Der neue Bericht an den Club of Rome als „Survivalguide für unseren Planeten“

(Mit meinem Einverständnis stark gekürzt und verändert
veröffentlicht in „unsere zeit“ vom 4.11.2022)

Warnungen seit einem halben Jahrhundert

Viele Erzählungen über den Beginn der Umweltkrisen und globalen Probleme beginnen mit dem berühmten Bericht an den Club of Rome mit dem vielsagenden Titel: „Die Grenzen des Wachstums“ (Meadows u.a. 1973). Dieser Bericht erschien 1972, also vor genau 50 Jahren. Nach 20 Jahren wurde überprüft, inwieweit die im ersten Bericht ermittelten Entwicklungstrends eingetreten sind. Bereits damals wurde festgestellt, „daß die Nutzung zahlreicher Ressourcen und die Akkumulation von Umweltgiften bereits die Grenzen des langfristig Zuträglichen überschritten haben“ (Meadows u.a. 1992: 11). Damals zeigten sich die Umweltprobleme vor allem in vereinzelter Weise, der Ozonabbau hatte nichts direkt mit dem Waldsterben im Erzgebirge zu tun. Und die Gesellschaftsform schien auch keinen Unterschied zu machen, im Westen wie im Osten hatte die rasante Industrialisierung, bevor die besonders „dreckigen“ Industrien aus dem Westen in andere Weltregionen exportiert wurden, schlimme lokale Auswirkungen. Die Erkenntnisse von Karl Marx und Friedrich Engels zur Einbettung der wirtschaftlichen Aktivitäten der Menschen in ökologische Zusammenhänge wurden leider weitgehend (nicht vollständig, siehe Schlemm 2015) ignoriert und das Konzept der „Grenzen des Wachstums“ lediglich als Erscheinung des untergehenden, keine Auswege mehr sehenden Kapitalismus abgewertet. Die Natur kümmert solche ideologischen Debatten nicht, sie zeigt uns, „daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht“ (Engels MEW 20: 453).

Viele, die die Probleme nicht wahrhaben wollen, wenden die Fortexistenz der Menschheit seit dem ersten Bericht gegen seine Aussagen: „Die Welt ist doch noch nicht untergangen – die Voraussagen stimmen nicht!“. Allerdings geht es bei diesem Bericht gar nicht direkt um Voraussagen, sondern um Aussagen des Typs: „Wenn dies oder jenes (nicht) unternommen wird, dann ist mit bestimmter Wahrscheinlichkeit dies oder jenes zu erwarten“. Wenn nicht genügend unternommen wird, um den erwartbaren Problemen zu begegnen, wird dieses Szenarium „Business as usual“ (dt.: „Geschäft wie immer“) genannt. Der erste Bericht erhält für diesen Fall das Ergebnis, dass es ab ca. 2020 mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem starken Rückgang der zugänglichen Rohstoffvorräte sowie einschneidenden Umweltproblemen kommt und deshalb die Industrieproduktion wie auch die Bevölkerungszahlen zurückgehen werden (Meadows u.a. 1972: 113f.). Leider (!) jedoch gab es noch mehr Rohstoffe als damals angenommen, deren massenindustrielle Nutzung die Erdsysteme nun an den Rand der Aufnahmefähigkeit der dabei entstehenden Abfallstoffe gebracht haben, was derzeit für die Hauptprobleme verantwortlich ist. Zwanzig Jahre nach dem ersten Bericht wurden neue Berechnungen durchgeführt. Sie zeigen auch für eine angenommene „Verdopplung der Ressourcenmenge“ lediglich eine recht geringe zeitliche Verschiebung der Krisen nach hinten (Meadows u.a. 1992: 170; Meadows 2010: 82; Herrington 2021; Dixxon-Decléve u.a. 2022: 24f.). Für eine Rettung schlugen die Autor:innen 1972 vor allem eine Bevölkerungsbeschränkung und neue Technologien vor (ebd.: 238). Wir werden überrascht sein, wie viel die Autor:innen des aktuellen Berichts diesbezüglich gelernt haben.

Auch nach dreißig und vierzig Jahren gab es Überprüfungen der Methode und der Ergebnisse (z.B. Turner 2012, 2014). Leider verwirklichte sich in dieser ganzen Zeit im Wesentlichen das Szenario: „Business as usual“, also die schlechtestmögliche Variante mit all ihren Folgen, die mittlerweile auch im Konzept der mehr und mehr überschrittenen „Planetaren Belastungsgrenzen“ (Rockström u.a. 2009, Steffen u.a. 2015) erfasst werden.

Verheerende Bilanz

Im aktuellen Bericht an den Club of Rome mit dem Titel „Earth for all“ (dt.: Erde für alle) (Dixxon-Decléve u.a. 2022) sieht die Bilanz dieses Wegs verheerend aus. Ganz knallhart wird formuliert, dass wir uns „inmitten eines planetaren Notstands“ (ebd.: 9, vgl. ebd.: 30) befinden. Indien litt in diesem Sommer unter einer unerträglichen Hitze, in Teilen Afrikas herrscht „die schlimmste Dürre seit vier Jahrzehnten“ (Rast 2022: 9). Im aktuellen „Living Planet Report 2022“ wird über den Zusammenhang zwischen sich gegenseitig antreibenden Klimawandel und Artenverlust berichtet (WWF 2022). Ein Blick in die Medien, der allerdings vorbei gehen muss an TikTok und RTL, zeigt die täglichen Katastrophen. Nichts ist unwahr an den Warnungen der Szenarien des „Business as usual“ – wir hier in privilegierten Ländern merken nur noch nicht so viel davon, bzw. können nach Störungen wie den Überflutungen im Ahrtal wieder in den Modus „Business as usual“ zurückschalten.

In den Mittelpunkt der Gefahren ist der Klimawandel gerückt, der schon von seinem natürlichen Verlauf her kein kontinuierlicher Wandel, sondern ein abrupter Klima-Umbruch sein wird. Auch die früheren Berichte an den Club of Rome hatte ihn schon auf dem Schirm. Seit dem Bericht des Weltklimarats (IPCC) von 2018 ist bekannt, dass ohne eine radikale Energieverbrauchssenkung oder ungedeckte Versprechen darauf, dass nach 2050 extrem große Mengen an Kohlendioxid wieder aus der Atmosphäre entfernt werden oder die Sonneneinstrahlung auf die Erde technokratisch manipuliert werden könnte (Schlemm 2022) das 1,5-Grad-Ziel schon nicht mehr zu erreichen ist. Es ist inzwischen sehr wahrscheinlich geworden, dass mindestens eine global-durchschnittliche Temperaturerhöhung um die 2 Grad und darüber erreicht wird. Im neuen Bericht an den Club of Rome wird dazu festgestellt: „Die globale Durchschnittstemperatur wird um weit über 2 Grad Celsius steigen […], Große Bevölkerungsgruppen werden immer mehr extreme Hitzewellen erleben, verheerende Dürren, die zu häufigen Ernteausfällen führen, Starkregen und steigende Meeresspiegel.“ Damit ist auch eine „Gefahr regionaler gesellschaftlicher Instabilität“ verbunden (Dixxon-Decléve u.a. 2022: 14).

Kippen die Systeme oder können wir sie noch retten?

Die Berichte an den Club of Rome basieren seit eh und je auf systemtheoretischen Konzepten. Marxist:innen würden auch von Dialektik sprechen, wenn alle Teilmomente so miteinander zusammen hängen, dass sie nicht mehr voneinander trennbar sind und sie ein gemeinsames Ganzes bilden, das sich aus den widersprüchlichen Wechselbeziehungen dieser Teilmomente konstituiert. Veränderungen finden nicht nur in linearer Weise von etwas Verursachendem hin zu etwas Bewirktem hin, sondern es finden Rückkopplungen statt, bei dem sich Veränderungen entweder gegenseitig ausgleichen oder gegenseitig beschleunigend aufeinander einwirken. Im letzten Fall können Systemzustände in ziemlich kurzer Zeit „umkippen“ und dies ist im hier diskutierten Fall eher keine „gute Botschaft“ einer „sprunghaften Höherentwicklung“, sondern eines ziemlich rapiden Kollapses und Zusammenbruchs bisher erreichter Biosystem- oder zivilisatorischer Qualitäten. Solche Kipp-Elemente mit kritischen Kipp-Punkten sind z.B. auch innerhalb des Klimasystems bekannt, wie die Befeuerung der Erderhitzung durch Treibhausgase, die beim Auftauen der Permafrostgebiete freigesetzt werden. Aber auch die anderen Faktoren, die als „Planetare Belastungsgrenzen“ erkannt wurden, wie die Überlastung der Gewässer mit Stickstoff und Phosphor aus der Überdüngung, die Belastung mit künstlichen Stoffen wie Plastik in den Weltmeeren, die Übernutzung von Süßwasserressourcen etc. haben solche Kipp-Punkte. Der neue Bericht an den Club of Rome warnt nicht nur davor, dass wir in Zukunft solche Kipp-Punkte erreichen könnten, sondern: „Die Gefahr, an Kipppunkte zu gelangen, droht also nicht erst zu einem späteren Zeitpunkt in diesem Jahrhundert. Wir können nicht ausschließen, dass die Erde bereits mehrere Kipppunkte überschritten hat.“ (ebd.: 30)

Trotz dieser schon ziemlich verfahrenen Situation ist das Schicksal der Menschen noch nicht vollständig besiegelt. Was in den nächsten entscheidenden Jahrzehnten geschieht, hängt immer noch davon ab, was wir tun. Die Autor:innen der „Earth4All-Initiative“, die 2020 als „internationales Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Ökonomen und Expertinnen aus unterschiedlichen Disziplinen“ (ebd.: 11) gegründet worden war, entwickelten das systemtheoretische Modell der Szenarien auf Grundlage des Modells, an dem 1972 der Mitautor Jorgen Randers schon beteiligt war, weiter. Eine „Vielzahl von Annahmen über das menschliche Verhalten, die künftige technologische Entwicklung, das Wirtschaftswachstum und die Nahrungsmittelproduktion“ führen zu Aussagen darüber, „wie sich all dies auf die Biosphäre und das Klima auswirkt“ (ebd.: 12). Im Unterschied zu klimawissenschaftlichen Erdsystemmodellen, bei denen die natürlichen Systeme im Mittelpunkt stehen, in die dann noch soziale Faktoren integriert werden, basiert das Earth4All-Modell auf eher wirtschaftlich-sozialen Grundlagen, in die die ökologischen Schwerpunkte, wie Globale Erwärmung, integriert wurden. Wichtige gesellschaftliche Indikatoren sind das Wohlergehen, soziale Spannungen und gesellschaftliches Vertrauen.

Zwei Alternativszenarien

Je nachdem, wie die Wirkungsflüsse „gelenkt“ werden innerhalb der komplex aufeinander einwirkenden Faktoren, entstehen unterschiedliche Szenarien der zukünftigen Entwicklung. Die zwei Hauptalternativen kennzeichnen die Strategie des „Zu spät zu wenig“, in der im Wesentlichen alles so verhängnisvoll bleibt, wie es ist und als Alternative die Strategie des „Großen Sprungs“, bei dem eine „echte und grundlegende Neugestaltung der Wirtschafts-, Energie- und Nahrungsmittelsysteme“ (ebd.: 47) vorgenommen wird. Auch im schlimmeren Fall, in dem sich die Menschheit ohne grundlegende Änderungen „durchzulavieren“ versucht, bricht noch nicht gleich alles zusammen – aber die Wahrscheinlichkeit für soziale Zusammenbrüche steigt eminent an; von Handelskriegen und Migrationsströmen ist die Rede (ebd.: 62). Dies wäre nur mit dem „Großen Sprung“ aufzuhalten. Dieser „Große Sprung“ beinhaltet vor allem 5 Kehrtwenden an den Hebelpunkten der Systemdynamik. Hebelpunkte sind jene Stellen, an denen „eine kleine Veränderung an einer Stelle große Veränderungen in allen Bereichen bewirken kann“ (ebd.: 190). Im neuen Bericht an den Club of Rome beziehen sich die ersten drei Hebel auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und nur zwei auf bio-und energiebezogene Faktoren wie die Land- und Energiewirtschaft. Die drei sozioökonomischen Hebel sind: die Beseitigung der Armut, die Beseitigung der eklatanten Ungleichheit und die Ermächtigung insbesondere der Frauen. Während der Bericht von 1972 eher plump das Wachstum der Bevölkerung und der Wirtschaft im Allgemeinen kritisierte, steht jetzt im Mittelpunkt, dass bei der gegebenen extrem ungerechten Verteilung der Vermögen die ärmeren Menschen keinen Grund haben, in irgend einer Art zu verzichten oder ihren Anteil nicht mehr wachsen zu lassen. Die durch die Ungleichheiten und die extreme Armut auf der einen Seite verursachten sozialen Spannungen blockieren jede vernünftige Lösung der Probleme, deshalb müssen diese Blockaden aufgesprengt werden. Fakten zur Ungleichverteilung des Reichtums werden deutlich benannt. So verbraucht die reichste Milliarde Menschen 72 Prozent der globalen Ressourcen, während die ärmsten 1,2 Milliarden nur 1 Prozent verbrauchen. (ebd.: 81) Auch bei den Treibhausgasemissionen ist der übergroße Anteil den Reichsten zuzuschreiben: „Ohne einen Kurswechsel besteht die Gefahr, dass das winzige Kohlenstoffbudget, das der Menschheit noch bleibt, durch Privatjets aufgebraucht wird.“ (ebd.: 171)

Was wäre zu tun?

Was schlagen die Autor:innen der Studie nun vor? Sie sind keine Revolutionäre im marxschen Sinne: Das Privateigentum wird nicht in Frage gestellt und die ungerechten Verteilung soll nur, aber wenigstens auf das Maß reduziert werden, wie es etwa für skandinavische Länder gilt: Die reichsten 10 Prozent der Gesellschaft sollen nicht mehr besitzen, als es dem Gesamteinkommen der ärmsten 40 Prozent entspricht (ebd.: 103). Dies soll erreicht werden durch eine progressive Einkommenssteuer, die Stärkung der Verhandlungsmacht von Arbeitnehmer:innen und einer allgemeinen Grunddividende (ebd.: 104f.). Man sieht, dass einerseits durch Staaten initiierte Zugriffe auf die Vermögen das Mittel der Wahl sind, was abgesichert werden soll durch eine Stärkung der „Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ und der „Förderung gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht“ (ebd.: 102). Das Ziel des Wirtschaftens soll nicht mehr im Geldverdienen (also der Profitmacherei) bestehen, sondern in der Erhöhung des allgemeinen Wohlergehens. Es entstünde eine „Wohlergehensökonomie“ (ebd.: 48), die den Bedürfnissen aller Menschen gerecht wird, ohne die planetaren ökologischen Belastungsgrenzen zu überschreiten. Die früher etwas plump angegangene Bevölkerungszahlproblematik ist nun eingebettet in eine „Neuausrichtung auf Bildung, allgemeine Gesundheitsversorgung und Umkehr des Bevölkerungswachstums“, die ein „zentraler Punkt: Geschlechtergerechtigkeit“ (ebd.: 130) verbindet.

In der Landwirtschaft müssen bis 2050 rund 80 Prozent der Ackerflächen umgewandelt werden, so dass sie regenerativ wird, also unter weitestgehendem Verzicht auf den Zusatz chemischer Stoffe, sondern durch den Aufbau gesunder Böden, pflanzlicher Vielfalt und der Wiederherstellung von gesunden Ökosystemen funktioniert (ebd.: 151). Dabei können erfahrungsgemäß sogar die Ernteerträge erhöht werden, allerdings erfordert dies große Investitionen. Auch das Problem der Dominanz von Agrarmonopolen wird gesehen (ebd.: 162), ohne dass dafür klare Lösungen angegeben werden. Der Gefährdung der Lebensmittelsicherheit soll u.a. durch die Errichtung eines „Food System Stability Board“ begegnet werden, wie es für die Finanzen für die G20-Länder auch eingeführt wurde (ebd.: 162). Wenn die Energieversorgung auf sich erneuernde Energien umgestellt ist, wird schließlich sogar ein „Überfluss“ an Energie versprochen (ebd.: 168), was angesichts des erhöhten Einsatzes an Arbeitskräften, Material und Fläche zum „Einsammeln“ der sich erneuernden Energien fraglich sein dürfte.

Die Autor:innen der Studie schätzen, dass ca. 2 bis 4 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts eingesetzt werden müsste, um die Wirtschaft generell in die neue Richtung umzusteuern. Das bedeutet eine massive Erhöhung der Effizienz, die „Umstellung auf bewusstere Produktion und geringeren Konsum“ (ebd.: 169) sowie eine konsequente Kreislaufwirtschaft. Neben der „Umverteilung des Wohlstands“, der „nicht verhandelbar“ ist, ist auch „eine Umgestaltung der Märkte und langfristiges Denken“ (ebd.: 16) notwendig.

Die Umverteilung soll vor allem auf folgendem Weg erreicht werden: Der ökologische Reichtum der Welt wird als Gemeingut deklariert und festgestellt, dass die privaten (kapitalistischen) Unternehmen diese bisher kostenfrei vernutzen konnten. Dies soll sich ändern: Der Privatsektor muss für die „Nutzung nationaler und globaler Gemeingüter“ bezahlen. Die Einnahmen fließen in einen nationalen Bürgerfond, dessen Mittel „mittels einer allgemeinen Grunddividende gleichmäßig an alle Bürgerinnen und Bürger ausgeschüttet werden“ (ebd.: 18). Das ermöglicht „ein allgemeines Grundeinkommen in Form einer Global Commons Dividend (Dividende auf die globalen Gemeingüter)“ (ebd.: 118). Auch auf Treibhausgasemissionen werden Abgaben erhoben, die an alle Bürgerinnen und Bürger verteilt werden (ebd.). Dadurch erhalten „Arbeitnehmer*innen die Möglichkeit, Dumpinglöhne abzulehnen“ und sie erhalten „die Macht, sich gegen Ausbeutung zu wehren“ (ebd.).

Den Autor:innen der Studie ist es bewusst, dass es um radikale Kehrtwenden geht, und diese dürfen nicht nur reformerische kleine Schrittchen beinhalten, sondern sie müssen „disruptiv“ sein – von Revolution wird natürlich nicht gesprochen. Die Neuausrichtung „unserer Systeme auf das, was die Menschen wirklich benötigen“ (ebd.: 108) wird von ihrer Eingriffstiefe und Stärke her in eine Reihe gestellt mit dem Projekt Mondlandung, nein – sie soll sogar größer als dieses Projekt sein. Und auch das chinesische Wirtschaftswunder der vergangenen 30 Jahre soll übertroffen werden (ebd.: 19).

Kapitalistische Machtverhältnisse werden verschleiert

In kritischer Absicht wird zwar der Begriff „Kapitalismus“ verwendet (ebd.: 189, 192f.). Inhaltlich jedoch ist keinerlei Kapitalismusanalyse vorhanden. Das zeigt sich auch in den Lösungsansätzen: Die Grundstruktur der kapitalistischen Wirtschaft soll nicht in Frage gestellt werden, nur anderen „Spielregeln“ unterworfen werden: „Zwar schlagen wir den Übergang zu einer gemeingutorientierten Wohlergehensökonomie vor, doch es gilt zu bedenken, dass viele der Instrumente, die diesen Übergang ermöglichen, in unserem bestehenden System verwurzelt sind.“ (ebd.: 213)

Positiv ist zu bewerten, dass die soziale Frage von Armut und globaler Ungerechtigkeit ins Zentrum der Betrachtung und Handlungsorientierungen gestellt wird. Es ist auch offensichtlich, dass der wichtigste Bereich der radikalen Veränderungen die Wirtschaft ist. „Letztlich betreffen die Lösungen allerdings größtenteils die makroökonomische Ebene“ (ebd.: 221). Das heißt auch, dass die individuellen Verhaltensänderungen, die in vielen Klimabewegungen gefordert werden, gar keine so große Bedeutung haben. Wer sich gegen Verzichtsanforderungen an arme Menschen wendet, findet in diesem Bericht gute Argumente dagegen: „Indem wir den materiellen Verbrauch der Reichsten in der Gesellschaft substantiell einschränken und intelligentere Wege beschreiben, um die Menschen mit dem zu versorgen, was sie wirklich brauchen, können wir mehr Raum dafür schaffen, dass die übrigen 99 Prozent ihren gerechten Anteil an den Ressourcen erhalten“ (ebd.: 40).

Angesichts des scheinbaren Gegensatzes zwischen sozialen Ansprüchen und ökologischen Notwendigkeiten ist dies eine kluge Überlegung. Und nicht nur die „Gelbwesten“ in Frankreich oder die gegen die Einschränkung des Düngemitteleinsatzes in den Niederlanden kämpfenden Landwirte oder die Bergarbeiter:innen der deutschen Kohlegebiete zwingen dazu, zu berücksichtigen: „Dass wir im nächsten Jahrzehnt vor massiven Umbrüchen stehen, lässt sich nicht leugnen. Ohne ein Sicherheitsnetz werden sich die Menschen dagegen stemmen, eher Populisten wählen und eine Transformation ablehnen, die in ihren Augen nur ein weiterer Versuch der Elite sind, sich die Taschen zu füllen.“ (ebd.: 212)

Alle Vorschläge für die Kehrtwenden und die Pläne für eine „Wohlergehenswirtschaft“ sind vernünftig. Sie bauen darauf, dass Menschen vernünftigen Argumenten gegenüber aufgeschlossen sein können. Das Ziel ist dementsprechend ein „neue[r] Gesellschaftsvertrag für funktionierende Demokratien im Anthropozän“ (ebd.: 36), also dem Menschenzeitalter, in dem die großen globalen atmosphärischen und biologischen Zusammenhänge durch Menschen maßgeblich beeinflusst werden. Sogar „viele prominente Millionäre und Milliardäre haben das Problem erkannt und sprechen sich öffentlich für eine gerechtere Vermögensverteilung aus“ (ebd.: 120). Warum sollte es da nicht möglich sein, alle Menschen im Interesse eines Überlebens in einer vernünftig eingerichteten Welt zusammen zu bringen? Eine Erde-für-alle durch-alle? Um die Kehrtwenden durchzusetzen „brauchen wir in allen Regionen engagierte Mehrheiten, die politische Mitte ebenso wie die Grünen, die Nationalisten ebenso wie die Globalisten, die Manager*innen ebenso wie die Arbeiter*innen, die Unternehmen ebenso wie die Gesellschaft, die Wähler*innen ebenso wie die Politiker*innen, die Lehrer*innen ebenso wie die Schüler*innen, die Rebellen ebenso wie die Traditionalisten, die Großeltern ebenso wie die Teenager“ (ebd.: 20).

Hier nun beginnt das ganze Konzept in Richtung illusionärer Wunschträume abzudriften. Es ist ja nicht das Fehlen systemtheoretischen Wissens, das die Kapitalseite seit eh und je dazu bringt, die geforderten Rechte und Wirkungsmöglichkeiten der Arbeitenden massiv zu bekämpfen. Es ist nicht ein bewusst ausgehandelter „Gesellschaftsvertrag“, der das eingesetzte Kapital einem Wachstumszwang unterwirft, den man einfach mal durch vernünftige Überlegungen ändern könnte. Die Erfahrung zeigt, dass die Vermögens- und Kapitalbesitzenden sich bisher immer mit allen Mitteln, bis hin zu politischen Putschen, gegen Einschränkungen gewehrt haben. Von Kapitalflucht im Sinne: „Das Kapital ist scheu wie ein Reh“ gar nicht zu reden. Die Autor:innen des Club of Rome haben die Vorstellung, die Welt würde durch Vernunft regiert und sie müssten nur noch systemtheoretisches Wissen hinzufügen, um zu grundlegenden Paradigmenwechseln motivieren zu können. Allgegenwärtige Machtpolitik und strukturelle, an das privatkapitalistische Eigentum gebundene Handlungszwänge, ökonomische und Klasseninteressen sind in ihrer Analyse völlig abwesend. Wer dies jedoch in Betracht zieht, sieht die Blauäugigkeit der Vorschläge. Gutgemeintes kann auch voll daneben gehen, wenn die Wurzeln der Verhängnisse dadurch eher verschleiert als benannt werden.

Literatur

Dixxon-Decléve, Sandrine; Gaffney, Owen; Ghosh, Jayati; Randers, Jørgen; Rockström, Johan; Stoknes, Per Espen (2022): Earth for all. Ein Survivalguide für unseren Planeten. Der neue Bericht an den Club of Rome, 50Jahre nach „Die Grenzen des Wachstums“. München: oekom.

Engels, Friedrich (MEW 20): Dialektik der Natur. In: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke Band 20. Berlin: Dietz Verlag 1978. S. 303-570.

Herrington, Gaya (2021): Update to limits to growth: Comparing the world3 model with empirical data. Journal of Industrial Ecology 2021; 25: 614– 626.

Meadows, Dennis; Meadows, Donella; Zahn, Erich; Milling, Peter (1973): Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Reinbek: Rowohlt.

Meadows, Donella; Meadows, Dennis; Randers, Jorgen (1992): Die neuen Grenzen des Wachstums. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt.

Meadows, Donella H. (2010): Die Grenzen des Denkens. Wie wir sie mit System erkennen und überwinden können. München: oekom.

Steffen, Will; Richardson, Katherine; Rockström, Johann et al. (2015): Planetary boundaries: Guiding human development on a changing planet. Science, Vol. 347, Iss. 6223.

Randers, Jorgen (2022): The Earth4All model of human wellbeing on a finite planet towards 2100. Version September 16, 2022.

Rast, Oliver (2022): „Eskalation an Hungerfront“, junge Welt, 14.10.2022, S. 9.

Rockström, Johan; Steffen, Will; Noon, Kevin et al. (2009): Planetary Boundaries: Exploring the Safe Operating Space for Humanity. Ecology and Society 14(2): 32.

Schlemm, Annette (2015): Das Verhältnis Natur-Gesellschaft in der DDR-Philosophie.

Schlemm, Annette (2022): Kokettieren mit dem Plan B. In: junge Welt, 11. Oktober 2022, Nr. 236, S. 12-13.

Turner, Graham (2012): On the cusp of global collapse? Updated comparison of the Limits to Growth with historical Data. GAIA 21: 116-124.

Turner, Graham (2014): Is Global Collapse Imminent? MSSI Research Paper 4, The University of Melbourne.

WWF (2022): Living Planet Report 2022.