Bei der Beschäftigung mit Geschichte habe ich festgestellt, dass es sinnvoll sein kann, verschiedene Fragestellungen an das historische Geschehen und das, was man dazu liest, zu unterscheiden. Das möchte ich hier vorstellen und zur Diskussion stellen:
1. Geschichte
Da ist zuerst jener Bereich, in dem bestimmte zeitlich, räumlich oder auch thematisch beschränkte geschichtliche Geschehnisse empirisch und theoretisch untersucht werden. In der damit befassten Wissenschaft „Geschichte“ geht es darum, „der Bewegung des Konkreten so wie es ist genau auf der Spur zu bleiben“, was „jedoch stets bedroht ist von der Gefahr, sich in seiner unausschöpflichen Besonderheit zu verlieren, ohne daß es gelingt, die allgemeine innere Notwendigkeit zu fassen“ (Séve 1976: 137).
2. Geschichtstheorie
Auch wenn manche die Wissenschaft Geschichte auf diese Form von Theorie beschränken möchten, gibt es doch immer auch übergreifende paradigmatische Konzepte, die in eine „Geschichtstheorie“ eingehen. Zwei solche nicht miteinander vereinbaren Konzepte, d.h. Geschichtstheorien sind z.B. die, bei dem davon ausgegangen wird, „daß die Weltgeschichte in einem geschlossenen Horizont von etwa 6000 Jahren währen wird“ und jene, die annimmt, dass Menschen „auf einem Zeitstrahl des Fortschritts in immer neue Zukünfte vorwärtsgeschleudert werden“ (Kittsteiner 2006: 39.). Auf dieser Ebene werden auch jeweils allgemeine Begriffe gebildet, wie für den Marxismus „Gesellschaftsformation“, „Produktivkräfte“, „Eigentumsverhältnisse“, „Klassen“ usw. usf…. Was soll man von dieser Vielfalt der Geschichtskonzepte und -theorien halten? Können wir einfach eine aussuchen und als die „wahre“ annehmen?
3. Geschichtsphilosophie
Letztlich sind alle Geschichtstheorien eingebettet in ihre Zeit. Sie sind, wie auch die naturwissenschaftlichen Theorien Praxen von Menschen, sie sind „allgemeine Arbeit“ (vgl. Schlemm 2004, 2005: 220). Als solche können sie wie andere Arbeitsprozesse analysiert werden. Dazu gehört ihre Einbettung in den jeweiligen historischen Kontext. Für die Naturwissenschaft setzt hier die „Philosophie der Naturwissenschaften“ ein. Diese Art, sich mit Geschichtstheorien zu beschäftigen, kann demnach auch als „Geschichtsphilosophie“ betrachtet werden.
„Die Art und Weise, wie Menschen sich selbst in ihrer Geschichte verorten, wie sie ihre Geschichte denken, wird selbst zum Untersuchungsgegenstand.“ (Wagner 2016: 50)
Heinz-Dieter Kittsteiner (1974) untersuchte z.B., wie sich die Tatsache, dass in der DDR die „Aufgabe der „Bewußtseinsbildung“ […] der Historiographie vorgegeben“ war, auf die Geschichtswissenschaft auswirkte (vgl. auch Kunkel 1987).
Literatur:
Kittsteiner, Heinz-Dieter (1974): Bewusstseinsbildung, Parteilichkeit, dialektischer und historischer Materialismus. Zu einigen Kategorien der marxistisch-leninistischen Geschichtsmethodologie. Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Jg. 10/1074, S. 408-430.
Kunkel, Wolfgang (1987): Geschichte als Prozeß? Historischer Materialismus oder Marxistische Geschichtstheorie. Hamburg: VSA-Verlag.
Schlemm, Annette (2004): Wissenschaft als allgemeine Arbeit. (auch in Schlemm 2005)
Schlemm, Annette (2005): Wie wirklich sind Naturgesetze? Auf Grundlage einer an Hegel orientierten Wissenschaftsphilosophie. Münster: LIT-Verlag.
Séve, Lucien (1976): Über die materialistische Dialektik. Frankfurt am Main: Verlag Marxistische Blätter.
Wagner, Jannis (2016): Gewissen und Geschichte. Zur thematischen Beharrlichkeit im Werk Heinz Dieter Kittsteiners. In: Brockmann, Agnieszka; Wagner, Jasmin (Hrsg.): Sinn/Bild der Geschichte? Kolloquium zur Erinnerung an die Antrittsvorlesung von Heinz Dieter Kittsteiner. Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) 2016. S. 46-59.
Dieser Text gehört zum Projekt „Geschichtsphilosophische Fragmente“
Januar 16, 2019 at 10:46 am
A: „Gesellschaftsformation“, „Produktivkräfte“, „Eigentumsverhältnisse“, „Klassen“
P: Ich dachte, das sind Begriffe der Politischen Ökonomie …
A: Können wir einfach eine [Geschichtstheorie] aussuchen und als die „wahre“ annehmen?
P: Ja, natürlich können wir! Nur wird eine Theorie, die ihren Gegenstand nicht richtig beschreibt i. d. R. nicht zu richtigen Ergebnissen gelangen. Z. B., wenn man versucht, Quantenphänomene mit klassischer Physik zu beschreiben.
A: Dazu gehört ihre Einbettung in den jeweiligen historischen Kontext. Für die Naturwissenschaft setzt hier die „Philosophie der Naturwissenschaften“ ein.
P: Ich würde hier zwischen Geschichte und Philosophie unterscheiden; auch die Philosophie einer Wissenschaft besitzt eine Geschichte.
A: wie sich die Tatsache, dass in der DDR die „Aufgabe der „Bewußtseinsbildung“ […] der Historiographie vorgegeben“ war, auf die Geschichtswissenschaft auswirkte
P: In der Tat, da Wissenschaft eine Unternehmung von Menschen ist, wird ihre Durchführung von außerwissenschaftlichen Bedingungen und Kriterien beeinflusst (Ideologie, Religion, Finanzen u. a. Ressourcen).
Alles Gute für 2019!
Januar 17, 2019 at 9:46 am
„A: „Gesellschaftsformation“, „Produktivkräfte“, „Eigentumsverhältnisse“, „Klassen“
P: Ich dachte, das sind Begriffe der Politischen Ökonomie …“
Es sind gesellschaftstheoretische Begriffe, die in der Kritik der politischen Ökonomie verwendet werden, aber auch zur Kennzeichnung von jeweils konkret-historischen Gesellschaften, und deshalb sind sie es, mit denen sich geschichtliche Veränderungen beschreiben lassen.
Januar 17, 2019 at 9:48 am
„A: Können wir einfach eine [Geschichtstheorie] aussuchen und als die „wahre“ annehmen?
P: Ja, natürlich können wir! Nur wird eine Theorie, die ihren Gegenstand nicht richtig beschreibt i. d. R. nicht zu richtigen Ergebnissen gelangen. Z. B., wenn man versucht, Quantenphänomene mit klassischer Physik zu beschreiben.“
Ja, genau deshalb meine ich, dass die Analyse darüber, was warum als Gegenstand gilt und wie er jeweils erfasst wird, dann in der Philosophie geschieht. Auch PhysikerInnen/GeschichtswissenschaftlerInnen denken selber darüber nach – aber letztlich wenn der Analysegegenstand direkt das Verhältnis der Menschen (auch der Wissenschaft treibenden) und ihren jeweiligen Gegenständen ist, dann wird nicht mehr Einzelwissenschaft (Physik oder Geschichte) betrieben, sondern Wissenschafts- bzw. Geschichtsphilosophie.
Januar 17, 2019 at 9:49 am
„A: Dazu gehört ihre Einbettung in den jeweiligen historischen Kontext. Für die Naturwissenschaft setzt hier die „Philosophie der Naturwissenschaften“ ein.
P: Ich würde hier zwischen Geschichte und Philosophie unterscheiden; auch die Philosophie einer Wissenschaft besitzt eine Geschichte.“
Ja, natürlich. Das kommt dann noch mal hinzu. Wäre die 4. Ebene.
Januar 16, 2019 at 6:44 pm
Es liest sich, als seien es drei Schichten von Geschichte, die voneinander zu trennen seien. M.E. ist eine solche Trennung nur theoretisch möglich, etwa um sich der eigenen Voraussetzungen zu vergewissern. Wie ich das meine, lässt sich am besten ganz praktisch erläutern:
Als Ingenieur habe ich (auch) abgeschlossene Bauvorhaben geprüft um im Nachhinein zu ermitteln, warum es etwa zu Kosten- oder Terminüberschreitungen oder irgendwelchen anderen Fehlleistungen kam. Und selbstverständlich waren für eine solche Episode er allerneuesten Geschichte nur Fakten gefragt. Es geht also um „(1) Geschichte“.
Allerdings setzen auch solche materiell nachprüfbaren Fakten eine Theorie dessen voraus, was Fakt ist und was nicht. Beispiel: Wenn ich feststelle, dass im Bauwerk eine Wand fehlt, so hängt diese Feststellung als Fakt davon ab, ob ich einen Plan lesen und mit dem gebauten Objekt vergleichen kann. Und ich muss mich an die dafür geltenden Regeln der Theorie halten. (Anmerkung: Wenn ich „alternativen Fakten“ zulasse, dann wird jede Feststellung eines Fakts zum Fake. Das heißt „alternative Fakten“ zerstören gezielt das, was verbindlich als Wirklichkeit gilt.) Daraus folgt, bereits das Faktische ist als „Rohstoff“ jeder Geschichte theoretisch geformt. Dies gilt erst recht für die Interpretation dieser Fakten, also: „(2) Geschichtstheorie“ in der im konkreten Fall das festgestellte Geschehen auf der Baustelle als schlüssiger Weg ins Desaster etwa des BER erscheint.
Eine Interpretation ist ihrerseits nur möglich vor dem Hintergrund von meist nur impliziten Werthaltungen und Einschätzungen, die sich explizit als Philosophie formulieren lassen – „(3) Geschichtsphilosophie“. Um am Beispiel BER zu bleiben (mit dem ich gottlob nichts zu tun habe), kann ich das Geschehen als Abfolge ökonomischer und technischer Fehlentscheidungen interpretieren und/oder als Ergebnis von Macht- und ökonomischen Interessenkonflikten zulasten der Bürger.
Genau betrachtet gibt es bei den „Schichten von Geschichte“ keinen Aufstieg vom Besonderen zum Allgemeinen sondern bestenfalls ein schrittweises Reflektieren der eigenen Positionen. Bereits in und mit den Fakten drücken sich Theorien und Philosophie von Geschichte aus. Und wahrscheinlich nicht nur von Geschichte.
Januar 17, 2019 at 9:50 am
Ja das stimmt. So ist es gemeint: „Es liest sich, als seien es drei Schichten von Geschichte, die voneinander zu trennen seien. M.E. ist eine solche Trennung nur theoretisch möglich“
Wobei ich denke, das mit dem Vorsatz deutlich gemacht zu haben: Es geht um „verschiedene Fragestellungen an das historische Geschehen und das, was man dazu liest, zu unterscheiden“, und das Fragen stellen, lesen und unterscheiden sind theoretische Praktiken.