Ich war vom 28.-30. Oktober in Leipzig beim „System Change“-Kongress des SDS, weil ich selbst als Referentin eingeladen war. Ich nehme bei solchen Gelegenheiten eigentlich immer die gesamte Zeit teil. Diesmal habe ich aber nur an der Hälfte der möglichen Workshops oder Plena teilgenommen, weil ich zwischendurch viele schöne und spannende Gespräche hatte, die wir nicht abbrechen wollten. Aber einiges Interessante habe ich doch mitgekriegt, wovon ich hier erzählen will. Also jetzt zur 4-Schwerpunkte-Matrix zur Selbstverständigung und politisch orientierten Gruppen und Bündnissen:
Leonor Canadas und Joao Camargo von der spanischen Gruppe Climaximo stellten ein Konzept vor, das auf einer „Theory of Change and Conflict Escalation“ (Theorie des Wandels und Konflikt-Eskalation) beruht. Ein Tool zur Orientierung dabei ist die 4-Schwerpunkte-Matrix. Diese kann einerseits (I) genutzt werden, um sich selbst die eigenen Schwerpunkte klarer zu machen, als auch andererseits (II) dazu, die Dynamik von politischen Aktivitäten zu verdeutlichen. Die Darstellung beruht lediglich auf dem, was ich von der Veranstaltung mitgenommen habe und Verkürzungen etc. sind mit anzulasten. Soweit ich mitbekommen habe, gibt es mit diesen und weiteren Inhalten ganze Schulungskampagnen…
I) Orientierung in Gruppen, Organisationen, Bewegungen…
Die folgende Abbildung zeigt, wie sich 4 typische Schwerpunktsetzungen entlang von zwei Dimensionen darstellen lassen:
Manche Gruppen fokussieren sich auf die Erzeugung von Aufmerksamkeit. Sie machen öffentliche Stände, arbeiten mit Medien, in Debatten, halten Vorträge, schreiben Artikel usw. Andere sehen ihre Aufgabe vor allem in der Mobilisierung von größeren Menschenmengen. Im Film „V wie Vendetta“ entsteht z.B. eine Mobilisierung, ohne dass es vorher eine Organisierung gibt und die Aufmerksamkeit wird hier als vorhanden vorausgesetzt. Letztlich geht es bei einer Mobilisierung um eine echte Disruption (Störung, die nicht nur reformieren will). Außer in Ausnahmen wie eben erwähnt, brauchen Mobilisierungen jedoch auch eine Organisierung: Meetings, Versammlungen, Bündnisse schmieden, Organisationen, Parteien oder Bewegungen in Gang bringen. Um Ergebnisse in der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu verankern, kann es auch sinnvoll sein, in Verhandlungen zu gehen. Die Beteiligung von NGOs an den Klimagipfeln ist ein Beispiel oder… für Jena die Mitarbeit am Klima-Aktionsplan der Stadt.
Dabei gilt, dass es nicht per se gut oder schlecht ist, wenn eine Gruppe nicht alle diese Felder ausfüllt, die Dimensionen widersprechen sich ja auch (Aktionen eher für oder gegen den Status Quo, Konfrontation vs. Überzeugung). Das muss auch nicht heißen, in einem der sich widersprechenden Extreme festhängen zu bleiben, sondern in der Dynamik des Geschehens werden sich unterschiedliche Situationen ergeben, wo die Stellung sich auch verschieben kann und so sie ev. auch verschoben werden soll. Die Einladungsvorträge von XR z.B. sollen über den Weg der Erreichung von Aufmerksamkeit schließlich in Richtung Organisierung und Mobilisierung gehen. Aktionstrainings entstehen auf Grundlage einer Organisierung für die Mobilisierung usw..
Wer irgendwo aktiv ist, kann nun selbst überlegen, wo die eigene Gruppe wohl angesiedelt ist. Ich sehe noch zwei andere Nutzungsmöglichkeiten dieser Matrix für die Standortbestimmung:
- kann eine sich erst gründende Gruppe diese Matrix nutzen, indem sich die einzelnen Teilnehmen zuerst einmal individuell positionieren (ohne sich abzusprechen oder die Positionierung der anderen gleich zu sehen). Aus diesem „Bild“ kann man dann schauen, inwieweit das den Zielen und Vorhaben entspricht und was demnach diese Gruppe in ihrer Besonderheit ausmacht.
- Auch in Bündnissen können alle beteiligten Gruppen sich gegenseitig mitteilen, welche Positionierung sie in dieser Matrix haben. Nicht, um sich dann zu bekämpfen, sondern um ihre jeweiligen Besonderheiten arbeitsteilig in Kooperationen zu nutzen.
II) Dynamik von Aktivitäten
Politische Kampagnen durchlaufen typischerweise die Positionen in dieser Matrix. Ich fasse die 8 möglichen Stadien einer Eskalation und die entsprechenden Positionen hier nur zusammen. Vorausgesetzt ist die Existenz eines impliziten Konflikts, der für eine Bearbeitung und Lösung noch explizit (öffentlich bekannt und ggf. skandalisiert) werden muss. Es gibt also 1. eine Veränderungsnotwendigkeit. Aktiv müssen wir werden, wenn 2. durch die Verantwortlichen dieser Konflikt nicht ausreichend bearbeitet/gelöst wird. Dann müssen wir 3. genügend Menschen aktivieren (reifes Aufmerksamkeitserzeugen) um kleine Gruppen zu bilden (frühes Organisieren). 4. wird das Problem auf die öffentliche Agenda gesetzt (frühes M). Es geht dann darum, aktiv in die eigene Richtung arbeitende Interessengruppen zu bilden (Organisierung). Danach wird entweder schon eine befriedigende Vereinbarung getroffen (Vereinbarung), oder es muss 6. weitergehen mit einer starken Mobilisierung. Dann gibt es entweder einen befriedigenden Kompromiss mit dem Status Quo (reifes Vereinbaren) oder es muss 7. eine weitere Organisierung geben, um den Status Quo herauszufordern (reifes Organisieren). Auf dieser Grundlage wird dann für eine Disruption mobillisiert (reifes Mobilisieren).
Innerhalb der Matrix wird dabei ein „umgekehrtes Z“ vollzogen: von „Vereinbarung“ über „Aufmerksamkeit“ (über das Ungenügen des Status Quo) zur Organisierung und schließlich zur Mobilisierung.
In dieser Darstellung können auch Rückschritte in der Dynamik benannt werden, das geschieht einerseits, wenn Aktivitäten sich innerhalb eines Schwerpunkts festfressen: nur mobilisieren ohne in Vereinbarungen zu gehen bzw. zu organisieren. Oder in Vereinbarungen (Klima-Gipfel) stecken zu bleiben, ohne ausreichend zu organisieren und zu mobilisieren, oder nur aufzuklären, ohne Konsequenzen des Wissens zu organisieren. Andererseits gibt es auch typische Rückschritte:
Von Mobilisierung zu Organisierung: indem man jammert, dass man erst mehr Leute organisieren müsste, statt sich zu fragen, was man an Mobilisierung mit denen erreicht, die da sind.
Von Organisierung zu Aufklärung, indem man jammert, dass die Menschen ignorant sind, statt sich zu fragen, wie man die Leute auf ihre eigene Art ansprechen und einbeziehen kann.
Von Aufklärung zu Vereinbarung, indem man meint, man bräuchte zuerst mehr Forschung, statt zu fragen: „Welche Forschung ist ausreichend für uns, um zu handeln?“ und: „Welche Aktion könne wir mit dem bisherigen Wissen unternehmen?“.
Ich habe wirklich den Eindruck, dass ich viele meiner Erfahrung in der politischen Praxis in den verschiedenen Klimagruppen gut mit dieser Matrix abbilden, diskutieren und bearbeiten kann. Vielleicht hilft es anderen ja auch…
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