So langsam komme ich in Weihnachtsstimmung und möchte alles ausblenden, was mich aufregt und verunsichert. Aber der schöne Weihnachtswunsch „Frieden in aller Welt!“ geht mir dieses Jahr schwer von der Hand beim Karten-Schreiben…

Es ist mir bisher selten bewusst geworden, dass diese vielen Jahre in Frieden während meiner Lebenszeit für fast ganz Europa ungewöhnlich sind. Durch die Drohung der Kernwaffen schienen „normale“ Kriege zumindest hier auch ausgeschlossen zu sein… Aber seit dem Februar 2022 sind wir doch aufgerüttelt worden. Auch wenn ich mich dagegen wehre, die ukrainischen Ermordeten wichtiger zu finden als die toten Kinder im Jemen und anderswo in der Welt… In der Zeit zwischen 1945 und 1990 starben ca. 200 Millionen Tote durch Kriege, aber nur 200 000 davon im „Globalen Norden“ (Dülffer 2019: 333).

Wir wissen, dass es auch in „unserer“[1] Geschichtschreibung eher um die aufeinanderfolgenden Kriege und nicht die Praxen der Friedenswahrung ging. (Kampmann 2019: 237) Sogar der Westfälische Friede wurde als „fast vergessenes Kapitel unserer Geschichte“ (zitiert ebd.) bezeichnet.  „Unsere“ Welt war allerdings tatsächlich seit vielen Jahrhunderten dominiert von Kriegen und Kämpfen, während Frieden lediglich so etwas wie eine „leere Zeit“ (Müller 2019: 114) bedeutete. Aber: was heißt „unsere“ Welt? Die Einschränkung auf die europäische Welt seit der Antike verleugnet Jahrtausende anderer Praktiken in anderen Weltregionen (z.B. bei den Indigenen Amerikas) und wohl auch bei uns. Und ein zweites Aber: War es für die Millionen einfacher Menschen in ihrem bäuerlichen Leben wirklich so, dass Friedenszeiten „leere Zeiten“ waren? Wenn nicht, dann fallen wir bei diesen Deutungen bloß auf die Heldenepen der siegreichen Herrschenden herein. Insgesamt dominiert z.B. in dem Buch „Frieden. Theorien, Bilder, Strategien. Von der Antike bis zur Gegenwart.“  (Dresden 2019) diese Art der Untersuchungen, die Marxist*innen „idealistisch“ nennen, also ohne Zusammenhang mit politökonomischen Grundlagen.

Gelernt werden kann in diesem Buch, dass die Bedeutung von „Krieg und Frieden“ immer diskutiert und umkämpft wurde und abhängig war von der politischen Wirklichkeit. Wenigstens in Europa gab es über die letzten Jahrhunderte hindurch wohl tatsächlich einen Trend der immer stärkeren Befriedung durch die Festigung von Staaten, die in ihrem Inneren „Ordnung und Frieden“ gewährleisteten und untereinander zwar oft in Konflikten standen, die aber immer mehr verechtlicht wurden.

Thomas Hobbes, der durch den englischen Bürgerkrieg bis 2649 herausgefordert war, schrieb dazu:

Menschen können ihr („natürliches“) Recht auf notfalls gewaltsame Selbstverteidigung nur unter einem funktionierenden staatlichen Gewaltmonopol aufgeben und „Die Staaten untereinander aber sind nur für die Sicherheit ihrer Bürger verantwortlich. […] Wie im Naturzustand jeder einzelne Mensch, so entscheidet jeder Staat selbst, wann andere Staaten seiner Sicherheit gefährlich werden können.“ (zit. in Siep 2919: 258)

Der allgemeine Kriegszustand ist, was von idealistischen Konzepten gern übersehen wird, basiert auch in der allgemeinen ökonomischen Konkurrenz, die im Feudalismus noch eher in hierarchischen Rang- und in Territorialkämpfen, oft mit religiöser Konnotation, ausgetragen wird, während sie im Kapitalismus eher direkt ökonomische Kampf-Formen annimmt, wodurch die Kriege untereinander in militärischer Weise eher „nur“ noch als Stellvertreter-Kriege im Interesse des eigenen geopolitischen Anspruchs stattfinden. Die seit damals sich durchziehende Grundlage, dass eigene Interessen nur gegen andere durchgesetzt werden können, ist wohl auch der Grund dafür, dass frühneuzeitliche Konzepte der Friedensstiftung und Wahrung bis heute Politik und Diplomatie prägen. (Kampmann 2019: 237) Sie erweisen sich als teilweise wirksam unter diesen Bedingungen, können aber einen universellen Frieden nur als Wunschtraum hegen.

Was sich im Durchlauf durch die Zeiten und Verhältnisse seit der Antike hindurchzieht, ist, dass auch die Bedeutung von „Frieden“ und ihre Verbindung mit anderen Werten wie Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit sich öfter wandelt. Frieden ist nie nur die Abwesenheit von Krieg und Gewalt, sondern setzt einiges voraus. So eine gemeinsame politische und Rechtsordnung (Wagner-Egelhaaf 2019: 401). Zu unterscheiden sind auch unterschiedliche Formen von Frieden, so der Sieg-Frieden, wie er in vormodernen Zeiten dominierte (der erst auf Basis der Zerstörung eines Gegners stattfinden konnte) und einem Versöhnungs-Frieden, der „nach seinem Abschluss ständiger und intensiver Pflege [bedarf]; das heißt: Er muss mit positiven Inhalten gefüllt werden.“ (Althoff 2019: 23) Der westfälische Frieden setzte z.B. auch voraus, dass „sämtliche Verbrechen, und Aktionen des Krieges […] mit dem Friedensschluss auf einen Schlag vergeben und vergessen sein“ sollten (Kampmann 2019: 252), d.h. die Sicherheit des Friedens hatte sogar Vorrang vor der Gerechtigkeit (ebd.: 253). In der DDR wurde wirklich hart daran gearbeitet, den Frieden mit der Sowjetunion „mit positiven Inhalten“ zu füllen. Einen großen Eindruck hat bei mir die Erzählung „Frühlingssonate“ von Willi Bredel (1961/1975) hinterlassen, das war in der DDR-Schule in der 9. oOder 10. Klasse zu lesen: Ein sowjetischer Hauptmann verwüstet nach dem zweiten Weltkrieg die Wohnung eines Deutschen und nach und nach kommt heraus, dass sein Sohn, seine Tochter und seine Frau durch die Deutschen ermordet worden waren, und der zwölfjährige Sohn sehr gut Geige gespielt hatte. In der Wohnung des Deutschen fanden regelmäßig kleine Familienkonzerte statt, zu denen der Hauptmann gerne eingeladen war. Aber plötzlich, gerade als sie meinten, ihm mit seinem Lieblingsstück, der Frühlingssonate von Beethoven, eine besondere Freude zu machen, tickte er aus und „demolierte die Wohnungseinrichtung“. Der deutsche Gastgeber erkannte dann schnell: „Die Schuldigen sind doch eigentlich wir. […] Die Mörder sind besiegt, aber die Menschen dieses Landes sind den Mördern nicht in den Arm gefallen, sie haben sie gewähren, das heißt morden lassen.“ (Bredel 1961/1975: 223). Ich erzähle das so ausführlich, weil es wohl doch gewirkt hat im Osten Deutschlands, weswegen vor allem dort das sofortige Einsetzen der Russen-Verteufelung nach dem Überfall auf die Ukraine nicht mit getragen wird.

Wenn wir uns die derzeitige Tonart gegenüber Russland anhören, dann zeigt sich deutlich, dass wir aufgrund der einseitigen Verteufelung einer Seite sogar wieder in vormoderne Zustande zurückfallen. Es scheint nur ein Sieg-Frieden möglich, alle Verweise auf beiderseitige Interessen werden pauschal verworfen. Damit wird aus der Erfahrung aus Afghanistan nichts gelernt (obwohl die Art Gegner in diesen Kriegen völlig andere sind): „Bemühungen um Gespräche, Verständigung, Wege zum Frieden mit den Konfliktgegnern begannen viel zu spät. […] Allzu viele setzten zu lange auf einen Siegfrieden.“ (Nachtwey 2019: 371)

Inzwischen gilt ja auch nicht mehr das Prinzip der Nichteinmischung in staatliche Souveränität, wie es seit dem Westfälischen Frieden dominierte, sondern ein Recht auf Interventionen von außen bei schweren Menschenrechtsverletzungen (Siep 2019: 258). Winfried Nachtwey schildert, dass er bei einem Besuch in Sarajewo einzusehen begann: „Es gibt Situationen, wo zum Schutz vor Massengewalt der Einsatz militärischer Gewalt notwendig, legitim und verantwortbar sein kann.“ (Nachtwey 2019: 365)

Damit sind wir bei dem großen Problem der Friedensbewegung: Es reicht nicht mehr aus, rigoros und abstrakt „für Frieden“ zu sein, um Antworten auf konkrete Kriege zu entwickeln. Und in der konkreten Diskussion splitten sich die Meinungen, die sich dann selbst ziemlich feindlich entgegenstehen.

Ich selbst habe immer darauf verwiesen, dass es darauf ankommt, „mit anderen Waffen“ gegen Kriege vorzugehen und „Gewaltfreie Alternativen“ stark zu machen. Nur zu Anfang gab es beim Russland-Ukraine-Krieg auch Berichte, dass das mutige Entgegentreten z.B. eines Ortsbürgermeisters zumindest die bei ihm einrückende Truppe zur Umkehr bewogen hat. Spätestens nach den Horror-Berichten aus Butscha war zu bedenken, dass eine gewaltlose Blockade eines militärischen Aggressors „aber voraus [setzt], dass sich die Angreifer oder Besetzer an minimale Regeln des Rechts im Krieg halten“ (Siep 2019: 267). Auf jeden Fall zeigt die Art der Berichterstattung über diese und jene Geschehnisse, dass es auch mächtige Interessen gibt, genau das Narrativ eines Gegners, mit dem man gar nicht verhandeln könne, zu stärken.

Was nun? Ich bin einigermaßen ratlos, außer dass ich nach wie vor darauf verweise, dass es eine Errungenschaft des Übergangs aus der Vormoderne zur Moderne war, bei allen Parteien Interessen vorauszusetzen und damit zu arbeiten.

Zu diesen Interessen gehört auf allen Seiten unbedingt die Sicherheit. So stark, dass das Sicherheitsinteresse inzwischen in der Weltpolitik den Frieden als Zielvorgabe häufig ersetzt. Es ist überhaupt ein Trend zur „Versicherheitlichung von immer mehr Politikfeldern“ (Conze 2019: 379) zu beobachten.

Sicherheit, so hat es den Anschein, ist als politischer Imperativ und Maxime politischen Handelns heute dem Frieden übergeordnet. Sicherheitsziele und ihre Durchsetzung rechtfertigen den Einsatz militärischer Macht, sie relativieren damit das Friedensgebot in den internationalen Beziehungen…“ (ebd.)

Es ist zu verstehen, dass die vielen ökonomischen, sozialen, ökologischen und anderen Krisen nun vor allem Sicherheit zum höchsten Wert machen:

„Nicht die Friedlosigkeit der Welt treibt die Menschen um, sondern Unsicherheit und Verunsicherung in ihrem individuellen Umfeld. Nicht mit dem Versprechen von Frieden wird in Wahlkämpfen gepunktet, sondern mit dem Versprechen von Sicherheit. Krieg und Friedlosigkeit der Welt beschäftigen die Menschen nur dann, wenn sie in ihren Folgen – allen voran Migration – zu Sicherheits- beziehungsweise Unsicherheitsthemen im unmittelbaren gesellschaftlichen Umfeld werden.“ (ebd.: 388)

Dieses Bedürfnis nach Sicherheit muss anerkannt werden. Aber es gilt die Antworten darauf grundlegen zu verändern: Sicherheit ist nicht gegen andere zu gewinnen, sondern nur mit ihnen. Das gilt für alle Bereiche, in denen die Sicherheit vermisst wird. Wir brauchen deshalb eine „Sicherheit 2.0“, bei der nicht die gegenseitige Bedrohung verstärkt wird, sondern bei der wir gemeinsam die Bedingungen für gemeinsame Sicherheiten schaffen – also zuerst die grundlegenden Konkurrenzbedingungen ausschalten. Wir brauchen statt Sicherheit gegeneinander eine neue Sicherheit auf Grundlage von anderen Bedingungen: eine nicht konkurrenz-, sondern kooperationsbasierte Wirtschafts- und Lebensweise, andere Formen von kooperativer Interessensvermittlung…

Das sieht im Fall des Kriegs zwischen Russland und der Ukraine nun wieder sehr unrealistisch aus. Aber manchmal sind nur noch Utopien realistisch!

Literatur:

Althoff, Gerd; Krems, Eva-Bettina; Meier, Christel; Thamer, Hans-Ulrich (Hrsg.) (2019): Frieden. Theorien, Bilder, Strategien. Von der Antike bis zur Gegenwart. Dresden: Sandstein.

Althoff, Gerd (2019): Vertrauensbildung. Zur Geschichte der elementaren Kategorie der Friedensherstellung. In: Althoff, Gerd u.a., S. 22-39.

Bredel, Willi (1961): Frühlingssonate. (Aus dem Roman „Ein neues Kapitel“) In: Lesebuch Klassen 9/10. Berlin, Volk und Wissen. 217-226.

Conze, Eckart (2019): Versicherheitlichung des Friedens. Zur Entwicklung des Verhältnisses von Frieden und Sicherheit in der jüngsten Zeitgeschichte. In: Althoff, Gerd u.a., S. 378-389.

Dülffer, Jost (2019): Friedensschlüsse und Friedlosigkeit 1945-1990. In: Althoff, Gerd u.a.,  S. 330-361.

Kampmann, Christoph (2019): Friedensnormen und Sicherheitspolitik. Grundprobleme frühneuzeitlicher Friedensstiftung am Beispiel des Westfälischen Friedens. In: Althoff, Gerd u.a., S. 236-254.

Müller, Jan-Dirk (2019): Das mühsame Geschäft des Friedens. Semantik und Erscheinungsform von vride in der Heldenepik. In: Althoff, Gerd u.a., S. 112-123.

Nachtwey, Winfried (2019): ›Nie wieder!‹ Nie wieder? Verantwortung zum Schutz vor Krieg und Massengewalt. In: Althoff, Gerd u.a., S. 362-377.

Siep, Ludwig (2019): Ewiger Friede und gerechter Krieg in der politischen Philosophie der Neuzeit. In: Althoff, Gerd u.a., S. 256-272.

Wagner-Egelhaaf, Martina (2019: Reden für den Frieden. Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und seine Öffentlichkeit. In: Althoff, Gerd u.a., S. 390-411.

 


[1] Dies ist in der marxistischen Geschichtsschreibung nicht so, weil es da mehr um politökonomische Veränderungen und Klassenkämpfe geht