Dieser Beitrag gehört zum Text über „Klassenanalyse bei Werner Seppmann“


Klassenlage

Aus der Struktur der gesellschaftlichen Verhältnisse ergibt sich für Individuen ihre Klassenlage. Diese ist objektiv als ihre Stellung zu den Produktionsmitteln bestimmt (Seppmann 2017: 45)[1] und zeigt sich auch sich auch in den) Lebensverhältnissen, die noch mehr umfassen (ebd.: 147). Die Klassenlage der Lohnabhängigen ist davon bestimmt, nicht im ausreichenden Maß eigene Subsistenz- und Produktionsmittel zu besitzen, um ihr Leben daraus zu bestreiten. Sie müssen deshalb ihre Arbeitskraft an Akteure jener Klasse, die diese Produktionsmittel ,besitzt verkaufen. Sie werden dabei 1. ausgebeutet und 2. bestimmen die Produktionsmittelbesitzenden letztlich über den Zweck der Produktion. Letztere tun dies nicht frei entsprechend ihrer Willkür, sondern sind daran gebunden, die Durchschnittsprofitrate ihrer Branche zu erreichen und zu übertreffen, so dass die Profitmacherei systemisch erzwungen ist. Interessengegensätze ergeben sich schon aus dem Kampf um den Anteil am erzeugten Mehrwert, aber auch mehr und mehr an der im Kapitalismus erzwungenen Orientierung an Wachstum von Profit, Produktion und Naturzerstörung, die gegen die Interessen letztlich aller Menschen ist.

Daraus ergibt sich, was Marx schon feststellte: „Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschafften. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst.“ (MEW 4: 181). Marx führt den später oft verwendeten Unterschied von „Klasse an sich“ (nur der objektiven Lage nach) und „Klasse für sich“ (mit Selbstbewusstsein) nicht explizit ein; Jürgen Ritsert sieht die Schwelle des Übergang zur Klasse für sich, wenn „irgendein Gespür für soziale Ungerechtigkeit“ sich abzeichnet (Ritsert 1998: 69) (siehe hier weiter im Abschnitt zu Klassen-Bewusstsein).

Wichtig ist es hier zu verstehen, dass mit der Klassenlage der wirkliche lebendige und denkende Mensch nicht in seiner Vollständigkeit bestimmt wird. Marx unterscheidet das „persönliche Individuum“ vom „Klassenindividuum“ (MEW 3: 76).

Aus der Schilderung der Veränderung der Klassenstruktur im „neoliberalen“ Kapitalismus kann sicher verallgemeinernd festgestellt werden, dass für die Klassenlage der Lohnarbeitenden die Unsicherheit „universal geworden“ ist (Seppmann 2017: 96). „Soziale Unsicherheit und existenzielle Bedrohung sind mittlerweile weit in die Bereiche der ››Normalität‹‹ gedrungen.“ (ebd.: 20) Insgesamt haben fast die Hälfte der Personen in mittlerer Lage und ein Drittel der Personen in gehobener Lage Befürchtungen, vom sozialen Abstieg gefährdet zu sein (ebd.: 136).

Dabei stellen laut Seppmann die Prekarisierten (von „precarius“ = unsicher, heikel) kein eigenständiges Klassensegment dar, das nur zu den anderen hinzugekommen wäre (ebd.: 32). Es ist eher ein fließender Übergang: „Mit wachsender Entfernung von der ››Spitze‹‹ nehmen die vielfältigen Formen prekärer Beschäftigung zu, im unteren Drittel des Gesellschaftsgefüges werden sie zur ››Normalität‹‹“ (ebd.: 97). Zum sog. „abgehängte[n] Prekariat“ gehören im Westen 4-5% der Menschen, im Osten 20-25% (ebd.: 122). Innerhalb der „Prekariats-Kategorie“ lassen sich die beruflich Minderqualifizierte und die sozialen Absteiger unterscheiden (ebd.: 135).

Der Begriff Armut zieht häufiger in die Debatten ein, weil die Armutsquote weiter steigt. Armut entsteht einerseits natürlich bei Arbeitslosigkeit, aber auch durch die Niedriglohn-Arbeit (ebd.: 48). Sogar wenn die Arbeitslosigkeit sinkt, steigt die Armutsquote:

Die Armutsgefährdung stieg schon um die 2000er-Jahre deutlich an:

Und wer glaubt, das Abfallen der Kurve von 2005 bis 2006 zeige eine Trendwende an, sei enttäuscht. Mit einer etwas anderen Berechnung des Prozentwerts geht die Kurve so weiter:

(Statistica 2022, Darstellung leicht verändert)

Bei einem Bericht von Sebastian Bähr über seine Familie nehmen diese Diagramme menschliche Gestalt an: „Wenn ich meinen Vater sehe, dann sehe ich nicht nur, aber auch drei Jahrzehnte kapitalistische Zurichtung und Disziplinierung. Die vor allem über die Verbreitung von Angst funktionierende Gewalt, die ihm angetan wurde und wird, lässt sich wie ein roter Faden in die Vergangenheit zurückverfolgen.“ (Bähr 2021) Auch der zweite Bericht zu den Lebenslagen in Deutschland der Bundesregierung von 2005 konstatiert: „Bereits im 1. Armuts- und Reichtumsbericht wurde ein kontinuierlicher Anstieg der Armutsrisikoquoten von 1983 bis 1998 festgestellt. Dieser Trend hat sich fortgesetzt…“ (Bundesregierung 2005: 19).

Die folgende Abbildung über die zwei auseinanderklaffenden Verdienstwelten zeigt die „Verfestigung der Ungleichheit“ (Seppmann 2017: 28) an.

Von Norbert Blüm und auch Hubertus Heil wurde versichert, dass die „Renten sicher“ seien. Ja, irgendwelche Rente gibt’s schon, aber erstens sinkt das Rentenniveau, gemessen am durchschnittlichen Einkommen:

Und zweitens sank ja auch das durchschnittliche Einkommen bei Niedriglohn und Prekarität für immer mehr Menschen, die jetzt und in Zukunft ins Rentenalter eintreten.[2]


[1] vgl.: Klassenlagen = „Stellungen im Reproduktionsprozess“ (Ritsert 1998: 76)

[2] Ich muss oft daran denken, dass ich bei einer Verhinderung der Erhöhung des Rentenalters schon seit über einem Jahr meine Rente haben könnte, während ich nun in wenigen Monaten wieder mal zum Arbeitsamt muss. Wenn man den Leuten in der DDR gesagt hätte: Der Sozialismus kann ökonomisch gerettet werden, wenn Ihr 7 Jahre später in Rente geht – was wäre das für ein Aufstand gewesen!


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