Dieser Beitrag gehört zum Text über „Klassenanalyse bei Werner Seppmann“


Klasseninteressen

Der Begriff der Interessen ist ein Vermittlungsbegriff, der die Brücke vom Objektiven ins Subjektive schlägt. Jürgen Ritsert fasst den „Zusammenhang zwischen den allgemeinen gesellschaftlichen Strukturen und Tendenzen, besonderen Institutionen (institutionellen Mechanismen) bis hin zu einzelnen Lebensäußerungen der Individuen“ mit dem Vermittlungsbegriff „Interesse“ (Ritsert 1998: 77).Ich verwende auch in meinem Text über diesen Begriff (Schlemm 2021) die Bestimmung des Interesses als „als Konkretisierung der Bedürfnisse im Kontext des komplexen gesellschaftlichen Hintergrunds“ (Auer 2010: 16, kursiv AS). Es geht darum, wie je individuelle Bedürfnisse sich in gemeinsamem Handeln zusammenfügen, in welcher gemeinsamen Form als bloß der Summe der Bedürfnisse sie den Menschen auch bewusst werden können. Ich habe ein Bedürfnis, gut zu wohnen – und deshalb ein Interesse an Wohnungsbau in der Gesellschaft. Ich habe ganz persönlich das Bedürfnis, mich viel in der Natur zu bewegen – deshalb habe ich ein Interesse, dass die wirtschaftlichen Tätigkeiten die Natur nicht zerstören. Da besteht immer ein Unterschied zwischen Bedürfnis und Interesse. Politisch wird nicht bloß für eine Summe der Bedürfnisse gekämpft, sondern für gemeinsame Interessen.

Aus der unterschiedlichen, ja sogar gegensätzlichen Klassenlage der Menschen in Klassengesellschaften ergeben sich auch unterschiedliche bis gegensätzliche Interessen. Das bezieht sich derzeit auf die Aneignung des Mehrprodukts bzw. Mehrwerts und 2. auf die Festlegung des Zwecks der Produktion. Die Herrschenden sind es, die darüber bestimmen, auch wenn das politische System sich als „demokratisch“ bezeichnet. Das zeigt sich im Kapitalismus daran, dass nicht die Menschen in selbstorganisierten Aushandlungen entscheiden, was wofür investiert wird. Die Frage ist immer, wer mit welchen Machtmitteln welche Interessen durchsetzen kann. Solange die leibliche Reproduktion nicht für alle gesichert ist, liegt eine Erpressbarkeit der einen, die nichts weiter zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft, zugunsten derer, die im Besitz der entscheidenden Produktionsmittel sind, vor. Daraus ergeben sich aber nicht automatisch die jeweiligen Interessen. Werner Seppmann verweist auf Marx, der auch schon erkannt hat, dass ökonomische Gesetzmäßigkeiten zwar nicht ignoriert werden können, sie jedoch keine Zwangsläufigkeitscharakter haben (Seppmann 2017: 101).

Unübersehbar und auch von ihren Akteuren offen ausgesprochen bestanden die Interessen der Kapitalakteure zu Beginn und im Verlauf der neoliberalen Regulation in der Intensivierung der Ausbeutung und einer Zurückführung der Lohnquote (ebd.: 23). Dabei entsteht eine Abkopplung der Lohnsteigerung von Produktivitätszuwächsen (isw-wirtschaftsinfo 46, S. 5):

Strategisch war es dazu notwendig, einerseits die Produktivität zu erhöhen, aber andererseits auch die Widerstandsfähigkeit der Belegschaften zu schwächen (Seppmann 2017: 24). Das wurde von den Herrschenden auch bewusst gestaltet (siehe das schon verwendete Warren-Buffet-Zitat: „Es herrscht Klassenkampf, und meine Klassen gewinnt“ (Warren Buffet)). Der damalige VW-Vorstandsvorsitzender Pischetsrieder sagte: „Wer bei uns neu anfängt, tut dies zu anderen Konditionen, als vor zehn Jahren“ (Spiegel 31/2004). Und sie hatten Erfolg damit. Das Sozialprodukt hat sich seit Anfang der 70er Jahre verdoppelt (Seppmann 2017: 99) (die Umweltzerstörung mindestens ebenso). Gleichzeitig sanken die Unternehmenssteuern:

Und entsprechend stiegen die Staatsschulden… (Das Bild spare ich uns).

All diese Strategien der Durchsetzung von Kapitalinteressen waren vor allem deshalb erfolgreich, weil Unsicherheit, Angst und damit „Einschüchterung als Disziplinierungsinstrument“ (Seppmann 2017: 12) verwendet werden konnten. (Es gibt einen eindrücklichen Bericht über den sozialen Abstieg „in die vierte Liga“ in Spiegel 21/2004.) Und nicht zufällig wurden Rationalisierungen in einer Art und Weise vorgenommen, dass sie zu Spaltungen in der Arbeiterklasse führt (Seppmann 2017: 24).

Marx hatte erwartet, dass der Fortschritt der Industrie die Konkurrenz unter den Arbeitern aufhebt und zu ihrer revolutionären Vereinigung führt (MEW 4: 473f.). Für die fordistische Phase des Kapitalismus kann das noch angenommen werden, allerdings hatte – wie ich bereits erwähnte – bereits Engels eine Spaltung zwischen britischen und irischen Arbeitskräften festgestellt. In der neoliberalen Phase des Kapitalismus verschärfen sich die globalen und auch die innernational wirkenden neuen Spaltungen. Die Disziplinierung durch das Gefühl sozialer Unsicherheit (vgl. Seppmann 2017: 64) funktioniert weitgehend. Außerdem gibt es neue Formen der Einbeziehung der Arbeitenden in die innerkapitalistische Konkurrenz. Es wurden Methoden der „Steuerung der Beschäftigten […] durch die Inszenierung einer möglichst unmittelbaren Konfrontation mit dem ››Druck des Marktes‹‹“ (Glißmann 1999, zitiert in Seppmann 2017: 64) erfunden. Von meiner eigenen Erfahrung spricht auch der zitierte Satz: „Irgendwie tue ich nie genug“. Und: „Wer sich abkoppelt, wird isoliert. Wer sich mitdreht, läuft Gefahr allmählich auszubrennen“ (Schmidt 2004: 58). All dies sind Faktoren, die dem unmittelbaren Ausdruck der Klasseninteressen der Arbeitenden entgegenstehen, die das Objektive daran einerseits durch seine Wirkung bestätigt, aber andererseits den Weg weniger ins individuelle Bewusstsein findet.


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