Dieser Beitrag gehört zum Text über „Klassenanalyse bei Werner Seppmann“


Insofern eine Klasse von ihrer Lage her eine „Klasse gegenüber dem Kapital“ (MEW 4: 181) ist, sich also durch den Nichtbesitz an Produktionsmitteln kennzeichnen lässt, kann sie als „Klasse an sich“ (Burzan 2004: 17) bezeichnet werden. Sie kann dann zu einer „Klasse für sich selbst“ (ebd.) werden, wenn sie ein Klassenbewusstsein und entsprechende Handlungsweisen ausbildet.

Damit endete das vorige Kapitel. Wichtig ist hier die Verwendung des Modalverbs „kann“. Wenn, wie sich im vorigen Jahrhundert gezeigt hat, die Arbeiterklasse nicht die von vielen erwartete Handlungsweise zur Erfüllung ihrer „historischen Mission“ (revolutionäre Abschaffung des Kapitalismus) erfüllt hat, kann das daran liegen, dass diese Zielerwartung falsch war, dass es gar keine Arbeiterklasse (mehr) gibt oder dass sie eben diese mit dem „kann“ ausgesprochene Möglichkeit nicht ergriffen hat. Im letzten Fall stellt sich die Frage: Warum? Dies macht Werner Seppmann. Weiter fragt er nach den Bedingungen dafür, dass sich das ändern kann.

Seppmann verweist für diese Prozesse der Vermittlung zwischen Objektivem und Subjektivem auf weitere Autor:innen der historisch-materiellen Subjektwissenschaft wie Hartmut Krauss und die „Holzkampschule“ (81)[1]. Dabei gilt: „… das historisch materialistische Konzept geht davon aus, dass es sich bei der Herausbildung des Klassenbewusstseins um einen politischen und keinen spontan-mechanistischen Prozess handelt“ (Seppmann 2017: 35). Deshalb thematisiert er weitere Vermittlungsprozesse, die mit den eben erwähnten zu tun haben, aber noch inhaltlich zu erweitern sind. Klassenbewusstsein „hängt von sehr unterschiedlichen Vermittlungsstufen, von ideologischen Einflüssen, Widerstandserfahrungen, kulturellen Traditionen – und natürlich vom politischen Kontext ab“ (ebd.: 36). Daraus ergibt sich als Frage an die Klassentheorie, „unter welchen Voraussetzungen sich widerständige Haltungen entwickeln und festigen können“ (ebd.: 37)[2]. Das dies nicht einfach ist, zeigen viele Berichte, z.B. von Sebastian Bähr: „Ich empfand als Jugendlicher die Zustände als ungerecht, aber nahm sie wie meine Eltern weitestgehend hin. Dafür gibt es einen Trick: Meinem Vater und meiner Mutter wurde permanent vermittelt, dass ihre Jobs nicht sicher seien – ihre Arbeitsverhältnisse waren sozusagen eine Gnade, und ihre Gewährung könnte jederzeit zurückgenommen werden.“ (Bähr 2021) Schon bei der persönlichen Identitätsbildung wird der wirklichen Klassenlage ausgewichen: „Mein Vater sieht sich nicht als Arbeiter. Meine Eltern bestehen darauf, dass sie zum Mittelstand gehören. Die kapitalistische Ideologie hat es geschafft, dass für viele aus ihrem Milieu »Arbeiter« gleichbedeutend mit »ungebildetem Verlierer« steht“ (ebd.).

Werner Seppmann entnimmt den Klassenanalysen ebenfalls, „dass den meisten Angehörigen der gesellschaftlichen Unterklassen ein Bewusstsein ihrer sozialen Position fehlt“ (Seppmann 2017: 35). Ein kleiner Hoffnungsschimmer scheint im Aufgreifen von Ergebnissen soziologischer Studien von 1957 und 2006 aufzuscheinen. Demnach sei das Gesellschaftsbild der arbeitenden Klasse durchaus noch „››dichotomisch‹‹, d.h. die Klassenblöcke werden als durch einen unüberwindlichen Abgrund getrennt begriffen“ (Seppmann 2017: 17). Der Erfolg der neoliberalen Ideologien kann die „unmittelbare lebensweltliche Widerspruchserfahrung“ (ebd.: 86) nicht völlig überschreiben.

Gerade die Unterprivilegierten legen allerdings „großen Wert darauf, nicht mit denen ››ganz unten‹‹ in einen Topf geworfen zu werden“ (ebd.: 130-131). Sie haben deshalb eine hohe Bereitschaft, „zur Stabilisierung der eigenen Identität, sich von vermeintlich Schwächeren, durch deren Abwertung abzugrenzen“ (ebd.: 131). Wohl auch deshalb waren zwei Drittel der Befragten in der Bundesrepublik zu Mitte der 90er Jahre der Meinung, „dass der Unterschied zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen wichtiger war als die Differenz zwischen Armen und Reichen“ (ebd.: 34).

Gerade in der neoliberalen Phase der kapitalistischen Entwicklung erhöhen sich die psychischen Belastungen rapide. Neben Stress und materieller Zurücksetzung liegt häufig auch eine „geistige Verengung und emotionale Verarmung“ (ebd.: 131) vor: „Der psychische Lebensraum schrumpft zusammen, ein prinzipiell aneignendes Realitätsverhältnis wird von hinnehmenden Haltungen überlagert“ (ebd.: 133). Teilt man ein Verständnis vom Menschen, für das ein tätiges, kreatives und auf Entfaltung orientiertes Leben wesentlich ist, so wird den aus dem Produktionsprozessen ausgeschlossenen, oder einseitig eingeschlossenen Menschen „ein tätiges Weltverhältnis verwehrt“ (ebd.: 132). Sie bilden kaum noch optimistische Zukunftserwartungen aus (ebd.: 134). Dabei hat sich inzwischen auch „der Eindruck einer gesellschaftspolitischen Alternativlosigkeit verallgemeinert“ (ebd.: 148).[3] Das ist nicht mit einer aktiven Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Schon Ende der 90er Jahre waren 71 Prozent der Bevölkerung überzeugt, dass die soziale Gerechtigkeit in den letzten Jahren abgenommen hat (nach FAZ, zit. bei Seppmann 2017: 36). Die jeweils herrschende Politik erfährt einen rasanten politischen Legitimationsverlust (ebd.). Die Neoliberalisierung hat die Demokratie deutlich beschädigt: „Denn Marktmechanismen sind vom Prinzip her undemokratisch: Das Stimmrecht bemißt sich nach der Höhe des Besitzes, die Habenichtse sind ausgeschlossen“ (Meyer 2004: 117). 2002 beklagten 57,1% der Menschen und 2005 66,3% der Menschen ihre politische und gesellschaftliche Machtlosigkeit (zit. in Seppmann 2017: 12); die zitierte Studie trägt den Titel: „Soziale Abstiegsängste fördern feindselige Mentalitäten“.

Zwar gibt es insbesondere im Osten eine „habituelle Widerständigkeit“ (Seppmann 2017: 120), aber es entstehen „selbstständig keine widerständigen Orientierungen“ ohne eine „regressive Grundtendenz“ (ebd.: 134). Es öffnet sich „eher ein Entfaltungsraum für irrationale Denkmuster und Reaktionsformen, als für progressive Orientierungen“ (ebd.: 135). Seit 2015 ist das mit Pegida, AfD usw. nicht mehr zu übersehen…  

Nach dem Ende der DDR hatten zwar viele Menschen Hoffnungen auf „blühende Landschaften“ (Kohl, siehe Wiegrefe 2018), aber die ersten demütigenden Gänge zum Arbeitsamt, die unzähligen erfolglosen Bewerbungen[4], der Verlust der sozialen Sicherheit, das Getroffenwerden von den Ellbogen der jeweils anderen führte dann auch zur Erfahrung: „Unser Selbstbewußtsein ist zerdroschen worden“ (zit. in Dahn 2004b: 238). Sebastian Bähr berichtet von den Folgen: „Die Leute waren damals froh, »wenn sie was hatten«, und machten keinen Ärger. Ihnen wurde von oben eingebläut, dankbar zu sein. Den anderen gehe es ja noch schlechter“ (Bähr 2021). Die Menschen des sog. „abgehängten Prekariats“, die im Westen 4-5%, im Osten 20-25% der Menschen stellen (Seppmann: 2017: 122), „haben sich aufgegeben, weil ihre Hoffnungen auf eine feste und zukunftssichere Erwerbsarbeit immer wieder enttäuscht wurden“ (ebd.: 125).

Zur Spezifik der früheren DDR-Gebiete zählt seither, dass die Rekonstruktion einer Mittelklasse in den Anfängen stecken geblieben ist (ebd.: 117) und sich noch zu Anfang des neuen Jahrhunderts 50% der Menschen zur Arbeiterklasse (ebd.: 120) zählten.[5]

Die Kräfteverhältnisse auf der durch vieles verdeckten Klassenebene sind ohne entsprechendes Wissen nicht einfach zu durchschauen. „Es ist ein ernstes Problem, dass die meisten Menschen die Konflikte so sehen, wie sie sich ihnen auf den ersten Blick darstellen.“ (Seppmann 2017: 34) Das bloße Alltagsbewusstsein ist „eine selbstunterdrückende Verarbeitungsform, die aus einer Kombination von organisatorischer Zersplitterung, lähmenden Bedrohungserfahrungen und den daraus resultierenden Ängsten resultiert“ (ebd.). Die soziale Randständigkeit und Unterprivilegiertheit wird als Ausdruck des eigenen Versagens empfunden (ebd.: 37)[6]; dies ist auch das Ergebnis einer bewussten Strategie der anderen Klassenseite insb. im Neoliberalismus: Nicht die Armut wird bekämpft, sondern die Armen. Das Nichthinterfragen der systemischen Bedingungen, für die ein gedankliches Durchdringen der Verhältnisse nötig wäre, befestigt den objektiven „Schein“, hinter dem das „wahre Verhältnis“ „verborgen“ ist (MEW 23: 98), womit Marx das Klassenverhältnis meint. Dass dieser Schein entsteht, ist objektiv im kapitalistischen Gesellschaftsverhältnis angelegt, in der Widerspiegelung dieses Scheins entstehen „gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise, der Warenproduktion“ (MEW 23: 90). Deshalb kann auch nicht erwartet werden, dass sich die Produktionsverhältnisse und die Lage der Menschen innerhalb der Klassenstruktur „spontan-mechanistisch“ im Bewusstsein der Menschen abbilden können, sondern, wie Seppmann schreibt, einen politischen Erkenntnisprozess benötigt. Es ist ein „Effekt klassengesellschaftlicher Verhältnisse selbst“, dass die „Fähigkeit, in Klassenkategorien denken zu können“, so eine „unterentwickelte Fähigkeit“ ist (Seppmann 2017: 34). Mit dieser Sichtweise wird die Forderung von Adorno erfüllt, auch das „Nichtzustandekommen des Klassenbewusstseins“ müsse „aus den objektiven Gesetzen der Gesellschaft, aus der Wesensgesetzlichkeit der Gesellschaft abzuleiten“ sein (Adorno 1968/2003: 44-45)[7].

Man kann viele Faktoren verstehen, die das Entstehen von Klassenbewusstsein bremsen. So ist  „trotz der Zunahme des Klassenkampfes von oben […] den Betroffenen die faktische Gemeinsamkeit ihrer sozialen Lage und ihrer Interessen nur noch selten unmittelbar erfahrbar“ (Seppmann 2017: 98). Politische Gegenbildung gibt es so gut wie nicht mehr, junge Leute haben sich vielfach, da sie nichts anderes mehr als die Krise kennen, damit arrangiert (ebd.: 95). [8] Während noch in der fordistischen Phase des Kapitalismus damit gerechnet werden konnte, „dass alle gesellschaftlichen Gruppen ihren Anteil an der gesellschaftlichen Wohlstandsmehrung erhalten würden“ (ebd.: 21), veränderte sich das spätestens in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Es wurde deutlich, dass die jüngeren nicht mehr Rente bekommen würden, dass sie nicht besser leben würden als ihre Eltern, das ein „Normal-Arbeitsleben“ für die meisten nicht zu erwarten ist. Das verringert das Anspruchsdenken; aus Angst vor der Arbeitslosigkeit würden es 79 Prozent der abhängig Beschäftigten in der BRD akzeptieren, unbezahlt länger zu arbeiten (nach Spiegel 2004, zit. S. 68).

Die Aussichten sind also wirklich nicht gut. Man kann die Gründe für die desaströse Bewusstseinslage durchaus in den konkreten gesellschaftlichen Bedingungen sehen (wenn auch nicht direkt mechanistisch ableiten). Aussichten auf Besserung kann Werner Seppmann noch nicht zeigen.[9] Auch ideologisch gilt: „Es herrscht Klassenkampf, und meine Klassen gewinnt“ (Warren Buffet).


[1]  Dass man dem Marxismus abspricht, dies bearbeiten zu können, liegt Seppmann zufolge an „einer erschreckenden Uninformiertheit“ (ebd.: 82).

[2] Der 3. Band seiner „Klassenanalysen“ sollte sich dem Thema „Krise und Widerstand“ widmen.

[3] Die Hoffnung richtet sich eher auf eine Wiederkehr des „Prosperitätskapitalismus“ – möglichst nun doch „grün und nachhaltig“ – was eine Umorientierung hin zu nichtkapitalistischen Lebens- und Wirtschaftsformen oft blockiert.

[4] Obgleich ja sehr viele Berichte aus der DDR vom ständigen Zwang zu lügen (mit „doppelter Zunge“) erzählen, musste ich das Lügen (warum ich unbedingt in dieser oder jener Arbeitsstelle arbeiten wolle) erst nach 1990 lernen.

[5] Dabei ist jedoch eine Veränderungsdynamik zu beobachten: „Identifizierten sich dort in den 90er-Jahren erst 39 Prozent mit der Mittelschicht, sind es eine Dekade später 45 Prozent, was vor allem auf Kosten der Arbeiterschicht geht, die von 55 auf 47 Prozent abnahm“ (Pappi 2011: 13).

[6] Das ist auch der wesentliche Unterschied zur DDR: Damals wurde alles dem „(sozialistischen) System“ angelastet (AS)

[7] Dabei geht es nicht nur um die Wirkung von bürgerlicher Ideologie (die hier nicht weiter diskutiert wird), sondern auch das nicht hinterfragte Hinnehmen des „objektiven Scheins“, das auf dem Weg zu einem der Klassenlage entsprechenden Bewusstsein durchbrochen werden muss.

[8] Hier gilt wohl auch das Prinzip der „shifting baselines“: Die Definition, was als „normal“ angesehen wird, verschiebt sich bei (ausreichend langsamen) Veränderungen und Situationen, die objektiver als „schlechter“ zu bewerten wären, werden hingenommen, wenn sich die Veränderung nur langsam genug vollzieht.

[9] Im 2. Band seiner „Klassenanalysen“ geht Seppmann in einem Kapitel auf „Konflikterfahrung und Klassenbewusstsein“ und weitere damit verbundene Fragen ein (nach dem mir vorliegenden Manuskript) und der 3. Band sollte sich ganz dem Zusammenhang von „Krise und Widerstand“ widmen.


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