die starke Abnahme der deutschen Wahlberechtigten, die sich für ausreichend sozial gesichert halten. Waren es 1984 in der alten Bundesrepublik noch etwa 80 Prozent, fiel dieser Prozentsatz 2004 auf 61 Prozent in Bayern, auf 62 Prozent in Westdeutschland und blieb in Ostdeutschland auf dem niedrigen Niveau von etwas mehr als der Hälfte der Wahlberechtigten.“ (Pappi 2011: 18) Dies zeigt die folgende Abbildung (ebd.: 19):
Es gibt auch wieder verstärkt standardisierte und reglementierende Arbeitsformen (Seppmann 2017: 25). Dass der schon einmal erkämpfte soziale Schutz abgebaut wurde (ebd.: 29) charakterisierte Robert Castel als „Wiederkunft der massenhaften Verwundbarkeit“ (ebd.: 29). Der Informationsdienst der deutschen Wirtschaft jubelte darüber: „Die Regierung Schröder/Fischer setzte schließlich die „Hartz-Kommission“ ein, und die machte zahlreiche Vorschläge, wie man mehr Menschen in Lohn und Brot bringt. Unter anderem wurden Leistungen gekürzt, denn für viele Arbeitslose war es bis dahin attraktiver, zu Hause zu bleiben, als einen schlechter bezahlen Job anzunehmen.“ (iwd 2012) Auch Andrea Nahles offenbarte den Zweck der Hartz-IV-Reformen: „Wir wollen die Leistungsbereitschaft der Menschen nicht durch karikative Transferlogiken einschläfern“ (Andrea Nahles 2007, zit. Seppmann 2017: 147) Damit wurde die Armut nicht abgeschafft, aber Arme bekämpft und Niedriglohnsektor sowie Prekarität bestärkt. Dass trotzdem die Zahlen „der Empfänger/-innen laufender Hilfe zum Lebensunterhalt“ massiv gestiegen sind, zeigt die Brisanz des Umbruchs in der Klassenstruktur (Bundesregierung 2005: 59):
Die Bundesregierung hat auch einen „kontinuierliche[n] Anstieg der Armutsrisikoquoten von 1983 bis 1998 festgestellt.“ (Bundesregierung 2005: 19). Dass die „Unsicherheit universal geworden“ (Seppmann 2017: 96) ist, entschärft den Klassenantagonismus aber nicht, sondern: „die Zunahme und die Zuspitzung der sozialen Risiken ist Ausdruck einer ungefilterten Durchsetzung des bürgerlichen Klasseninteresses der Kapitalverwertung“ (ebd.: 97). Über den Klassencharakter der Strategie haben Kapitalisten klare Vorstellungen:
„Es herrscht Klassenkampf, und meine Klassen gewinnt“ (Warren Buffet)
In der neoliberalen Phase des Kapitalismus verschwinden die traditionelle Mittelklassen („Kleinbürgertum“) nicht, wie Marx noch im Kommunistischen Manifest angenommen hatte (MEW 4: 499, bei Seppmann 2017: 94), allerdings werden sie auch nicht mächtiger und ihre Rolle verändert sich; viele werden an den sozialen Rand gedrängt. 1995 galten 11,5% der Bevölkerung als arm (d.h. ihr Einkommen liegt unter 50% des Durchschnittseinkommens) und weitere 10,15 gelten als „relativ arm“ (mit einem Einkommen unterhalb von 60% des Durchschnittseinkommens (ebd.: 19). Das Ansteigen der Armutsrisikoquote zeigt auch folgende Abbildung aus dem 5. Armuts- und Reichtumsbericht[1]:
Dazu gehört auch folgende Dynamik: „…für Personen aus den unteren sozialen Lagen sind die Aufstiegschancen seit den 1980er Jahren kontinuierlich gesunken. Im Fall der Zugehörigkeit zu der im Forschungsvorhaben als „Armut“ bezeichneten Lage ist die Wahrscheinlichkeit, ihr auch in der nächsten Fünfjahresperiode noch anzugehören, seit Ende der 1980er Jahre von 40 Prozent auf 70 Prozent angestiegen.“ (Bundesregierung 2021: XX)
Um die Jahrtausendwende herum ist jeder dritte Haushalt innerhalb von 8 Jahren wenigstens zeitweilig unter die Armutsgrenze gerutscht (Seppmann 2017: 20), d.h. es entstand eine breite „Zone der Gefährdung“. Dabei besitzt das obere Zehntel der Bevölkerung besitzt fast die Hälfte und das oberste Prozent 25% der Vermögenswerte (ebd.: 43).
Die Verdienst-Kluft zwischen den Hauptklassen zeigt die folgende Abbildung:

(isw-wirtschaftsinfo 43 (2010): 16)
In einem „Brief an eine ostdeutsche Freundin“ berichtet Gabriele Gillen von der kapitalistischen Normalität: „Um es überhaupt zu schaffen, braucht es Bildung und Schnelligkeit, braucht es die Fähigkeit, sich zu organisieren. Wer das nicht hat, nicht mitbekommen hat, gehört mit Sicherheit zu den Verlieren. Bleibt arm. Bleibt unten. Die individualisierte Informationsgesellschaft […] ist längst wieder eine gnadenlose Klassengesellschaft: unten und oben, arm und reich, Verlierer- oder Siegerausdünstung; die die ihre Arbeitskraft verkaufen, und die, die Aktion besitzen.“ (Gillen 2004b: 348-349)
Geld allein sagt noch nicht alles aus über die Klassenstruktur. Wenn es um das Wesen der Kapitalist:innen als private Produktionsmitteleigentümer geht, dann ist zu betonen, dass nur 2% aller Menschen Produktionsmittel besitzen (Seppmann 2017: 43). Und, nicht nur nebenbei: „Männer besitzen weltweit 99 Prozent des Eigentums“ (Gillen 2004b: 350). Für die Bundesrepublik kam auch die Auflösung der DDR zur rechten Zeit. „Mit der Abwicklung der schwerfällig und nicht mehr effektiv arbeitenden Staatsbetriebe der DDR schien die Zeit günstig, auch im Westen ››mehr Markt und weniger Staat‹‹ zu schaffen.“ (Meyer 2004: 115) Die sog. „nachholende Modernisierung“ war gleich eine „vorauseilende neoliberale Umgestaltungsoffensive“ (Seppmann 2017: 118) und damit ein „Experimentierfeld hinsichtlich der Zerschlagung und Privatisierung von Gemeineigentum“ und auch „zur Erprobung einer gespaltenen Sozialentwicklung“ (ebd.: 118-119).
[1] Im 6. Bericht wird diese Abbildung erst ab dem Jahr 2000 gezeigt, so dass der Verlauf dann keine Veränderungen mehr anzeigt. In der hier verwendeten Abbildung ist nicht erkennbar, dass der Verlauf nach 2014 keine Steigung mehr anzeigt. Kritisch zu diesen Berichten siehe z.B. die Böckler-Stiftung. (Smith Ochoa, Yildiz 2019).
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