Diese Seite gehört zum Text: „Sozialismus-Utopie?“


Der Horizont dessen, wohin wir aus dem Kapitalismus heraus springen könnten, kann in einer abstrakten Gegenübersetzung gegen kapitalistische Funktionsprinzipien gesehen werden (kein ökonomischer Wert, kein Geld, kein Staat…vgl. Sutterlütti, Meretz 2018), oder auch auf kürzere Sicht mehr an den derzeit gegebenen Bedingungen ansetzen, wie bei Klaus Dörre. Um der früheren Entgegensetzungen von „Revolution“ und „Reform“ auszuweichen, sprechen mittlerweile fast alle von einer notwendigen „Transformation“ auf dem Weg dahin (vgl. Brie 2015). Häufig wird für eine Verbindung des Reform- und des Revolutionsgedankens auch positiv auf die Bezeichnung „revolutionäre Realpolitik“ von Rosa Luxemburg Bezug genommen (Luxemburg 1903: 373)[1], womit sie „die politische Kleinarbeit des Alltags zum ausführenden Werkzeug der großen Idee“ (ebd.) machen wollte. So sieht das wohl auch Dörre (obwohl er Luxemburg diesbezüglich nicht zitiert).

Die Verbindung zwischen utopischem Ziel und unmittelbarem politischen Handeln ist für ihn jedenfalls gegeben:

„Konkret[2] kann diese Utopie nur werden, sofern sie Eingang in das Handeln von sozialen Bewegungen findet, die der bereits im Gang befindlichen Transformation eine nachhaltig sozialistische Richtung geben wollen.“ (Dörre 2021: 225)

Von selbst jedenfalls zerfällt der Kapitalismus nicht, denn es „kann selbst ein Kapitalismus mit akutem Katastrophenpotential sehr lange überleben“ (ebd.: 53). Benjamins Ahnung, Revolutionen seien eher „der Griff […] nach der Notbremse“ (Benjamin 1984: 168) als ihre Lokomotiven, hat nun vor allem eine ökologische Begründung. Die Alternative dazu ist ein „Degrowth by desaster“, wie es auch Dörre nennt (Dörre 2021: 205).

Gleichzeitig gilt für alle Revolutionen/Transformationen in Richtung einer konzipierten Utopie: „Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist“ (MEW 1 KHR: 386). Wenn wir wie Dörre (weiter oben) davon ausgehen, dass der Sozialismus erst nach Jahrzehnten zu einer selbstverständlichen Lebensform verinnerlicht worden ist und erst danach „die Auswahl individueller und kollektiver Handlungsstrategien“ sehr umfassend bestimmt (Dörre 2021: 149), dann wird noch lange mit Bedürfnissen und Interessen zu rechnen sein, die nicht gleichlaufend mit ökologischer und gleichermaßen sozialer Nachhaltigkeit sind. Nicht nur deshalb kann solch ein Übergang nur „vielschichtig und unübersichtlich verlaufen“ (ebd.:  226). Vorher ist auch noch zu erwarten dass „die Realisierung noch so elaborierter Transformationspläne […] früher oder später mit Rendite- und Machtinteressen der wirtschaftlichen und politischen Eliten“ kollidieren wird (ebd.: 200). Deshalb muss der „utopische Überschuss mit nüchterner Analyse“ verbunden werden (ebd.)[3], sonst verwandelt sich „der utopische Überschuss einmal mehr in Katzenjammer und lähmende Depression“ (ebd.).

Schließen wir alle Avantgardekonzepte aus, so wird ein Kampf um Mehrheiten unbedingt notwendig (ebd.: 226), und dabei kann man nur von jenen Positionen ausgehend, auf dem sich die Mehrheiten befinden. Ausgehend von ihren konkret ausgedrückten und wirksamen Bedürfnissen und Interessen, nicht ausgedacht-erwünschten. Dabei sind klare Klasseninteressen zu unterscheiden; und auch innerhalb von Klassen gibt es Zielkonflikte z.B. zwischen sozialen und ökologischen Zielen. (Zu Klassen in diesem Kontext siehe weiter unten) Solche „sozial-ökologische[n] Transformationskonflikte“ (ebd.: 104) müssen bearbeitet werden. Die ersten Schritte gelingen bereits. So verstehtVer.di die Tarifauseinandersetzungen auch als Klimakampf (ebd.: 227). (siehe auch Müller u.a. 2018, Urban 2018 zur „Ökologie der Arbeit“ als Gewerkschaftsthema)[4]

Im Blogbeitrag „Ökologischer und Klassenkampf“ habe ich dazu schon referiert:

In einer notwendigen „ökologischen Klassenpolitik“ (Dörre 2021: 228) braucht es einerseits einen „climate turn bei erwerbsarbeitszentrierten Akteuren und Gewerkschaften“ und andererseits einen „labour turn in den ökologischen Bewegungen“ (ebd.: 227-228).

Auf die Frage, worum jetzt konkret gekämpft werden kann und muss, antwortet Dörre:

 „Nachhaltige Verkehrs- und Energiewende, Sicherheitsgarantien für Beschäftigte aus den Karbonbranchen, Umverteilung mittels gerechter Steuerpolitik, Aufwertung von Sorgearbeit, Arbeitszeitverkürzung, eine armutsfeste Grundsicherung, Bekämpfung prekärer Beschäftigung sowie ein neuer Multilateralismus, der Aufrüstung und Kriege vermeidet, indem er einer gerechten Weltwirtschaftsordnung um Durchbruch verhilft“ (Dörre 2021: 239-240)

Klaus Dörre meint, auch „Reformen von oben“ könnten dabei zielführend sein und man könne anknüpfen an „den progressiven Varianten eines globalen Green New Deal“ (ebd.: 223). Transformatorisches kommt hinein, wenn er z.B. vorschlägt, staatliche Leistungen für Unternehmen, im Krisenfall oder über Subventionen und Infrastrukturinvestitionen „in Gestalt von Eigentumstiteln“ verrechnen (ebd.: 127) oder wenn Unternehmen einen Nachhaltigkeitsplan abverlangt wird (ebd.: 128). Im Unterschied zu vielen eher reform-immanenten Konzepten bleibt die Eigentumsfrage hier relevant. Die mit dem Ende des kapitalistischen Privateigentums verbundene „Sozialisierung“ soll „mit demokratischen Mitteln, über gesellschaftliche Mehrheiten und von sozialen Bewegungen erkämpft“ (ebd.: 128-129) werden. Ein solcher emanzipativer Sozialismus soll das Machtzentrum der globalen Ökonomie zunächst belagern, dann erobern und schließlich umwälzen (ebd.: 129). Dabei sieht Dörre eine Unterscheidung vor: Mit den „oligopolischen Netzwerken großer Unternehmen“ (ebd.) muss gebrochen werden, während die „Restrukturierung der kleinen Industrie und der ähnlich kleinteiligen Dienstleistungswirtschaft“ entlang anderer Pfaden erfolgt.

Das Abschlusskapitel heißt nicht zufällig: „Sozialismus im Handgemenge“ (ebd.: 249). Und es geht mit dem Sozialismus des 21. Jahrhunderts nur insoweit vorwärts, als es gelingt gesellschaftliche Gestaltungsmacht zu erringen. nach Erik Olin Wright ist die „›Gesellschaftliche Macht‹ […] eine Macht, die in der Fähigkeit gründet, Menschen für kooperative, freiwillige kollektive Aktionen verschiedener Art u mobilisieren“ (ebd.: 47, zitiert Wright 2012: 470). Insbesondere für die Wirtschaft gilt, dass dabei eine „umfassende Demokratisierung ökonomischer Entscheidungen“ zu „maximaler zivilgesellschaftlicher Kontrolle über Produktion, Ressourcenallokation und Güterverteilung“ (ebd.: 48) strebt.

Das Spannungsfeld zwischen großen Entwürfen, die aber an vielen geäußerten Bedürfnissen und Interessen der meisten Menschen vorbei gehen und Vorschlägen kleiner Schritte in Richtung einer sozial-ökologischen Transformation „für jedermensch“ erhält mit dem Konzept von Klaus Dörre eine Verstärkung auf der eher langsamen, kampfverstrickten und kleinteiligeren Seite. Die Richtung stimmt trotzdem. Es muss wohl beides zusammen gehen: Das alltägliche Klein-Klein in konkreten Kämpfen, das Vorbereiten neuer gesellschaftlicher Beziehungsformen auch in der Wirtschaft (im Sinne der materiellen und Care-Versorgung aller Bedürfnisse), um das ganz große Ziel der emanzipativ-progressiven Überwindung des  Kapitalismus auch unter sich ständig verschlechternden ökologischen und auch politischen Bedingungen doch noch zu erreichen.


[1] Dabei wird nie darauf verwiesen, dass Luxemburg dabei „vom Standpunkt der geschichtlichen Entwicklungstendenz“ (Luxemburg 1903: 373) ausgeht, also von einer „Gesetzmäßigkeit der objektiven historischen Entwicklung“ (ebd.: 372). Das Ziel muss jedoch nicht von dieser angenommenen Teleologie der Geschichte bestimmt sein, sondern von durch Menschen gesetzte Ziele und Konzepte einer neuen Gesellschaftsform.

[2] Dörre meint mit dem Wort „konkret“ hier wohl eher die Bedeutung als „sinnlich, anschaulich gegeben“ als jene von Ernst Bloch, bei dem eine „konkrete Utopie“ nicht sinnlich gegeben sein, sich allerdings auf reale Bedingung(sveränderungen) beziehen muss.

[3] Ernst Bloch fand hierfür die Bezeichnungen „Kältestrom“ (der kühle und nüchterne Blick, „die gespannte Genauigkeit der ökonomisch-materiellen Stations- und Fahrplanbestimmungen für den Geschichtsgang“ (bloch EM: 141) und „Wärmestrom“, der „zielhaft enthusiasmierend“ den „Gang der Dinge beschleunigen“ kann (ebd.).

[4] Nicht zufällig bin ich in Jena in der Gruppe „Klima und Klasse“ https://klimaundklasse.org/  mit ähnlichen Zielen aktiv.


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