Es war einmal ein Kultbuch – aber wer kennt es heute noch außer den Alten? Und wer wird es noch lesen, da es so sperrig ist. Ohne Absatz, lange Sätze, ineinander geflochtene Zeit- und Themenebenen – genau das Gegenteil von dem, was heute noch ankommen kann. Und außerdem vertritt der berichtende Protagonist den Standpunkt der Kommunisten, der Sowjetunion, was ja heute „gar nicht mehr geht“. Dabei war das Buch gegen Ende der DDR ein Geheimtipp in Lesegruppen, zu denen ich damals leider keinen Zugang hatte. Ich lernte es erst nach der „Wende“ kennen und ich zog mir alle Erkenntnisse rein, mit denen ich das Dilemma das „real existierenden Sozialismus“ bis in seine Wurzeln nachverfolgen konnte, vor allem die Streitpositionen zwischen Sozialdemokratie und Kommunisten vor 100 Jahren und danach und dann noch mal zwischen Kommunisten und Anarchisten (I,204ff, 228ff.…)  im Spanischen Befreiungskampf.

Das Buch beginnt mit einer Schilderung von Gesprächen von drei Jugendlichen vor dem Pergamon-Altar, dessen Darstellungen sie „gegen den Strich“ interpretieren. Zwei von ihnen werden von den Nazis ermordet werden. Wenn der Pergamon-Altar wieder zu sehen ist, will ich mich mal mit dem Buchausschnitt davorstellen und alles nachvollziehen. Viele, viele Gespräche sollen im Buch folgen. Die Protagonisten haben immer prononcierte Meinungen, sie vertreten jeweils Grundströmungen der Debatten – und man versteht all diese Strömungen aufgrund der aufgeführten Argumente. Auch wenn der Hauptprotagonist seine Meinung klarstellt, sind auch die Gegenpositionen klar und nachvollziehbar dargestellt und sie werden auf keine Weise polemisch „heruntergemacht“. Ich kann mich gut erinnern, als ich das Buch zum ersten und nächsten Mal las, wollte ich möglichst viel lernen daraus. Lernen, wie wir die Fehler demnächst vermeiden könnten. … Inzwischen erschlägt mich ein starkes Gefühl der Vergeblichkeit, mich überkommt der „Vergeblichkeits-Blues“. Da erzählt der Vater des Protagonisten von der Niederschlagung der Revolution 1919, die ihn deprimiert zurücklässt. Der Spanische Bürgerkrieg, an dem sich der Protagonist beteiligt, geht verloren und schließlich der Kampf gegen den erstarkenden Faschismus. Und bei den Kämpfen gehen die Besten drauf, die später auch fehlen werden. Zu DDR-Zeiten glaubten wir (einige von uns, muss man einschränken), wir würden deren Erbe weitertragen, ihre Opfer rechtfertigen. Nun jedoch werden ihre Opfer erneut mit Füßen getreten…, weil all ihre Kämpfe und Bemühungen nicht mehr wertgeschätzt, sondern eher in Bausch und Bogen verurteilt werden. „… daß die Opfer umsonst gebracht worden waren, eine solche Bezichtigung war nicht zu ertragen“ (II, 151). Das Buch von Peter Weiß setzte ihnen noch mal ein Denkmal, er nennt auch unbekanntere Namen, skizziert ihre kämpferischen Leben. Man versteht, dass und warum diese Leute ihr Leben in den Dienst des Sieges der Unterdrückten gestellt haben, ohne für sich selber etwas zu erwarten oder zu fordern. Dieses „sich der Sache unterwerfen“ wurde später nur noch als nicht zu rechtfertigende Unterwerfung bewertet, auch von mir. Was ich auf jeden Fall hier lernen kann, ist, dass es keine abstrakten Urteile/Verurteilungen geben darf. Dass die konkrete historische Situation jeweils eine konkret darauf angepasste begründete Handlungen erfordert, kein abstraktes Besserwissen vom „hohen Ross“ aus – im schlimmsten Fall noch von denen, die praktisch kaum einen Finger krümmen.

Kultur ist nach Peter Weiß nicht nur schönes Zierat, sondern ein wichtiger Faktor, uns selbst zu verändern, denn für seine Zeit stand die Frage: „Wie aber soll die Befreiung von uns selbst ausgehn, wie sollen die Umwälzungen vollzogen werden, wenn wir immer nur gelernt haben, uns zu fügen, uns unterzuordnen und auf Anweisungen zu warten?“ (I, 226f.) Heute müssten wir fragen: „Wie aber soll die Befreiung von uns selbst ausgehn, …, wenn wir immer nur gelernt haben, individualistisch auf jeweils mich zu schauen, wenn nur ich und die Anerkennung gerade meiner Besonderheit mir wichtig ist und ich jedes Zusammengehen in Frage stelle, sobald ganz genau meine Bedürfnisse da nicht mehr erfüllt werden?“.

Es ist gespenstig, wie sich die grundsätzlich gegensätzlichen Positionen von Sozialdemokraten und Kommunisten immer und immer wieder wiederholen (in Deutschland vor hundert Jahren (I,32ff., 188f., II, 101), wie auch in Schweden (II, 102ff., 259ff., 290ff.). Es ist halt immer dasselbe: IM Kapitalismus das Beste herausholen oder GEGEN ihn kämpfen. Das geht nicht zusammen. Gesiegt hat im vorigen Jahrhundert eigentlich die Sozialdemokratie. Aber nur auf Kosten der Ausbeutung des Rests der Welt. Und warum konnte sie überhaupt siegen? Haben die Gegner, hat die Kapital-Klasse die Vergünstigungen für die Arbeitenden freiwillig gegeben? Nein, sie reagierten immer nur auf die radikalen Kämpfe derer, die heute nur noch verunglimpft werden. Die einen opferten sich, die anderen sahnen ab – nach wie vor. Heute stellt sich die Frage wieder in Bezug auf die Öko- und Klimafrage: IM Kapitalismus versuchen oder geht’s doch nur GEGEN ihn?,

In all diesen Kämpfen sind auch keine Utopien zu verwirklichen, sondern sich in „Provisorien, Übergangsformen, Kompromissen“ (I, 246) zu bewähren. „Wir haben keine andre Wahl, als uns aus dem Unvollständigen die Bruchstücke herauszusuchen, die sich noch am ehesten mit unseren Absichten in Übereinstimmung bringen lassen.“ (II, 173) Die unterschiedlichen Zukunftsvorstellungen von Kommunisten und Sozialdemokraten hatten maßgeblich zu der Kluft zwischen ihnen beigetragen, die dazu führte, dass die triumphierenden Dritten, die Nazis, ihre Vorstellungen verwirklichen konnten.

Nur aus uns selbst kann die neue Kultur kommen, das lernen die drei vor dem Pergamon-Altar, im Leben und bei anderen Studien (I,87). Sie kämpfen um ihr Überleben, indem sie sich mit den gedanklichen Reichtümern der Welt beschäftigen (I,88). Dies geht nicht völlig verloren unterm Nazi-Fallbeil, denn einer der drei wird der Protagonist dieses Buches. Tief führt uns dieser Weg in die Erfahrung, dass Friedfertigkeit zwar löblich sein mag, aber den täglichen Verbrechen der Herrschenden kein Ende setzen kann. „Denn wären die Arbeiter auch zum friedfertigen Weg zur sozialen Gerechtigkeit bereit, die Besitzer der Produktionsmittel wären es nie. […] Unternahmen die Arbeitenden auch nur den geringsten Schritt über das Zugelassne hinaus, stellen sie ihre Forderungen in einem Ton, der die Unterwürfigkeit vermissen ließ, der einer Drohung gleichkam, schon reihten sich vor ihnen die Streitkräfte der Herrschenden auf, und dort wurde nie mit den Salven gespart“ (I,145). Weg mag sich, mit diesen Erfahrungen in Kopf und Herz, noch wundern über die Härte auch der Arbeiterführer? Wie verständlich wird hier nicht Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“: “Ach, wir / Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit / Konnten selber nicht freundlich sein.“ (vgl. I,149) „Ich gab zu, daß beim ständigen Umgang mit kranken Ordnungen auch in uns selber Mißbildungen entstehn mußten, doch dies war der Preis, den wir zu zahlen hatten, wenn eine Gegenwehr überhaupt stattfinden sollte.“ (II, 171).

Einen großen Raum nehmen die Debatten über die Sowjetunion ein und die möglichen Haltungen gegenüber dem Freundschaftspakt mit Deutschland (II, 207), mit den Säuberungen innerhalb der Sowjetunion (I,288ff.). Vieles davon war sonst in der DDR nie diskutiert worden. Auch wegen anderer Sätze war das Buch zu DDR-Zeiten so ein Geheimtipp: „Daß alles, was uns vorgesetzt wird, noch so richtig sein kann, und daß es doch falsch ist, solange es nicht von uns, von mir selbst kommt“ (I, 227). Und es wird klar gesagt, dass der „Sozialismus erbaut wurde dort, wo es keine Bereitschaft dafür gab.“ (III, 263). Und: „Der Sozialismus würde arm bleiben, während die Länder des Gelds hektisch aufblühten. […] Die unbegrenzten Möglichkeiten auf den Märkten würden die politische Strenge [im Sozialismus, AS] menschenfeindlich erscheinen lassen“ (III, 264). Die Grundhaltung war aber keine dissidente, sondern eine solidarische, eine, die das „Große und Ganze“ nicht zugrunde richten lassen wollte. „Reformkommunisten“ wurden Leute, die so dachten, auch mal genannt, während sie heute von den „Stalinisten“ eigentlich nicht mehr unterschieden werden. Dabei war das mal ein für die Reformer oft tödlicher Unterschied.

So, wie es heute nicht als „politisch korrekt“ angesehen wird, über die Vorgeschichte des Ukraine-Kriegs zu sprechen, so darf man schon lange auch über die Vorgeschichte, die nicht alles entschuldigende, aber viel erklärende Vorgeschichte des Stalinismus nichts verlauten lassen. Beim reflektierten Durchgang durch die Kämpfe des 20. Jahrhunderts jedoch mag vieles verständlicher werden, und nur wer all dies moralisch sauberer durchstände, dürfte sich über die damals Kämpfenden moralisch erheben. Und Kampf bedeutet: Nicht nur besserwisserisch darüber reden, sondern sich mit seiner ganzen Persönlichkeit unter vollem Risiko einbringen. So etwas gibt es wahrscheinlich sowieso nur, solange es überhaupt keinen Ausweg in Richtung eines ansonsten doch ganz gemütlichen Lebens außerhalb dieser Kämpfe gibt. Heute sind die meisten der Fridays for Future-Demonstranten wieder brav in der Schule, nur eine Handvoll Aktivisten zerstreuen sich in die wieder vorhandenen Extreme der einerseits radikalen Aktionen („Klima-Kleber“) und andererseits jener, die den langen Marsch durch die Institutionen der Stadträte und Parlamente zugunsten geringfügigster klimapolitischen Verbesserungen antreten. Weiß schreibt: „Und eben in dem Unvermögen der Menschen, sich seine eigene Auslöschung vorzustellen, fand der Faschismus seine Voraussetzung.“ (II, 118). Umso mehr findet auch die ökologische und Klimakatastrophe darin ihre Voraussetzung und ihre wahrscheinlich barbarischen Verlaufsformen auf sozialem Gebiet.

Vergeblichkeiten über Vergeblichkeiten – aber geschrieben wurde das Buch hauptsächlich über jene, die sich weiter „zäh auflehnen“ (I,35), die wie die untergehende „Dämonin der Erde“ auf dem Pergamon-Fries noch ihr wenn auch schmerzverzerrtes, zu großen Teilen zerstörtes menschliches Antlitz bewahren, die in guten Kunstwerken gezeigt werden in ihrer Würde, welche auch im Untergang noch etwas Wichtiges bedeuten. Die Rolle der Kunst und Kultur ist überhaupt eins der wichtigsten Motive im Buch „Die Ästhetik des Widerstands“ – wie zeigt sich das, was sich von Enttäuschung zu Enttäuschung eben doch nicht nur vergeblich war? Jedes Mal werden auch neue Erfahrungen gewonnen (I,63). Allerdings, die ökologische und Klimakatastrophengefahr wartet nicht mehr, wir können nicht mehr darauf setzen, dass es „die Enkel besser ausrichten“ werden, wie seit den niedergeschlagenen Bauernkriegen gehofft wurde. Der im Buch erinnerte Beweis des „Willens zur Befreiung, [der] Idee der Gerechtigkeit“ (I, 311) kann verhallen in einer unwirtlich gewordenen Welt, in der die übrigebliebenen Menschen alles Gewesene undifferenziert verdammen werden.

Illustriert wird das Sinnbild eines Lebenszustands in der Katastrophe durch das Gemälde „Das Floß der Medusa“ von Théodore Géricault (I, 343ff.). Einer nur, ein Afrikaner, der wohl als Sklave verkauft werden sollte, richtet sich noch nach vorn auf, nach einem Vorne, das vom Betrachter weggewendet ist. Peter Weiß sieht, wie sein Protagonist, gerade in der in der Kunst die Werte, „die ein Versperrtsein, eine Verlorenheit überwanden“, indem sie Visionen gestaltet und damit „der Melancholie Abhilfe leistet“ (II, 33, vgl. III, 134f.). Auch bei B. Brecht findet der Protagonist eine „intellektuelle Freiheit […], die uns die gegenwärtige Bedrängnis überwinden ließ und historische Perspektiven möglich machte“ (II, 255). Nur humanistische Werte, so schreibt Weiß an anderer Stelle, hätten sich „im enttäuschenden, desillusionierenden, verbitternden, aufreibenden Kampf“ (II, 278) als haltbar erwiesen. Bertold Brecht soll im Exil in Schweden an einem Stück über den Engelbrekt-Aufstand im 15. Jahrhundert in Schweden gearbeitet haben. Obwohl der auch keinen durchschlagenden Erfolg hatte, blieben die schwedischen Bauern von der Leibeigenschaft verschont und sie konnten „nie mehr in die Erniedrigung“ der Vor-Aufstandszeit zurückgeworfen werden (II, 310).

Trotzdem lässt die Illegalität in der Nazizeit kaum die Luft zum Atmen. Viele kommen um, die Übriggebliebenen können nicht glücklich werden. „… mit Hoffnungen lasse sich dieses Leben nicht mehr ertragen“ (III, 131). Eine, die sich später das Leben nahm, hatte „sich zurückgezogen in das, was es in ihr noch an Unversehrtheit gab, und sich von dort aus, mit den Energien, die ihr noch blieben, aufgelehnt gegen die Eingriffe, die auch ihr persönlichstes Denken und Fühlen wegschneiden wollten“ (III, 37). Auch in ihrem Scheitern zeigt sich letztlich: „Es sei in uns ein neuer Menschentyp angelegt, zu dem hätte ich mich zu bekennen…“ (III, 46). In uns darf das Vernichtende nicht eindringen, indem es uns alles als sinnlos erscheinen lässt! (ebd.: 49). In dem Widerstand, der der Vernichtung immer noch trotzt, zeige sich „eine Lebenskraft, die sich nicht vernichten“ lässt (III, 184). Solange der letzte auf dem Rettungsfloß der Medusa noch aufrichtet.


 

Quelle: Peter Weiß: Die Ästhetik des Widerstands, 3 Bände, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983.