Zu den Fakten: jeder Stau ist gefährlich, jedes Rasen ist gefährlich, der Autoverkehr selbst ist gefährlich. Einerseits im direkten Sinne, wenn Autos und LKWs andere Menschen umfahren und andererseits indirekt als Mitverursacher des menschengemachten Klima-Umbruchs. Und ja, auch die aktuellen Klimaproteste derer, die sich auf der Straße festkleben, verursachen Staus. In einem solchen Stau wurden Rettungskräfte aufgehalten, die einer Frau helfen wollten, die mit dem Fahrrad unter einen Betonmischer geraten war. Es gibt inzwischen eine Debatte darum, ob der Rettungswagen, der den Betonmischer anheben sollte um die Frau zu befreien, überhaupt eingesetzt werden sollte (die Ärztin sagt nein), oder ob es ohne den Stau mehr (nur recht vage benannte) Möglichkeiten zur Rettung gegeben hätte (das sagt die Feuerwehr). Ich kann mich noch erinnern, dass die Bewegung „Extinction Rebellion“ einst (vor ca. 2 Jahren) sog. „Schwarmings“ durchführte, bei dem Straßenübergänge mit den eigenen Körpern blockiert wurden, es aber kein Festkleben gab[1] und die Straße nach wenigen Minuten wieder freigegeben wurde. Aber das hat, wie alle anderen weniger störenden Aktionen nichts und wieder nichts verändert. Deshalb kann ich verstehen, dass die Aktionen an Radikalität zunehmen. Es ist sonst einfach nicht mehr auszuhalten. Ob die Bedachtsamkeit mit der Verzweiflung mitwächst, dürfte jedoch zu bezweifeln sein.

Das ändert aber nichts an der Notwendigkeit schneller und radikaler Veränderungen. Und die müssten weit über das hinausgehen, was die „Letzte Generation“ fordert. Laut aktuellem Bericht des Weltklimarats müsste es „transformatorische Änderungen der Produktionsprozesse“ geben, eine „Koordinierung der gesamten Wertschöpfungskette“ und „disruptive Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur“. Ganz richtig titelte die ZEIT ONLINE bei der Berichterstattung darüber: „Ein Aufruf zur Revolution“. Die vom Weltklimarat geforderten Veränderungen würden radikal in die Art und Weise des Wirtschaftens und Lebens eingreifen. Was ist denn überhaupt radikal? Stefan Rahmstorf zitiert den UN-Generalsekretär Guterres:

Radikal sind doch nicht die jungen Leute, die demonstrieren, sondern radikal sind die, die immer so weitermachen wie bisher und dabei unseren ganzen Planeten zerstören.

Den sog. „Klima-Klebern“ wird vorgeworden, sie würden die „Allgemeinheit erpressen“. Wer erpresst den hier wen? Nur wer sich nicht behaglich eingerichtet hat in weltweit privilegierten Zuständen, wer nicht fürchten muss, von der nächsten Flut, von der nächsten Dürre, vor den nächsten Stürmen etwas befürchten zu müssen, kann die Bedrohung durch die ökologischen und klimatischen Verwüstungen einfach so hinnehmen, ohne sich von dieser Lage „erpresst“ zu fühlen. Aber natürlich sieht man sich in dieser Behaglichkeit auch bedroht von jenen, die auf den „planetaren Notstand“, von dem auch der neue Bericht an den Club of Rome schreibt, hinweisen (zum Begriff „Notstand“). Die Überbringer der Botschaft werden mehr abgewehrt als die Gefahr selbst.

Wut auf Klima-Aktivistis wirkt wohl entlastend, um nicht darüber nachzudenken, was der eigene Anteil an den Problemen ist. Die Proteste werden zum Skandal statt das, wogegen protestiert wird und werden muss. Interessant ist, dass es immer wieder Vorwürfe gibt, die Proteste wären anti-demokratisch. Ist es denn demokratisch, wenn der Finanzvorstand vom RWE-Konzern, der bis 2030 noch 290 Millionen Tonnen Kohlen verfeuern „darf“, einfach fordert, dass „Eingriffe in bewährte marktbasierte Systeme… vermieden werden“ sollten? „Bewährte marktbasierte Systeme“??? Bewährt bei der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen? Demokratie muss nun, wo es wirklich schon „Fünf nach Zwölf“ ist, auf die wichtigen wirtschaftlichen Entscheidungen ausgedehnt werden. Wir sehen das bei der Katastrophe im Bereich des Wohnungswesens und auch überdeutlich in der Energiepolitik. Auch die Landwirtschaft kann nicht mehr Jahrzehnte herumtüdeln mit einem rigorosen Anbaumethoden-Wechsel hin zu ökologisch und klimatisch verträglichen Formen. Wenigstens sind sie indirekt auch auf die Problematik eingegangen, indem sie bei der Besetzung des Brandenburger Tores forderten: „Wir wünschen uns ein Überleben für alle“.

Ob die konkret gewählten Protestformen die klügsten sind, kann man dann immer noch in Frage stellen. Ich würde durchaus fragen, ob die Konfrontation mit den autofahrenden Menschen die richtige „Front“ aufmacht. Oder ob es nicht besser gewesen wäre, nach dem Unfall die Proteste für einige Zeit auszusetzen und die Methode zu überdenken.

Was bisher öffentlich zu diesem Thema hochkommt, zeigt, dass die „Letzte Generation“ wohl wahrhaftig die letzte Generation sei wird, in der sie den Niedergang dessen, was wir „Zivilisation“ nennen, erleben werden. Die Blockaden von Extinction Rebellion hatten noch darauf gesetzt, dass sie in mehreren Wellen zigtausende Menschen anziehen würden und allein die schiere Menge der Menschen, die sich konsequent mit Körper und Geist gegen das „Business as usual“ stellen, Erfolge erreichen könnte. Die „letzte Generation“ ist das Ergebnis der Enttäuschung dieser Hoffnung auf eine Beteiligung von ausreichend vielen Menschen. Sie stellt sich jetzt auch direkt gegen deren Autofahrten in ihre Jobs und Konsumtempel innerhalb einer Wirtschaft, die die Lebensgrundlagen zerstört.

Auch die Mainstream-Medien haben inzwischen wohl ausreichend intensiv über die tatsächliche Notlage auf dem Planeten Erde informiert, so dass wirklich niemand mehr sagen kann, sie/er habe es nicht gewusst. Und es wissen wohl viele, dass es bei einfachen, von der Politik zu beeinflussenden Änderungen bei den Energiequellen nicht bleiben wird. Sogar die Armen in unseren früh industrialisierten, die Weltwirtschaft und -politik beherrschenden Ländern werden sich auf ein Leben mit weniger Energie- und Rohstoffverbrauch einrichten müssen (was längst nicht heißen muss, auf viel Lebensfreude zu verzichten). Die Klimaaktivist*innen erinnern auch sie ständig daran. Deshalb stürmen nicht nur fossile und andere profitheischende Unternehmen voran auf dem „Highway zur Klimahölle“ (UN-Generalsekretär Guterres), sondern die Mehrheit der Menschen rennt noch ganz gerne mit, um nicht zu kurz zu kommen. Auch das ist ein Grund dafür, dass es im Jahr 2021 wieder einen Höchststand bei der CO2-Emission gibt (Friedlingstein et al. 2022). Nötig wäre was anderes:

„Im Industriesektor wäre etwa eine zehnfache und beim Verkehr sogar eine 14-fache Erhöhung der durchschnittlichen Minderungsmengen pro Jahr notwendig“ (Thomas Heimer).

Insofern ist es nur konsequent, wenn die „Letzte Generation“ sich mit ihren Körpern dem Verkehr ganz direkt entgegen setzt, auch wenn ihre eigenen Eltern und Geschwister drin sitzen und unbedingt weiter wie bisher fahren und umweltzerstörend leben möchten. Sie jedoch haben am wenigsten bei der Gestaltung der Mobilitätspolitik zu sagen; sie werden gezwungen, immer weiter und öfter zur Arbeit zu pendeln. Stattdessen fahren Konzerne Gewinne über Gewinne ein und deshalb fordert z.B. der Finanzvorstand von RWE, Michael Müller, dass „Eingriffe in bewährte marktbasierte Systeme … vermieden werden“ sollten (nachlesbar z.B. in der SZ, 10.11.22). „Bewährte marktbasierte Systeme“??? Echt jetzt???

Wie sich der Markt „bewährt“, sehen wir gerade auf den Wohnungsmärkten, den die Inflation ausnutzenden Lebensmittelmärkten, den nicht an die Kund*innen weiter gegebenen gesunkenen Energiepreisen, am nicht mehr funktionierenden Gesundheitswesen, der katastrophalen Lage im Pflege- und allgemein dem Care-Sektor und insgesamt am gerade stattfindenden Untergang der Menschheit!!!

Es ist schon verrückt, dass mittlerweile eher diskutiert wird, Klimaaktivist*innen länger vorbeugend wegzusperren, als deren doch recht niedrigschwellige und einfach zu erfüllende Forderungen zu erfüllen (Tempolimit und bezahlbaren Nahverkehr).

Und Hans-Josef Fell schreibt dazu:

Politiker und Politikerinnen der FDP, die viele unnötige Verkehrstote wegen Raserei auf deutschen Autobahnen durch Verhinderung eines Tempolimits billigend in Kauf nehmen, lässt man laufen und junge Leute, die für ein Tempolimit und den Klimaschutz kämpfen, sperrt man ins Gefängnis.

Ich hätte mir wirklich gewünscht, die fahrradfahrende Frau wäre  nicht unter den Betonmischer gekommen. Oder sie hätte gerettet werden können. Ich werde bei Aktionen, an denen ich mich beteilige, auf solche Gefahren noch mehr achten. Ich hoffe, meine Mitaktivistis auch. Radikal müssen unsere Schritte schon sein, aber auch radikal menschlich.


[1] Zumindest nicht bei diesem „Schwarming“. Im Zusammenhang mit Großblockaden gab/gibt es auch sog. „Lock-Ons und Glue-Ons“.