Ich habe in den letzten Monaten in Jena das „Klimanotstands-Zentrum“ mitgegründet. Wir haben noch keinen festen Raum, aber wir treffen uns regelmäßig, beteiligen uns an der Klimabewegung in Jena, halten Vorträge usw.. Oft werden wir dann gefragt, warum wir uns KlimaNOTSTANDS-Zentrum nennen.
Wir könnten es uns einfach machen und einfach sagen, dass wir aus der Idee der global sich gründenden „Climate Emergency Center“ heraus entstanden sind. Andere solche Gruppen jedoch nennen sich z.B. eher „Transformationszentrum“. Wir jedoch lassen das Wort „Notstand“ bewusst drin. Warum?
Auf vielen Demonstrationen weltweit wurde seit 2019 das Ausrufen eines Klimanotstands gefordert und einige Städte wie Aachen, Heidelberg, Kiel, Erlangen und auch Jena sind dieser Forderung auch nachgekommen, indem sie einen jeweils kommunalen Klimanotstand verkündet haben.
Bevor dieser Beschluss auch in Jena – als erster Stadt in Thüringen – gefasst wurde, gab es als Gegenargument zum Beispiel die Bemerkung, das sei ja bloß Symbolpolitik. Damit es das nicht bleibt, wurde in Jena daraufhin auch beschlossen, einen Klima-Aktionsplan zu erarbeiten, zu beschließen und umzusetzen.
Recht unüberlegt stand auf einigen Plakaten auf Demos: „Klimanotstand jetzt!“ oder gar „Wir fordern den Klimanotstand“, weil das kürzer war, als die gemeinte Forderung: „Klimanotstand erklären – jetzt!“. Aber es gibt auch Kritik an der Verwendung des Wortes „Klimanotstand“, z.B. durch Johannes Müller-Salo in seinem Buch „Klima, Sprache und Moral. Eine philosophische Kritik“. Zusammengefasst lautet seine Kritik: „Der Begriff produziert falsche Erwartungshaltungen und falsche Vorstellungen vom Charakter klimapolitischer Lösungsstrategien“ (S.67). Denn ein Notstand, so erläutert er, beinhaltet, dass es sich bei einem Notstand um eine akute Krisensituation handelt, bei der das Leben oder die körperliche Integrität unmittelbar bedroht ist und „typischerweise“ eine zeitliche Begrenzung vorhanden ist (ebd.). Damit werden dann „außergewöhnliche Maßnahmen“ begründbar (ebd.: 68).
Passt das nun auf den Klimawandel? Müller-Salo sieht es als angemessen an, den Klimawandel als „außergewöhnliches Krisenphänomen zu betrachten“ (69), aber eher nicht als ein „akutes Krisenphänomen“ (ebd.). Weil es, zumindest in unseren Breiten – dies muss unbedingt ergänzt werden – noch nicht immer akut ist, schlägt er vor, nicht von „akuter Notsituation“ zu sprechen, sondern von „strukturellen Notlagen“ (ebd.). Er hält die zeitliche Begrenzung nicht für übertragbar: „Der Notstandsbegriff suggeriert, es ginge darum, für eine überschaubare Zeit Kräfte zu konzentrieren, Maßnahmen zu bündeln und in konzertierter Aktion das Übel zu beseitigen“ (ebd.). Geht es nicht darum? Natürlich geht es auch um „eine Vielzahl dauerhafter, langfristig wirksamer Maßnahmen wie etwa eine Umstellung von Lebensstilen“ (ebd.: 70). Aber die bei ihm erfolgende Entdramatisierung durch den folgenden Nebensatz ist veraltet: Nach seiner Meinung reiche aus, „schrittweise und über Jahrzehnte hinweg global ein Ziel zu erreichen“ (ebd.). Da das letzte Vierteiljahrhundert nicht genutzt wurde, um dies zu tun, haben die Treibhausgasemissionen jetzt aber ein Maß erreicht, bei dem wir ganz schnell und ganz stark auf die Bremse drücken müssen, wenn wir gefährliche Veränderungen verhindern wollen. Müller-Salo verweist richtig darauf, dass man die Klimawissenschaft ernst nehmen soll (also auch nicht mehr katastrophisieren soll als nötig).
Aber seit mehreren Jahren schlagen auch immer mehr Wissenschaftler*innen Alarm. Erst kürzlich (1.8.2022) erschien der Artikel „Klima-Endspiel – Erforschung von Szenarien für einen katastrophalen Klimawandel“, in dem Wissenschaftler*innen fordern, endlich die Möglichkeit von katastrophalen Folgen der globalen und lokalen Veränderungen wenigstens zu erforschen, denn bisher wurden sie sträflich vernachlässigt.
Es ist richtig, dass Müller-Salo auf den Unterschied zwischen wissenschaftlichen Ergebnissen („Fakten“, auch über künftige Möglichkeiten, wenn ihnen Wahrscheinlichkeiten zugeschrieben werden), Wertungen/normativen Urteilen und Handlungsorientierungen verweist (Müller-Salo 2020: 11). Aber zu dem, was „die Wissenschaft“ sagt, gibt es auch eine Geschichte. Bisher bevorzugten die meisten Wissenschaftler*innen jeweils Darstellungen mit „geringstem Drama“ (Spratt, Dunlop 2018: 5). Schellnhuber schreibt von „Betriebsblindheit“ (Schellnhuber 2018: 2). Kevin Anderson stellt fest: „In mehrfacher Hinsicht zensiert die Modellierungsgemeinschaft ihre Forschung tatsächlich selbst, um sich an das vorherrschende politische und wirtschaftliche Paradigma anzupassen.“ (Anderson 2016: 9). Die extreme Gefährlichkeit des Klimawandels ab bestimmten Schwellwerten wird von vielen Klimawissenschaftler*innen und dem, was im IPCC ausgewertet wird, systematisch unterschätzt (insbesondere zu den Kipp-Punkten der Kipp-Elemente mit sprunghaften Veränderungen, von denen man früher annahm, dass die erst bei viel höheren global-durchschnittlichen Temperaturen liegen würden. Diese sind in den Szenarien mit den nur kontinuierlich steigenden Temperaturen noch nicht eingerechnet.). Andere Klimawissenschaftler*innen fordern seit vielen Jahren, den Ereignissen, die zwar vorerst eine geringe Wahrscheinlichkeit haben (worauf Müller-Salo verweist), aber im Fall ihres Eintretens sehr hohe bis existentielle Gefahren mit sich bringen, mehr Aufmerksamkeit zu schenken. (Anderson et al. 2011, Xu et al. 2017, Spratt, Dunlop 2018). Diese existentiellen Risiken „am Ende der Skala“ (Global Challenges Foundation 2018: 24) werden bisher ungenügend beachtet. In diesen High-End-Szenarien „übersteigt die Größenordnung der Zerstörung unsere Möglichkeiten zu modellieren; mit einer hohen Wahrscheinlichkeit geht es mit der Menschheit dann zu Ende“ (ebd.). Wenn existenzielle Risiken eingetreten sind, kann man sich nicht mehr erholen. Dies fordert eine völlig neue Art mit diesen Risiken umzugehen! Management-Analysten (Schroder 2017) und Sicherheitsinstitutionen (Campbell et al. 2007) nehmen diese Gefahr viel ernster als die Politik.
Es besteht auch in der Bevölkerung viel mehr Wissen darüber, als die Politik ernst zu nehmen bereit ist. In Australien meinen ¾ aller Menschen, dass der Klimawandel ein katastrophales Risiko ist und die Hälfte der Menschen nimmt an, dass unsere Lebensweise in den nächsten 100 Jahren nicht weiter geführt werden kann (Spratt, Dunlop 2018: 4). Die vielen Zusicherungen, wir könnten es noch schaffen (Schlimmeres abzuwenden) werden inzwischen mit viel Zynismus aufgenommen. Obwohl sie zur Motivation beitragen sollen, motivieren sie sogar im Erfolgsfall nur zu viel zu laschen Forderungen und Veränderungen (wie dazu, dass der Konstanzer Bürgermeister jetzt Rad fährt).
Es ist also nicht nur eine strukturelle Not, sondern eine globale akute Notlage. Nicht erst wenn wir sie (mit Zeitverzögerung) zu erleben bekommen, sondern ab dem Moment, in dem wir von ihr wissen! Wenn ich mit dem Auto auf einen Abgrund zurase, warte ich mit dem Bremsen nicht, bis ich „akut“ abhebe (und die Bremsen nichts mehr nützen).
Schon vor 5 Jahren erarbeiteten Wissenschaftler*innen eine Roadmap für eine rapide Decarbonisierung (Rockström et al. 2017). Ab 2020 bis 2030 müssten demnach „Herkules-Anstrengungen“ unternommen werden, um das Ruder herumzureißen. In einem Sondergutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderung (WBGU 2016) wird dies bildlich dargestellt:
Ja, da müssen wirklich „außergewöhnliche Maßnahmen“ her! Welche das inhaltlich sind, kann bspw. dem Bericht des Wuppertal-Instituts „CO2-neutral bis 2035…“ (2020) entnommen werden.
Seit dieser Roadmap haben wir weitere 5 Jahre verloren und die Emissionen müssten pro Jahr noch mehr sinken, als damals angenommen. In der Phase „Nachsteuern und verstärken“ könnte der Notstand tatsächlich beendet werden.
Johannes Müller-Salo macht sich darüber hinaus auch noch lustig darüber, dass angesichts der mit dem „Klimanotstand“ angerufenen Dramatik die Ergebnisse z.B. in Konstanz lächerlich seien. “Bedarf es tatsächlich der Ausrufung eines Notstands, um Bürgermeister radeln zu lassen?“ (71). Nein, natürlich nicht, aber das Problem liegt nicht in der Ausrufung des Klimanotstands, sondern im jämmerlichen Versagen bei der Umsetzung der notwendigen Konsequenzen. Der Klimanotstand sollte gerade das Maß sein, an dem sich alle Maßnahmen messen lassen müssen. Und wenn zu viele kommunale Emissionen z.B. in eine „Kompensation“ gesteckt werden, um sich nicht um ihre Verhinderung bemühen zu müssen, dann ist dies zu kritisieren und nicht der Anspruch! „Künftig werden alle politischen Entscheidungen an der Klimafrage gemessen werden“ wurde nach dem Beschluss in Jena gesagt. Ob das durchgeführt wird, muss eine wache und aktive Klimabewegung im Blick haben. Und dafür nennen wir unser Projekt „Klimanotstands-Zentrum“.
Die Praxis zeigt tatsächlich schon, dass in den jetzt unternommenen Bemühungen vieles nicht finanzierbar scheint, dass vieles der Bevölkerung nicht zugemutet werden soll und die gesamte Produktions- und Lebensweise sowieso unhinterfragt bleibt, weil man nicht weiß, wie man sich diesem Thema auf der kommunalen Ebene nähern kann. Aber das wird, soweit die Ergebnisse der Naturwissenschaften uns dies sagen, nicht verhindern, dass uns die Folgen des Klima-Umbruchs treffen, auch lokal. Durch die Veränderung der Häufigkeit von Hitze, Dürren, Überschwemmungen usw. wird es weiter viele akute Notstands-Situationen geben. Man kann nur Angaben über Wahrscheinlichkeiten machen, wenn man gefragt wird, ob dieses oder jenes Ereignis mit dem Klimawandel zusammen hängt. Aber eins ist sicher: die Wahrscheinlichkeit nimmt zu.
Dem will ein offenes Reden über einen Klima-Notstand gerecht werden, anstatt abzuwiegeln und sich mit den derzeit ungenügenden Anstrengungen zufrieden zu geben. Johannes Müller-Salo will die Demokratie nicht in Frage stellen lassen, sondern bestärken. Jawohl: In diesem Klimanotstands-Zentrum soll gerade darum gerungen werden, wie die notwendigen „Herkules-Aufgaben“ mit demokratischen Mitteln vielerlei Art (nicht beschränkt auf Parteipolitik) je nach Verantwortungsart der Beteiligten angegangen werden können.
Entweder es geschehen unliebsame Veränderungen „per desaster“ oder wir gestalten sie sozial, humanistisch und selbstbestimmt „per design“. Diese selbstbestimmten Veränderungen müssen möglichen autoritären „Notstands“-Regelungen [1] zuvorkommen!
Literatur
Anderson, Kevin; Bows, Alice (2011): Beyond “dangerous” climate change: emission scenarios for a new world. Phi. Trans. R. Soc. A (2011) 369, 20-44. DOI: 10.1098/rsta.2010.0290.
Anderson, Kevin (2016): Going beyond ‘dangerous’ climate change. LSE presentation, 4 February 2016.
Campbell, Kurt M., Gulledge, Jay; McNeill, J.R.; Podesta, John; Ogden, Peter; Fuerth, Leon; Woolsley, James; Lennon, Alexander; Smith, Julianne; Weitz, Richard; Mix, Derek (2007): The Age of Consequences: The foreign policy and national security implications of global climate change. Centre for Strategic and International Studies & Centre for New American Security, Washington.
Global Challenges Foundation (2018): Global Catastrophic Risks 2018. Stockholm : Global Challenges Foundation.
Kemp, Luke u.a. (2022): Climate Endgame – Exploring catastrophic climate change scenarios. PNAS 2022, Vol. 119, No. 34, https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2108146119
Müller-Salo, Johannes (2020): Klima, Sprache und Moral. Eine philosophische Kritik. Ditzingen: Philipp Reclam jun.
Rockström, J., Gaffney, O., Rogelj, J., Meinshausen, M., Nakicenovic, N. und Schellnhuber, H. J. (2017): A roadmap for rapid decarbonization. Science 355 (6331), 1269–1271.
Schellnhuber, Hans Joachim (2018). Forword. In: Spratt, David; Dunlop, Ian (2018): What lies beneath. The Understatement of existential climate risk. Online (abgerufen 2020-07-13) S. 2-3.
Schroder Investment Management (2017): Climate change: calibrating the thermometer. Schroders Investment Management, London.
Spratt, David; Dunlop, Ian (2018): What lies beneath. The Understatement of existential climate risk.
WGBU (2016): Sondergutachten: Entwicklung und Gerechtigkeit durch Transformation: Die vier großen I.
Wuppertal Institut (2020): CO2-neutral bis 2035: Eckpunkte eines deutschen Bei-
trags zur Einhaltung der 1,5-°C-Grenze. Online: https://epub.wupperinst.org/frontdoor/deliver/index/docId/7606/file/7606_co2-neutral_2035.pdf (abgerufen 2022-03-24)
Xu, Yangyang; Ramanathan, Veerabhadran (2017): Well below 2 °C: Mitigation strategies for avoiding dangerous to catastrophic climate changes. Proceedings of the National Academy of Sciences, vol. 114, pp. 10315-10323.
[1] siehe hierzu aus BRD-Erfahrungen: https://de.wikipedia.org/wiki/Notstandsgesetze_(Deutschland), https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/notstandsgesetze-200088, https://www.deutschlandfunk.de/notstandsgesetze-vor-52-jahren-alte-debatte-mit-relevanz-100.html.
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