Schon vor längerer Zeit hatte mich jemand gebeten, genauer zu bestimmen, was „Dialektik“ sei. Da ich mich natürlich immer wieder mit Dialektik beschäftige, möchte ich das auch hier in den Blog stellen.


In der Dialektik (gr. dialektiké, lat. dialectica: Unterredungskunst) geht es um den Umgang mit Widersprüchen im Sein und im Denken. Dabei wird unterschieden zwischen formal-logischen Widersprüchen, die durch fehlerhafte Denkschlüsse zustande kommen und dialektischen Widersprüchen, die nicht nur im Denken auftreten, sondern deren Grundlage widersprüchliche Beziehungen zwischen Momenten der Wirklichkeit selbst sind. Ausgehend von der Annahme, dass in der wirklichen Welt nichts völlig isoliert ist von Anderem, sondern dass alle ihre Bereiche und Momente in vielfältigen Beziehungen stehen, steht dialektisch-begreifendes Denken vor der Aufgabe, die Unterschiede und Gegensätze, aber auch das, was ihre gemeinsame Beziehung ausmacht, gleichermaßen zu denken. Es geht also um das Begreifen des Verhältnisses von Identität und Unterschied (sowie Gegensatz).

Jeder Bereich der Wirklichkeit, der zum Gegenstand unseres Begreifens wird, kann zuerst betrachtet werden als das, was er in seiner einfachen Identität ist. Sobald ich diese Identität inhaltlich näher bestimmen möchte, stoße ich (im zweiten logischen Schritt) darauf, dass ich sie nur erfassen kann, wenn ich das Bestimmende des Gegenstands im Unterschied zu Anderem sehe. Der Gegenstand ist nicht nur er selbst in seiner abstrakten, sich selbst gleich bleibenden Identität (Eine Blume ist eine Blume ist…), sondern er ist bestimmt durch die Beziehung auf Anderes (Eine Blume ist nicht die Erde). Diese Beziehung negiert ihn – aber diese Negation vernichtet ihn nicht, sondern führt, wenn wir ihn begreifen wollen, drittens zu einem tieferen Verständnis seiner Identität: einer Identität, die ihn in seinen unterschiedlichen bis gegensätzlichen Beziehungen mit anderen Momenten der wirklichen Welt erfasst, also erst wahrhaft – als sog. Negation der Negation – begreift. Es geht darum, jene Negation zu finden, die zu einem tieferen Verständnis des Gegenstandes führt (dies ist dann die „bestimmte Negation“), nicht irgend eine beliebige, auch mögliche Negation (uns interessiert dabei nicht, dass die Blume kein Auto ist, sondern: dass die Blume aus der Erde – aus ihrem bestimmten Anderen – ihre Nährstoffe bezieht und wir somit die Blume in einem tiefergehenden Verständnis – als biologischen Organismus mit Stoffwechselprozessen – begreifen).

All diesen drei Phasen des tieferen Eindringens in den Gegenstand entsprechen auch wirkliche Momente an dem Gegenstand selbst. Indem ich tiefer eindringe, verändert sich der Inhalt dessen, was mein Gegenstand ist – nur in diesem Sinne meint Hegel die Bezeichnung „Entwicklung“ (außer in seinen explizit geschichtlichen Schriften). Eine Übertragung dieser entwicklungslogischen Zusammenhänge auf historische Prozesse bedarf deshalb zusätzlicher Begründungen (wenn sich z.B. in der Geschichte ein Gegenstand vom Einfachen (mit sich selbst Identischen ohne viel innere Differenzierung) zum Komplizierten (mit vielfältigen und widersprüchlichen inneren und äußeren Beziehungen) entwickelt, ist es gerechtfertigt, die logischen Gedankengänge von Hegel auf die historische Zustandsveränderung zu beziehen, aber nicht einfach schematisch zu übertragen).

Die ersten beiden Schritte dieses Verlaufs sind nach Hegel eine Leistung des Verstandes, hier wird (abstrakt) identifiziert (in der Verabsolutierung entsteht Dogmatismus) und Unterschiede bzw. Gegensätze konstatiert (in der Verabsolutierung entsteht Skeptizismus) – es kommt aber darauf an, den Gegenstand als sich – gerade durch die Widersprüche – bewegende Einheit seiner widersprüchlichen Momente zu begreifen; dies ist eine Leistung der Vernunft (in einer „Rationalitäts“-Kritik, die die Beschränktheit der verstandesmäßigen Praxis berechtigt angreift, kommt es darauf an, „den Verstand zur Vernunft zu bringen“). Da nach dieser dialektischen Konzeption die Welt bzw. Gegenstände aus ihr stets Einheiten von Widersprüchen sind, ist jedes Absehen von dieser Widersprüchlichkeit eine Abstraktion. Eine in sich mannigfaltig und widersprüchlich gegliederte Einheit ist deshalb konkret (lat. concretus: zusammengewachsen), während alle vorherigen Betrachtungsweisen, die diese Konkretheit noch nicht erreichen (wie die Erkenntnis der Identität im ersten Schritt und die Feststellung der Unterschiede im zweiten Schritt) demgegenüber noch abstrakt sind. Die dialektische Entwicklung vollzieht sich deshalb auf dem Weg „vom Abstrakten zum Konkreten“, was auch bei Hegel nie so gemeint war, dass die wirklichen Dinge und die Welt historisch aus Gedachtem oder Denkendem hervorgegangen wären.


Bis dahin die allgemeine Bestimmung einer Dialektik, die mehr ist als nur „Wechselwirkungsdenken“ oder ein „Flüssigmachen von festen Kategorien“. Von manchen wird sie als zu „hegelianisierend“ kritisiert werden, jedoch war für mich diese umfassende Bestimmung, seit ich sie kenne, häufig sehr fruchtbar.

Ein „Bedienungshinweis“ mag aber vielleicht doch angebracht sein:
Diese Abfolge von aufeinanderfolgenden Schritten darf nicht schematisiert zum Dogma gemacht werden. Ihre Abfolge begründet sich nie mit der Anwendung eines Schemas, sondern mit der „inneren Logik der Sache“. Es gibt auch Gegebenheiten, die solch eine „innere Logik“ nicht haben und ob die Weltgeschichte dazu gehört, ist eine vielleicht noch offene Frage…


Eben habe ich noch drei nette Videos zur Erklärung von Aspekten der Hegelschen Philosophie gefunden. Der Referent war übrigens mit mir in gleichzeitig in derselben Schule Landwirtschaftslehrling (mit Abitur).

Hier wird die Hegelsche Philosophie relativ adäquat (wenn auch vereinfacht) erklärt – meine obige Darstellung ist schon eine Einengung auf die Brauchbarkeit, die ich dem Ganzen auch ohne „Gott“ zuschreibe.

Auf jeden Fall finden wir hier auch wieder die drei Schritte:

  1. abstrakte Identität – ist aber nicht wirklich, sondern „nur“ möglich
  2. Verwirklichung im „Auseinanderlegen“
  3. Das Wirkliche findet sich wieder als begriffene, mit sich identische Allgemeinheit ihrer Besonderheiten.