Ich habe in den letzten Tagen das Buch „Die Utopie des Sozialismus…“ von Klaus Dörre gelesen. Dazu werde ich eventuell später noch einiges in eigenen Beiträgen dazu referieren. Zuerst möchte ich jedoch meine Auswertung auf das in meinem Blog zuletzt angestoßene Thema der Klassen fokussieren.

Der Gewerkschafter Hans-Jürgen Urban machte nicht zufällig darauf aufmerksam, dass es bei der ökologischen Frage nicht um ein allgemeines globales „Wir“ geht, sondern dass „in der assymetrischen Verteilung von Umweltrisiken und Widerstandsressourcen“ Klassenstrukturen sichtbar seien. (Urban 2018: 330)

Aber schon bei der Verursachung der Probleme sind die unterschiedlichen Anteile der Klassen nicht zu verleugnen. Klaus Dörre schreibt dazu:

„Offenkundig variieren die Anteile an der Produktion ökologischer Lasten mit der jeweiligen Klassenposition“ (Dörre 2021: 79)

Er zitiert einen Bericht von Oxfam, in dem für die Treibhaugasemissionen (THG-Emissionen) in Europa in der Zeit zwischen 1990 und 2015 folgende Veränderungen aufgezeigt werden:

  • Die Emissionen des reichsten 1 Prozents stiegen um 5%.
  • Die Emissionen der reichsten 10% stiegen um 3%.
  • Die Emissionen der ärmsten 50% sanken um 34%.
  • Die Emissionen bei den 40% mit mittlerem Einkommen sanken um 13%.

Im Diagramm sind diese gegensätzlichen Trends deutlich zu sehen: Die Reichen verbrauchen immer mehr, die Armen müssen längst sparen (Oxfam 2021: 1,3):

 

Jährliche CO2-Emissionen nach Einkommensgruppen, hellgrün: 1990, dunkelgrün 2015, von links: die reichesten 1%… die untersten 50%.

Um in den „sicheren Bereich“ in Bezug auf THG-Emissionen zu kommen, muss sich der CO2-Fußabdruck deshalb in den verschiedenen Gruppen in unterschiedlicher Weise ändern (ebd.: 1,4):

  • Der Fußabdruck der reichsten 1% muss sich auf ein 1/30stel reduzieren
  • Der Fußabdruck der reichsten 10% muss sich auf 1/10tel reduzieren
  • Der Fußabdruck der ärmsten 50% muss sich halbieren.

Diesen Unterschied zeigt die folgende Abbildung eindrücklich:

Jährliche pro Kopf/CO2-Emissionen von 2015, verglichen mit dem Ziel für einen Entwicklungspfad, der unter 1,5 Grad bleibt (gestrichelte Linie)
von links: die reichesten 1%… die untersten 50%.

Klaus Dörre bewertet dies so, „dass die Produktion von Luxusartikeln für die oberen Klassen und deren Konsum zu einer Haupttriebkraft des Klimawandels geworden sind, unter dessen Folgen europa- und weltweit vor allem die ärmsten Bevölkerungsgruppen zu leiden haben“ (Dörre 2021: 80-81). Zu kämpfen haben wir also nicht primär gegen irgendwelche Konsumbedürfnisse der unteren Klassen, denn deren 50%-Senkung erfordert in großem Maße eher gesellschaftliche Infrastrukturveränderungen (Umstellung auf erneuerbare Energien, mehr Öffentlicher Verkehr, bezahlbare und regenerativ geheizte Wohnmöglichkeiten, andere landwirtschaftliche Strukturen…), statt nur individuellen Verzicht. Eine gesellschaftliche Transformation mit derartigen Infrastruktur- und gesellschaftlichen Veränderungen in eine ökologisch vertretbare Richtung müsste auch eine Veränderung „zugunsten der Armen und Benachteiligten“ (ebd.: 81) sein.

Die ungleiche Verteilung der Folgen zeigt sich auf den ersten Blick bei einer globalen Sichtweise (Bild aus Bechert u.a. 2021: 12):

Die von 2000 bis 2019 am stärksten von Extremwettern betroffenen Staaten sind ausschließlich Staaten des Globalen Südens.

Die soziale Differenzierung zeigt sich z.B.  innerhalb unseres Landes z.B. daran, dass Reiche aus den hitzegeplagten Städten auf ihre Seegrundstücke oder ins Ausland fliehen können und insgesamt ihre Wohnverhältnisse aus eigenen finanziellen Mitteln optimieren können, während die Armen das aushalten müssen, was in den für sie bezahlbaren Wohnungen gerade ansteht (z.B. werden un- oder schlechtgedämmte Dachgeschosswohnungen inzwischen unerträglich). Auch so was Selbstverständliches wie Klima-Anlagen in Autos funktionieren in gebrauchten billig gekauften Autos öfter mal nicht. Ich selbst habe beide Erfahrungen gemacht, aber wir konnten dem entfliehen, weil wir die entsprechenden Mittel haben. Die neueren Erfahrungen mit der starken Teuerung von Lebensmitteln sind zwar vor allem durch den Ukraine-Krieg verursacht, sind aber nur ein Vorschein der Trends in der Nahrungsmittelproduktion angesichts der überhand nehmenden Dürren und Extremwetter-Ereignisse aufgrund des Klima-Umbruchs. Hier geht es nicht mal mehr nur um den Zugang zu Öko- und Bioprodukten, der den Armen verwehrt ist, sondern mittlerweile mehr und mehr auch um die Grundversorgung.

Angesichts des Umgangs mit der ungleichen und damit ungerecht verteilten Verursachung und des Tragens der Folgen von wirtschaftlichen Entscheidungen wird noch ein Aspekt wichtig: Es geht mehr und mehr nicht nur um eine ungerechte Verteilung des Reichtums oder der Verursachung von Schäden, sondern es steht die Frage, wer überhaupt über den Sinn und das Ziel der wirtschaftlichen Tätigkeit entscheidet. Es gibt inzwischen in vielen lokalen oder regionalen Initiativen, Gruppierungen und Bewegungen viele kluge Forderungen nach einem Umbau der Infrastruktur, der Landwirtschaft und manchmal auch der Industrie. Warum wird das nicht umgesetzt? Dörre schreibt von einer „Blockademacht realer Klassen- und Herrschaftsverhältnisse“ (ebd.: 79). Aus meiner ermüdenden Erfahrung in diversen solchen Gruppen ist folgendes Bild entstanden: Wir sitzen in einem Flugzeug und dürfen tatsächlich an manchen kleinen Rädchen ein wenig drehen. Aber es verändert sich nichts Entscheidendes. Das Ruder für die Richtungsentscheidung kriegen wir gar nicht zu sehen, aber dort wird das Wesentliche entschieden. Die Wirtschaft muss wachsen, die Stadt muss wachsen… in privatwirtschaftlichen Entscheidungen hat unsere Demokratie nichts zu suchen. Und als Marxist:in ist man sogar Kapitalversteher:in: Kapitalist:innen können nicht anders, sie müssen im Konkurrenzkampf die Durchschnittsprofitrate erreichen und möglichst übertreffen; das hält die Wachstumsspirale aufrecht und das Ruder in Richtung von mehr Naturverbrauch festgestellt.

Das kapitalistische Klassenverhältnis ist also nicht nur problematisch wegen der Ausbeutung der einen Klasse (der Lohnabhängigen) durch die andere (der Kapitalseite) bzw. im übertragenen Sinne auch der Natur, sondern aus ökologischer Hinsicht vor allem deswegen, weil nur die eine Seite den Zweck der Produktion bestimmt und die andere davon ausgeschlossen ist.

Natürlich gilt dies nicht in „reiner Form“, sondern Politik als Vermittlung von Interessen kann teilweise Rahmen für die Handlungsmöglichkeiten auch des Kapitals vorgeben. Klaus Dörre orientiert insgesamt auch stark darauf, für geeignete Einflussnahmen auf die Politik entsprechende Mehrheiten in der wählenden Bevölkerung zu gewinnen. Angesichts der Optionen, die auch von scheinbar „linken“ Kräften zur Wahl stehen, gibt es aber eigentlich keine Aussicht, die kapitalistischen Klassenverhältnisse abzuwählen.

Deshalb bleibt nichts anderes möglich, als trotz alledem auf entsprechende Kämpfe zu setzen, die aus der Defensive heraus sozial-ökologische Optionen stärken, bis sie zu Mehrheiten werden. Das gelingt nur, und dafür wirbt das Buch von Dörre an vielen Stellen, wenn sich die ökologisch orientierten und Klimabewegungen mit den sozialen und Klassenkämpfen zusammen tun.

Die eigenen Interessen und damit die Richtung des Engagements hängen oft doch stark von der Klassenlage ab. Lohnabhängige binden gerade in Zeiten, in denen ständig ein Abstieg in die Prekarität droht, oder sie schon dort sind, ihre Interessen stark an den Erhalt von Arbeitsplätzen, während viele Aktive der Klimabewegungen (und ihre Eltern) eher in Positionen sind, „die von der alltäglichen Sorge um Einkommens- und Beschäftigungssicherheit dauerhaft“ entlastet sind (Dörre 2021: 230). Wer wird aber gebraucht für eine Transformation? Auch jene, die nichts mehr von Klassenkampftheorien halten, müssen zugeben: „Gibt man spezifische Klassenlagen von Industrie- und Produktionsarbeitern politisch preis, sind linke Hegemonie und Mehrheitsfähigkeit unwahrscheinlich.“ (ebd. 234)

In einer notwendigen „ökologischen Klassenpolitik“ (ebd.: 228) braucht es einerseits einen „climate turn bei erwerbsarbeitszentrierten Akteuren und Gewerkschaften“ und andererseits einen „labour turn in den ökologischen Bewegungen“ (ebd.: 227-228).

Klaus Dörre vertritt die Ansicht, dass es nicht hilfreich ist, „abstrakte Debatten über die (Un-)Möglichkeit systemkonformer Nachhaltigkeit“ zu führen. Besser wäre es „den Kapitalismus und seine Eliten immer wieder auf die Probe zu stellen“ (ebd.: 239). Auf die Probe, welche Eingriffe in die Wirtschaft nicht mehr sakrosankt sind, wenn es gilt, den Stadtratsbeschluss zu erfüllen, Jena bis 2035 klimaneutral zu machen. Proben darauf, ob lieber eine weitere Aufrüstung finanziert wird oder die notwendige sozial-ökologische Transformation, die notwendig ist, um weitere kriegerische Auseinandersetzungen auf der Welt zu bremsen. Rosa Luxemburg soll von einer „revolutionären Realpolitik“ gesprochen haben. Dörre meint, dass so etwas wie eine „sozialistische Handlungsfähigkeit […] auch über Vorschläge“ entstehen kann, „die, an Nachhaltigkeitszielen gemessen, sofort Verbesserungen mit sich bringen und doch an Systemgrenzen heranführen“ (ebd.).

Bei allem Kampf komme es dabei darauf an, „solidarische Sozialbeziehungen zu einer kollektiven Erfahrung werden“ lassen (ebd.: 235). Wir müssen die Fremdbestimmung auch im Alltag nachvollziehbar überwinden; Alltagssolidarität  und genossenschaftliche Hilfe zur Selbsthilfe entwickeln (ebd.). Die in den letzten Jahren weit verbreiteten neuen Individualitätsformen, die auf Autonomie und Kreativität setzen, sollen im Jobarbeitsleben nicht nur ausgebeutet werden, sondern zu Forderungen über die individuelle Kontrolle des Lebens auch in der wirtschaftlichen Praxis führen (ebd.). Arbeitszeitsouveränität und (Mit-)Bestimmung über den Zweck der Produktion fallen mir da in.

An vielen Stellen stellen viele Gruppierungen und Bewegungen ähnliche Forderungen.

Egal, ob wir es mit der „Klassenbrille“ sehen oder nicht. Der Kapitalismus ist eine Klassengesellschaft und auch seine Beendigung aus ökologischen Gründen muss die Klassenspaltung aufheben. Deshalb gilt, wie ich schon im vorigen Text schrieb:

Wenn es gelungen sein wird, die Welt zu retten und eine neue Form nicht ausbeuterischer menschlicher Gesellschaft zu entwickeln, wird es Klassenkampf gewesen sein! – Oder es wird nicht passieren…


Literatur:

Bechert, Laura; Dodo; Kartal, Shayli (2021): Kolonialismus & Klimakrise. Über 500 Jahre Widerstand. Berlin.

Dörre, Klaus (2021): Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution. Berlin: Matthes&Seitz.

Oxfam (2021): Confronting Carbon Inequality in the European Union. Why the European Green Deal must tackle inequality while cutting emissions.

Urban, Hans-Jürgen (2018): Ökologie der Arbeit. Ein offenes Feld gewerkschaftlicher Politik? In: Schröder Lothar (Hrsg.): Gute Arbeit. Ökologie der Arbeit – Impulse für einen nachhaltigen Umbau. Frankfurt: Bund-Verlag. S. 329-349.