Dieser Beitrag gehört zum Text über „Klassenanalyse bei Werner Seppmann“


Der Weg von der Klassenstruktur über das Klassenbewusstsein hin zu Klassenpolitik ist weit und vermittelt. „Aus der ökonomischen Strukturierung und den daraus resultierenden objektiven Widerspruchstendenzen lässt sich kein automatisches Klassenhandeln ableiten.“ (Seppmann 2017: 13) Marx erklärt, dass die Bezeichnung „Klasse“ letztlich aber an das klassengemäße Handeln gebunden ist: „Die einzelnen Individuen bilden nur insofern eine Klasse, als sie einen gemeinsamen Kampf gegen eine andere Klasse zu führen haben…“ (MEW 3: 54). Für die Kapital-Klasse ist das klassengemäße Handeln unübersehbar: „Es herrscht Klassenkampf, und meine Klassen gewinnt“ (Warren Buffet). Aber auch die Kämpfe der Lohnabhängigen kann nur übersehen, wer bewusst wegschaut. Beverly Silver untersuchte die im globalen Maßstab sichtbaren Zyklen von Arbeitskämpfen (zwischen 1870 und 1996) ausführlich (Silver 2005[1]). Die von ihr untersuchten „Arbeiterunruhen“ beziehen sich eher nicht auf Lohnkämpfe, es geht um „Handlungen von Menschen, die dagegen Widerstand leisten oder darauf reagieren, dass sie als Ware behandelt werden“ (Silver 2005: 226, fett von A.S.).

Werner Seppmann betont vor allem die Vielschichtigkeit der Vermittlungsprozesse zwischen objektivem Klassengegensatz und Klassenhandeln: „Der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ist zwar ein objektiv gegebener, die Entwicklung der Arbeiterklasse zu einer handlungsfähigen politischen Kraft jedoch ein anspruchsvoller und vielschichtiger Prozess: Objektive Interessen müssen subjektiv erfahrbar gemacht werden und in umfassende Handlungskonzepte einfließen“ (Seppmann 2017: 18). Das Wahlverhalten der meisten Menschen korrespondiert jedenfalls nicht mit ihrem Lebensstil, sondern mit ihrer soziostrukturellen Verankerung und der damit verbundenen Interessenlage (ebd.: 79) (siehe dazu auch Rothenbacher 2005). Einkommen oder Erwerbsstatus wirken sich nicht direkt auf Parteipräferenzen aus, sondern vorwiegend vermittelt über die Einstellung zum „Wohlfahrtsstaat“ (Pappi 2011: 31).

Ein „politisches Stabilisierungsmoment“ stellen die „Mittelschichten“ dar, auch wenn sie sozial in Schieflage geraten (Seppmann 2017: 95), was im Osten weitgehend fehlt, weil hier die Rekonstruktion einer Mittelklasse in den Anfängen stecken geblieben ist (ebd.: 117). Menschen unterhalb der Armutsgrenze beteiligen sich eher weniger am politischen gesellschaftlichen Leben als Menschen über dieser Grenze (Wikipedia: Teilhabe am gesellschaftlichen Leben). Das „abgehängte Prekariat“ (wir erinnern uns: im Westen 4-5%, im Osten 20-25%) mit seinen Enttäuschungen verweigert sich vielfach den Wahlprozeduren wie auch sozialen Protestbewegungen; sie kündigen teilweise die Loyalität mit dem politischen System auf (ebd.: 127). Darin steckt eine „regressive Grundtendenz“ (ebd.: 134) und es öffnet sich „eher ein Entfaltungsraum für irrationale Denkmuster und Reaktionsformen, als für progressive Orientierungen“ (ebd.: 135). Nicht zufällig wird sogar in Wikipedia darauf verwiesen: „Die von Pegida geäußerten politischen Ohnmachtsgefühle können zum Teil auch als Reaktion auf politisch-ökonomische Bedingungen verstanden werden.“ (Wikipedia: Pegida)

Viele Bedingungen, die sich in dieser Weise auswirken, haben wir schon bei der Diskussion der neoliberalen Phase des Kapitalismus diskutiert. Auf der Kapitalseite wird massiv in deren Interesse agiert, das Zitat von Warren Buffet „Es herrscht Klassenkampf, und meine Klassen gewinnt kann nicht oft genug wiederholt werden: „Es herrscht Klassenkampf, und meine Klassen gewinnt“. Dieser Kampf von Seiten des Kapitals wird nicht immer über direkte Absprachen organisiert, sondern eher durch „die ››kollektive‹‹ Ausnutzung der Handlungsspielräume“ (Seppmann 2017: 93) und durch deren Schaffung. Und trotz des systematischen Charakters der kapitalistischen Verhältnisse kann „die entwickelte Kapitalherrschaft […] ohne Träger und personell vermittelte Klasseninteressen nicht begriffen werden“ (ebd.: 83).

Für den „Klassenkampf von unten“ sieht die Bilanz verheerend aus. Einerseits gilt die „Entschuldigung“, es ginge den Leuten zu gut innerhalb der „Sozialpartnerschaft“ nicht mehr, sondern die Lebenslage vieler lohnabhängiger Menschen hat sich extrem verschlechtert. Trotzdem entstehen mehr regressive Verarbeitungsweisen als progressive. Das ist einerseits eine Folge von neoliberaler Ideologie, die massiv als Legitimationsmuster für Abbau sozialer Rechte eingesetzt wurde. Aber andererseits auch eine Folge unzureichender Gegenwehr, etwa durch Gewerkschaften und linker Bewegungen und Parteien. Größere Hoffnungen konnten zuletzt auf die globalen Antiglobalisierungsproteste gesetzt werden, auch wenn sie nicht klassenbewusst waren und auf solche Praxen wie die „Sozialforen“. Diese konnten den Niedergang traditionell sozialdemokratischer oder anderer linker Bewegungen nicht aufhalten. Gewerkschaften wurden „widerstandslos“ und ermöglichten „eine weitgehend ungefilterte Durchsetzung von Kapitalverwertungsstrategien mit Arbeitsplatzverlusten […], die zu einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit führen“ (ebd.: 57). Dies stellt Seppmann auch in einen Zusammenhang mit dem gestiegenen „Umfang der Reservearmee“ (ebd.). Die Gewerkschaften werden jetzt nur noch angesehen als ein „Lobby-Verein unter vielen“ (zitiert S. 67).

Sebastian Bähr berichtet über die Abwesenheit von linker Organisierung: „Im Leben meiner Eltern hatte es die ganzen letzten drei Jahrzehnte keine organisierten Solidarstrukturen gegeben, die ihnen bei konkreten Problemen geholfen haben oder deren Hilfsannahme für sie eine naheliegende Option gewesen wäre.“ (Bähr 2021) Deshalb wissen die Eltern auch „nichts von  linken Debatten wie der um neue Klassenpolitik. Sie denken, dass sich »altmodische Linke« immer noch an den (männlichen) Stahl- und Fabrikarbeitern des 20. Jahrhundert orientieren und »moderne Linke« an Kämpfen außerhalb der Lohnarbeit. Für sie, ihren Lebensstil und ihre Berufe scheint da kein Platz“ (ebd.). Oft entsteht erst mit dem Rücken zur Wand Widerstand, wie bei den Münsteranern Busfahrern, die angesichts der Lohneinbußen bei der Privatisierung meinten: „Damit kann ich nicht leben, damit krieg ich meine Familie nicht ernährt. Wir müssen einen anderen Weg finden!“ (zitiert bei Meyer 2004: 112). Im Interesse eines bezahlbaren Nahverkehrs nicht auf Kosten der Fahrer:innen kam es hier zu einer Solidarisierung der Münsteranerinnen mit den Fahrer:innen (ebd.: 113).

Was ergibt sich nun als Konsequenz aus diesen Erkenntnissen? Meiner Meinung nach ist ein Umgehen der Klassenfrage, der Verwurzelung des gegenwärtigen „Systems“ in den Klassenverhältnissen nicht möglich. Alles erweist sich letztlich als Klassenfrage. Die Aufgabe der Ausweitung von Commoningpraxen stellt, sie wenn sie im Interesse aller auf die gesellschaftlich wesentlichen Produktionsmittel zugreifen will, die Eigentumsfrage. „Degrowth“ und Klimaschutz brauchen den Zugriff auf Entscheidungen über den Zweck der gesellschaftlichen (Re-)Produktion. Care-Konzepte basieren darauf, dass niemand ausgeschlossen wird vom gesellschaftlichen Reichtum an Zeit und anderem Lebensnotwendigen.

Werner Seppmann verweist konkret auf die Notwendigkeit für die Ausgebeuteten und die sogar aus der Ausbeutung Ausgegrenzten und Prekären eine „gemeinsame Interessenartikulation aller Klassensegmente“ (Seppmann 2017: 39) zu finden. Die Klassenanalyse muss „das Verbindende zwischen den Klassensegmenten herausarbeiten und die Möglichkeiten von organisatorischen Modellen erörtern, die eine Bewusstwerdung und Artikulation von Klasseninteressen fördern könnten“ (ebd.: 39). Nur so können Menschen, die beim bzw. nach dem sozialen Abstieg noch nicht resigniert haben, erreicht werden (ebd.: 136). Eine „Utopie des guten Lebens und der sozialen Selbstbestimmung“ (ebd.: 153) kann sich nur in „Auseinandersetzung um zentrale Lebensinteressen“ (ebd.: 154) bilden und ausstrahlen. Im Wissen um das Ungenügen von Reförmchen können nur Arbeitskämpfe erfolgversprechend sein, „die mit der gleichen Grundsätzlichkeit wie von der Kapitalseite geführt werden“ (ebd.: 153). Sebastian Bähr, der hier schon mehrfach zitiert wurde, meint dazu: „Es bräuchte wohl langfristiges und ernstgemeintes Engagement vor Ort, starke öffentliche Identifikationsfiguren, ehrliche Debatten ohne Paternalismus und Belehrung, sichtbare kleine und große Erfolge und vor allem eine aufsuchende, niedrigschwellige Ansprache »seiner Leute«, um das aufzubrechen“ (Bähr 2021).

Es geht vor allem auch um eine „Verteidigung des erreichten Arbeitszeitniveaus“ mit der „Perspektive weiterer Arbeitszeitverkürzungen“ (ebd.: 154). Dieses unmittelbar und direkt nachvollziehbare Ziel, kann durchaus als Klassenkampf verstanden werden, wenn Klassenkämpfe bestimmt werden als „Kämpfe darum, ob, wie stark und zu welchem Preis die Warenform der Arbeit durchgesetzt werden kann“ (Cleaver 2012: 196, vgl. Schlemm 2017: 45). Und natürlich gilt wegen der starken Interessenverflechtung in den vielen Vermittlungen von Klassen- und anderen Interessen auch weiterhin: „Um gegen das Kapital zu kämpfen, muß die Arbeiterklasse gegen sich selbst, insofern sie Kapital ist, kämpfen“ (Tronti, zit. in Vorwort 1965, vgl. auch Schlemm 2017: 44). Wenn das gelingt, kann die Aufhebung des kapitalistischen Klassenverhältnisses aus der Perspektive des Commoning, des Ökosozialismus, von „Degrowth“,

Es kann sein, dass ein Erfolg dieser Bemühungen unwahrscheinlich ist. Aber dann ist es mehr als wahrscheinlich, dass wir gerade den Beginn des „Abgleitens ins systematische Chaos“ (Silver 2003) erleben. Vielleicht ist das dann auch erst einmal das Ende von klaren Klassentrennungen und führt zu einem Durcheinander von vielen verschiedenen Herrschafts-, Ausbeutungs- und Unterdrückungsformen, bei denen es nur noch ums reine Überleben geht.


[1] Siehe die Zusammenfassung hierzu auch in Schlemm 2017: 5ff..


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