Vernunft hat seitlängerer Zeit keinen guten Leumund mehr.
„Die Vernunft ist die Gesamtheit der Gründe, die die Menschheit sich gibt, um zu gehorchen.“ (Gilles Deleuze; Quelle nicht genau bekannt)
„Gehorchen“ wird dabei meist in einer eindeutig negativen Bedeutung verstanden. Mir persönlich begegnet oft die Haltung: „Du kannst doch gar nicht behaupten, etwas Wahres aussagen zu können – Wahrheit ist doch immer sozial konstruiert.“ Häufig besteht linke Theorie nur noch darin, Kritik zu üben, andere Texte zu „dekonstruieren“, aber sich selbst auf keine Aussagen festlegen zu lassen, die als falsch oder richtig bestimmt werden könnten. Ein Anspruch auf Erkenntnis wird als „Besserwisserei“ gewertet und Machtansprüche werden unterstellt.
Die Aufklärung war einst angetreten, der Fremdbestimmung durch den Glauben und der Unmündigkeit den Kampf anzusagen. Sie setzte auf Vernunft und Zukunftsoptimismus. Diese Position wurde stets auch hinterfragt, vor allem zugunsten einer stärkeren Wertschätzung des Gefühls (Sturm und Drang, Romantik). Praktisch jedoch setzte sich angesichts des Aufschwungs und der Dynamik des real existierenden Kapitalismus der aufklärerische Trend maßgeblich durch. Im 20. Jahrhundert wurden dessen Schattenseiten unübersehbar, vieles konnte beim besten Wille nicht mehr als „List der Vernunft“ begriffen werden (insb. der Faschismus). Während die aus der Betonung des Gefühls entstandene Aufklärungskritik durch Hegel ausdrücklich mit verarbeitet wurde („Gesetz des Herzens“ in HW 3: 275ff.), konnte er diese Entwicklung natürlich nicht voraus sehen. Insofern sind die Kritische Theorie seit dem frühen 20. Jahrhundert und die sog. Postmoderne seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neue Herausforderungen für eine Weltanschauung, die sich weiterhin auf Hegels Philosophie beziehen möchte. (Die Hinzufügung des „sog.“ bei der Postmoderne soll keine Geringschätzung ausdrücken, sondern daran erinnern, dass auch Autoren, die der Postmoderne zugerechnet werden, bzw. diesen Ausdruck selbst eingeführt haben, sich gegen diese Etikettierung gewehrt haben).
Ich kann es hier nicht leisten, diesen Themenkomplex zu bearbeiten, ich möchte nur einige Gedanken äußern. Mein Eindruck ist, dass insbesondere im 20.Jahrhundert die diffizile Unterscheidung von Verstand und Vernunft verloren gegangen ist (dazu kommt vor allem auch, dass eine angemessene Interpretation von Hegel nie so recht in den englischen Sprachraum vordrang). Das zeigt sich insbesondere auch an der völligen Verblüffung, die man auch bei studierten Philosoph_innen häufig erlebt, wenn sie erfahren, dass es eine sinnvolle Unterscheidung zwischen abstrakt-Allgemeinem und konkret-Allgemeinem gibt – sie kennen nur deren abstrakte Form, bei der in der Verallgemeinerung das jeweils Besondere der verallgemeinerten Elemente verschwindet. Ebenso kennt man als Identität nur die abstrakte, isolierende Identität, die Unterschiede auslöscht.
Als „Rationalität“ wird also nur jene Form des Bewusstseins verstanden, für die Hegel den Begriff des „Verstandes“ hat und es ist nicht bekannt, inwiefern „Vernunft“ diese voraussetzt und gleichzeitig negiert. Das didaktische Problem besteht darin, dass man dies erst begreift, wenn man die Denkform des vernünftigen Begreifens einigermaßen erreicht hat und nicht selbst in der Praxis des bloßen Verstehens stecken bleibt.
Die Grenzen des bloß verständigen Denkens sind leicht nachzuweisen. Aber mit den Mitteln des bloß verständigen Denkens kommt man nicht darüber hinaus. Auch eine bloß vernichtende Kritik ist lediglich verständig. Die Dekonstruktion von Objektivitätsbehauptungen, also der Nachweis, wie die gesellschaftspolitische Positionierung das beeinflusst, was in welcher Weise erkannt oder gedacht wird, gehört auch zum Verstehen. Es ist (wenn es einigermaßen gut begründete ist) nicht falsch und auch wertvoll, aber „es genügt nicht die einfache Wahrheit“. Nur negative dekonstruierende Kritik hilft uns nicht beim vernünftigen Handeln.
Interessant ist, dass Michel Foucault, der mit seiner Diskurstheorie mit am Anfang der „Post“-Bewegungen (Poststrukturalismus, sog. Postmoderne) stand, die Verabschiedung der Rationalität bis zur Endkonsequenz nicht teilt. Während Adorno und Horkheimer nur die „instrumentelle Vernunft“ als „Vernunft“ kennen, verweist Foucault darauf, dass im Begriff der Vernunft durchaus auch die ethische Dimension steckt, während das französische Wort (raison) tatsächlich eher nur den instrumentellen Aspekt beinhaltet. Er selbst lässt dabei offen, ob es auch eine nichtinstrumentelle Vernunft gibt, er beschäftigt sich nur mit der kritischen Analyse der instrumentellen (vgl. Welsch Vorlesung).
Es wäre ein interessantes, aber für mich derzeit zu großes Projekt, die Inhalte der sog. Postmoderne gründlich durchzugehen mit der Frage, wo sie das Erreichte (z.B. bei Hegel) zu verkürzt darstellen und wo eine Präzisierung mit dessen Philosophieform eine Bereicherung der sog. Postmoderne ergeben könnte – aber auch, wo die sog. Postmoderne tatsächlich Neues aufgreift, das in dieser Form bei Hegel noch nicht enthalten sein konnte und was vielleicht auch in dessen System nicht hineinpasst. Ich kann mir gut vorstellen, dass die sog. Postmoderne über Hegel hinaus einiges zu den Weltkulturen beitragen kann (zur Interpretation der Postmoderne als „Versuch zur Realisierung der Inhalte der Moderne“ siehe Engelmann 1990; siehe auch eine frühere Übersicht von mir zur Postmoderne).
Auch das, was die sog. Postmoderne neu aus der Wirklichkeit heraus als Thema aufgreift bedeutet aus meiner Sicht kein „hinter Hegel zurück“, sondern das, was ich eben schrieb: ein „darüber hinaus“.
Lyotard forderte: „Krieg dem Ganzen, zeugen wir für das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Differenzen.“ (Lyotard 1982: 48). Dies mag für viele Themen und Gegenstände angemessen sein (etwa für kulturelle Aspekte)- aber es wäre höchst dumm, darüber all jene Erkenntnisse zu vergessen, bei denen Ganzes wichtig für die Erklärung des Einzelnen ist und wo wir den verborgene Dynamik entdecken können, die hinter der Fragmentierung der Welt steckt (etwa bei der Analyse der kapitalistischen Wirtschaftsweise).
Ohne hier ausführlich darauf einzugehen, habe ich mit den Schriften von Foucault (von einem in sich kohärenten Konzept kann man da ja kaum sprechen) und auch den sog. postmodernen Autoren vor allem das Problem, dass sie der Möglichkeit der Kritik an den konkreten gesellschaftlichen Zuständen in weiten Teilen die Grundlage entziehen (siehe eine entsprechende Foucaultkritik z.B. bei Ellebrecht 2005, Kritik des sog. postmodernen Denkens vgl. Seppmann 2003).
Auf jeden Fall jedoch müssten erst einmal jene Vorurteile über das „moderne“ Denken weggeräumt werden, die aus einer verfälschenden Interpretation kommen. Wenn ich z.B. eine Interpretation von Lyotard von Peter Engelmann lese, wird deutlich, dass die Entgegenstellung hier eine Folge eines Fehlverständnisses von Hegel und insb. Marx. Dem Marxismus wird zugeschrieben, er „setzt der Wirklichkeit Werte vor, die für alle gelten sollten und nach denen die Wirklichkeit einzurichten sei“ (Engelmann 1990: 12). Für den postmodernen Denker Lyotard dagegen gelte:
„Lyotard setzt eine Strategie dagegen, die von der Anerkennung der Individualität und Heterogenität auszugehen versucht und folglich Gesellschaftlichkeit als etwas Herzustellendes und nicht als Realisierung eines abstrakten Modells betrachtet.“ (ebd.: 13)
Wer Hegels Geschichtsphilosophie als Aufforderung zur „Realisierung eines abstrakten Modells betrachtet“, hat kein Word von ihm verstanden – von Marx erst recht nicht. Es ist für jeden, der die Hegelsche Unterscheidung von Verstand und Vernunft kennt, offensichtlich, dass sich die in diesem Text folgende Kritik an der „neuzeitlichen Rationalität“ am nur vergleichenden und abstrahierenden Denken nur auf den Verstand bezieht. Engelmann gibt auch keinerlei inhaltliche argumentative Begründung für die kurzschlüssige Unterstellung, dass der „Hegelsche Typus von Rationalität“ sich „als Basisideologie totalitärer Herrschaftssystem erwiesen“ (ebd.: 15) habe. Dort, wo es Lyotard anhand des Hegelschen Textes versucht (Lyotard 1984: 70) finden wir sofort einen eklatanten Lesefehler: Gerade jene Situation aus der „Phänomenologie des Geistes“, die Hegel mit dem Titel „Die absolute Freiheit und der Schrecken“ bezeichnet (HW 3: 431) ist für Hegel nicht das Endresultat seiner Argumentation, sondern gerade ein zu überwindender Durchgangspunkt.
Letztlich baut man sich sehr häufig Pappkameraden auf, auf die sich leicht schießen lässt, womit man aber den gemeinten Autoren gar nicht trifft. Wenn schon meine Interpretationsversuche und Vereinfachungen nicht zu überzeugen vermögen: Glaubt bitte keinem Hegelkritiker, ohne selbst die Hegelsche Argumentation dazu zu kennen. Natürlich verlange ich damit (zu) viel von jenen, die schon vorher wissen, warum die Hegelsche Philosophie für sie nicht sinnvoll ist. Aber das Pappkameraden-Bashing befriedigt zwar sicher das eigene Selbstbewusstsein – aber man lernt dabei nicht viel dazu.
Selbst Foucault ist sich bewusst, dass man Hegel nicht einfach beiseiteschieben kann. Er schätzt ein, dass „unsere gesamte Epoche“ sich bemühe, „Hegel zu entkommen“ (Foucault 1998: 45)
„Aber um Hegel wirklich zu entrinnen, muß man ermessen, was es kostet, sich von ihm loszusagen; muß man wissen, wie weit uns Hegel insgeheim vielleicht nachgeschlichen ist; und was in unserem Denken gegen Hegel vielleicht noch von Hegel stammt; man muß ermessen, inwieweit auch noch unser Anrennen gegen ihn eine List ist, hinter der er uns auflauert: unbeweglich und anderswo.“ (ebd.)
Schauen wir doch mit diesen aktuellen Debatten im Hinterkopf noch einmal zurück auf das, was für den Hegelschen Begriff der Vernunft unverzichtbar ist (und vergleichen dies ev. mit den üblichen Vorwürfen der Rationalitätskritiker und deren Konsequenzen). Taylor hebt als Kriterium der Rationalität (als Vernunft) folgende 3 Punkte hervor, wobei die beiden ersten Punkte auch schon für Kants Rationalitätsverständnis gelten.
- Der Mensch wird als ein rationales Subjekt behandelt, d.h. als ein Subjekt, das – in Kants Worten – ein Zweck und nicht nur ein Mittel ist.
- Rationalität setzt voraus, dass die gesellschaftliche Organisation nicht von willkürlicher Launenhaftigkeit beherrscht wird und alle Menschen gleichgestellt sind (was bei Hegel als „Staat“ bezeichnet wird, ist auch nicht die Verwirklichung einer abstrakten Idee, wie Lyotard gerne kritisiert, sondern meint eine „vernünftige Organisationsleistung“ (vgl. Gessmann 1999: 118))
- Die politische Gesellschaft muss eine Idee verwirklichen und ausdrücken. Eine „Idee“ nach Hegel ist aber nichts Abstraktes, sondern eine „prozessierende Einheit von Subjekt und Objekt“ (HW 8: 370). Aus solch einer Idee heraus kann sich auch geschichtlich wirkmächtiges Sollen begründen. „Das Vernünftige soll gelten“ (PR 1821/22: 234). (Mehr zum „Sollen“ bei Hegel siehe hier).
Es zeigt sich, dass die Kritik der „Moderne“ auch bezüglich Hegel von dem ständigen Missverstehen geprägt ist, dass der Hegelschen Vernunft oder auch seiner „Idee“ eine abstrakte Bedeutung unterstellt wird, die nur in dem abstrakten Verstand angehört,wobei dieser Status von Hegel selbst permanent überwunden wird (wenn sich denn die Mühe macht, ihn angemessen begreifen zu wollen).
Nehmen wir einen interpretierenden Satz von Taylor:
„Der mit Freiheit identifizierte Hegelsche Begriff des Geistes kann […] mit etwas, das nur gegeben ist, nicht in Einklang gebracht werden. Alles muß notwendig aus der Idee, dem Geist oder der Vernunft selbst entstehen. Der Geist muß sich folglich gegen alles, das bloß gegeben ist, wenden.“ (Taylor 1998: 482)
Wenn ich jetzt die „Idee“, den „Geist“ bzw. die „Vernunft“ als etwas Feststehendes und dem Gegenwärtigen Äußerliches betrachte, dann erscheint die Kritik daran natürlich berechtigt. Eine solche Kritik trifft jedoch nur den selbst aufgebauten Popanz und nicht Hegel. Tatsächlich speist sich das „Aufbegehren gegen […] das daseiend Unvernünftige aus dem Zielbegriff der Vernunft“ (Hoffmann 2004: 189). Ein Zielbegriff bei Hegel ist aber nie etwas Abstraktes, mit sich Identisches und dem wirklichen Prozess Äußerliches, sondern Hegel lehnt es ausdrücklich ab, dass „ein Grundsatz, eine Wahrheit nur abstrakt festgehalten“ werden darf (HW 12: 24). Hegel nimmt tatsächlich den Begriff der Freiheit als leitendes Prinzip der Weltgeschichte an (ebd.: 76). Der konkrete Inhalt der Verwirklichung dieser Freiheit ist jedoch unbestimmt, die angenommene Veränderungsfähigkeit „ist ohne Zweck und Ziel wie ohne Maßstab für die Veränderung: das Bessere, das Vollkommnere, worauf sie gehen soll, ist ein ganz Unbestimmtes“ (ebd.: 75).
Wichtig ist, und dies auch vor allem im Interesse der jeweils Unterdrückten, dass die Welt nach einsehbaren Gründen eingerichtet sein müsse ((Holz 2002: 76)- dies richtet sich gegen jegliches Priesterwort aber auch dagegen, dass nichts außer persönlich-willkürlichen Interessen sich durchsetzen. Es geht bei Hegel um eine vernünftige Gesellschaftsgestaltung, nicht die verabsolutierende Freisetzung jeweils kurzfristiger Interessen. Die Vernünftigkeit ist zu bewerten im „Hinblick auf die menschliche Gattung überhaupt“, wie sich im folgenden Zitat von Hans Heinz Holz ergibt.
„Selbstbestimmung heißt: Erforschung der äußeren, von mir unabhängigen Gegebenheiten und ihrer Zusammenhänge; Feststellung der Möglichkeiten, in diese Zusammenhänge nach eigenen Zwecken verändernd und gestaltend einzugreifen; Prüfung der Zwecke, ob sie nicht nur kurzfristig und egoistisch, sondern im Hinblick auf die menschliche Gattung überhaupt erstrebenswert sind (sonst würde ich mich letztlich selbst schädigen, weil ich ja ein „Gattungswesen“ bin, nämlich den allgemeinen Bedingungen der Existenz der menschlichen Gattung unterliege).“ (Holz 2002: 76)
Es gibt nicht nur die Entgegensetzung von abstrakter, unterdrückerischer Allgemeinheit und anscheinend freiheitlichem, ebenso abstrakten Individualismus. Wir müssen nicht stehen bleiben, bei einer abstrakten Entgegensetzung von Identität und Differenz. Das ewige unfruchtbare Gegeneinander dieser abstrakten Pole kann aufgehoben werden durch das Denken und die Verwirklichung einer Gesellschaftlichkeit, in der die „individuelle Selbstverwirklichung“ der „Ausdruck des Allgemeinen“ ist (Taylor 1998: 227). Ausgehend davon, dass das Individuum ein gesellschaftliches ist, wird es zum selbstbestimmten Individuum (in welcher Form auch immer, in Anpassung und auch Widerstand) nicht gegen, sondern durch sein konkretes Zusammenleben mit anderen Menschen.
„Freiheit erfordert offenbar individuelle Freiheit einerseits und Integration in ein umfassenderes Leben andererseits.“ (ebd.: 116)
Für Hegel ist dieses Wesensmerkmal des Menschlichen, das in allen Gesellschaftsformen und Kulturen in gewisser Weise realisiert ist, mit dem Begriff des „Sittlichen“ verbunden, das sich in typischer Weise von der „Moral“ dadurch unterscheidet, dass sie nicht mit äußerlichen Forderungen an den Menschen herantritt.
Hier sind wir nun bei einem neuen Thema, auf das ich hier nicht weiter eingehen möchte. Ich habe vor ziemlich genau einem Jahr schonmal dazu gebloggt.
Februar 5, 2012 at 10:07 pm
Liebe Annette Schlemm,
natürlich freue ich mich über einen so umfangreichen Artikel zur oft verkannten Vernunft. Aber wie soll man auf einen solch kursorischen Rundumschlag mit Gewinn anders als systematisch und geduldig eingehen? Und dazu fehlt natürlich leider die Zeit. Einiges reizt aber meinen Widerspruch zu sehr und ich werde mich bestimmt noch melden.
Gruß Alfred Flacke
Februar 7, 2012 at 10:18 pm
Wie gesagt, ich kann den interessanten und wichtigen Text im Ganzen nicht würdigen. Doch erlaube ich mir ein paar kritische Anmerkungen zu Formulierungen, die ich nur schwer einsehe.
„Häufig besteht linke Theorie nur noch darin, Kritik zu üben (…)“ Warum dieses Linken-Bashing? Zweifellos erhebt doch jede „linke Theorie“, also eine mit dem „Anspruch auf Erkenntnis“, die den Namen verdient, zu Recht den Anspruch, kritisch zu sein. Kritik ist Bedingung gültiger Erkenntnis. Es lässt sich mit guten Gründen sogar vertreten: Alle Philosophie (die doch auf Erkenntnis aus ist) ist seit Kant grundsätzlich und in allen ihren Äußerungen kritisch oder keine Philosophie.
„Häufig besteht (…)“? Wie soll man darauf kritisch eingehen? Welche „links“ genannten Theorien waren gemeint? Es lässt sich nur am Einzelfall beurteilen.
„Machtansprüche werden unterstellt.“? Na und? Bereits Hegel entdeckte im Denken, dass auf der Subjektivität beruht, einen „Willen zur Macht“ am Werk und Nietzsche sieht gar die Identität von Macht und Vernunft (ähnlich formuliert Horkheimer) als die von ihm bejahte und eigentlich wirksame Kraft hinter der ganzen abendländischen Rationalität. Ich glaube, das ungelöste Herrschaftsproblem regiert unser Denkens und Handeln.
Unzutreffend (und sogar ärgerlich) erscheint mir die Feststellung, dass „Adorno und Horkheimer nur die „instrumentelle Vernunft“ als „Vernunft“ kennen …“. Schon dass sie die heutige Vorherrschaft der instrumentellen Vernunft kritisieren, bezeugt doch, dass sie eine andere Vernunft nicht nur kennen, sondern vermissen. (Ich habe das Problem in einem Vortrag ausführlich behandelt, der hier zugänglich ist: http://www.osnanet.de/alfred.flacke/Vernunft.html)
Februar 7, 2012 at 11:16 pm
Du schreibst in dem Text: „Ich bin allerdings der festen Überzeugung, dass „zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen“ der Appell an die bloße Einsicht in die Notwendigkeit unbeirrbarer Reflexion nicht ausreicht, sondern es zur Erlangung dieser Aufgeschlossenheit einer Kraft diesseits jener durch Herrschaft bestimmten Vernunft bedarf. Erst diese kann Menschen in den Stand setzen, von dem „Willen zur Macht“ abzulassen. Es ist Solidarität, solidarische Liebe, die allein jene herrschaftliche Perversion der Vernunft aufheben kann.“
Du siehst also zusätzlich zur Vernunft „Solidarität, solidarische Liebe“ als notwendig an. Außerdem gehst Du aber auch davon aus, dass es eine Vernunft gibt, die nicht „herrschaftlich perveriert“/“durch Herrschaft bestimmt“ ist. Wie funkioniert diese Vernunft (das vernünftige Reflektieren bei Adorno)?
Verkürzt könnte man Deine Beschreibung auch lesen: „Ohne „Solidarität, solidarische Liebe“ pervertiert die Vernunft zu einer Herrschaftlichen.“ Oder meinst Du das so? Und woher kommt die „Solidarität, solidarische Liebe“? Ist das irgendwie eine zusätzliche moralische Forderung?
Der Hegelsche Begriff der Vernunft beinhaltet das übrigens ohne zusätzliche Hinzufügungen: Vernunft betrachtet jede Seite als es selbst „in seinem Anderssein“ (HW 3: 135). Es erfährt im Anderen und durch das Andere sich selbst… Jetzt wäre die Frage, ob Adorno diese Vernunft tatsächlich kennt? (In seinem Text zur Halbbildung ist mindestens ansatzweise so was drin, er bezieht sich da irgendwie auf die „objektive Möglichkeit“ als vernünftige Kritikinstanz. Das kann ich jetzt auf die Schnelle aber nicht nachlesen.) (siehe dazu auch https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2008/11/20/nachtrag-zur-halbbildung/)
Februar 11, 2012 at 10:26 pm
Das obige Zitat stammt aus der Einführung zum Vortrag, nicht aus dem Vortragstext selbst. Daraus wird der Zusammenhang leichter erkennbar. Ich unterscheide also zwischen solidarischer und herrschaftlicher Vernunft. Solidarität kommt demnach nicht zu einer bereits irgendwie bestehenden Vernunft hinzu. Sie ist eine ursprüngliche, zum evolutionären Erbe des Menschen gehörende, Form der „Anerkennung“ (Hegel), die zur herrschaftlichen Form pervertieren kann.
Solidarische Liebe ist also keine Moral. Moral ist das der notwendigen „Befriedung“ ihrer antagonistischen Konkurrenz-Gesellschaft dienende Zwangs-Korsett einer herrschaftlichen Zivilisation – unserer. Solidarische Liebe ist das lebendige Leben jenseits der Selbsterhaltung, die aus dieser Perspektive als Ideologie durchschaubar wird.
Adornos Versuch zur Aufhebung der herrschaftlichen Unterwerfung des Denkens und durch das Denken und damit der Beziehungen der Menschen findet sich vor allem in seiner Schrift „Negative Dialektik“. Es ist ein sehr überzeugender, aber schwieriger Text und hier in der gebotenen Kürze nicht darzustellen. Weiter lässt sich das Denken nicht treiben. Und es muss dennoch scheitern, weil auch die äußerste Reflexion die Entfremdung des Menschen vom Menschen zwar sichtbar machen, aber nicht aufheben kann. Das kann nur jene zur Solidarität befreite Liebe.
Gruß, Alfred Flacke
Februar 7, 2012 at 11:01 pm
Ja, die Verkürzungen lassen vieles recht undeutlich stehen. Bei der Kritik der „linken Theorie“ beziehe ich mich vor allem auf viele Menschen, die zumindest immer noch sogar mit einem theoretischen und einem kritischen Anspruch haben, die mir in verschiedenen linken Treffen begegnen. Hier beobachte ich, insbesondere bei jüngeren Leuten, seit 5-10 Jahren einen deutlichen Wandel, der mir, wenn ich das mal irgendwo anspreche, auch häufig bestätigt wird: Man hat irgendwo von oder über Foucault und die Postmodernen dies oder jenes gehört und das reicht dann im allgemeinen aus, um Hegel, Marx und alles andere auf den Müllhaufen der Geschichte zu schmeißen. Diese wegwerfende Kritik hat dann gar nicht mehr den Anspruch einer gültigen Erkenntnis und genau das ist es, was mich daran stört.
In Bezug auf das Herrschaftsproblem ist mir die Gefahr des „Avantgardedenkens“ auch sehr bewusst. Aber statt zu überlegen, wie niemand mehr aus Wissen Vormacht ziehen kann (z.B. dadurch, dass alle gleichziehen können), begegnet mir ständig eine radikale Ablehnung jeglicher Welterkenntnisansprüche, die damit begründet wird, dass, wer irgend eine Wahrheit suche, damit automatisch einen Herrschaftsanspruch verbinde.
Ich entnehme diese Einschätzungen nicht direkt den Debatten innerhalb der Theoretiker_innen, von denen es ja noch einige auch Verdienstvolle geben soll, sondern eher den Erfahrungen aus der politischen (linken, ökologischen, eher recht radikal eingestellten) Praxis. Noch vor 20 Jahren begegneten mir da z.B. auch junge Habermaskenner und -spezialisten, mit denen ich zwar nicht ganz einer Meinung war, mit denen man aber inhaltlich und argumentebezogen reden konnte. Heute kennen die Leutchen nicht mal ihren Foucault, mit dem sie ihre Ablehnung einer kohärenten Theorie (zugunsten eines bloßen „Werkzeugkastens“) zu begründen versuchen. Sie kennen dann von ihm auch nur die Schlagworte. Statt sich für verschiedene Konzepte von Entwicklung und Evolution zu interessieren, erschlägt man das Thema mit dem Hinweis auf die „Ablehnung der großen Erzählungen“.
Und überhaupt: Statt sich noch mit Büchern zu quälen, reicht die Zeit gerade mal fürs Durchzappen von einigen Internettexten.
Februar 11, 2012 at 10:18 pm
Ich stimme dem Kommentar gerne zu. Offensichtlich handelt es sich in diesen Fällen nicht um Kritik, sondern um Verweigerung ernsthafter Auseinandersetzung um das Ziel übereinstimmender Erkenntnis. Oder es ist bloßes Desinteresse. Traurig! Verzicht auf Erkenntnis und Wahrheit braucht schließlich keine Argumente. Er ist die Verweigerung jeder Diskussion, Vorstufe der Gewalt.
Die These, dass Wahrheitssuche einen Herrschaftsanspruch mit sich führe und deshalb nicht zur Wahrheitsfindung tauge, enthält eine Wahrheit, bleibt aber vordergründig. Das Herrschaftsproblem ist von anderem Kaliber. Es gibt gute Gründe, den Bezug von Herrschaft und Wahrheit einer ernsthaften Untersuchung für Wert zu halten. Drei davon hatte ich in meinem Kommentar kurz – zu kurz! – angesprochen. („Bereits Hegel … Nietzsche … unser Denken und Handeln“) Ich habe mich aber in meiner Dissertation („Anerkennung oder Selbsterhaltung?“) ausführlich damit auseinandergesetzt. (Auf meiner Webseite „Neue Theorie der Herrschaft“, http://www.osnanet.de/alfred.flacke/Anerkennung-oder-Selbsterhaltung.html, steht eine Einführung und der Link zum E-book (pdf).)
Februar 13, 2012 at 4:58 pm
Du schreibst: „Und woher kommt die „Solidarität, solidarische Liebe“? (…) Der Hegelsche Begriff der Vernunft beinhaltet das übrigens ohne zusätzliche Hinzufügungen: Vernunft betrachtet jede Seite als es selbst „in seinem Anderssein“ (HW 3: 135). Es erfährt im Anderen und durch das Andere sich selbst…“
Obwohl ich spontan hier gerne zustimmen möchte, weil der letzte Satz etwas sehr Hegelsches und etwas ungeheuer Wichtiges enthält, wenn …, ja wenn das hier mit „es“ bezeichnete Subjekt des Satzes das Selbst als Subjekt des Denkens meint. Weil es in dieser Formulierung auch nicht ganz klar zu erkennen ist, was mit dem „es“ gemeint ist, könnte „es“ hier auch als der Gegenstand der „Vernunft“ gemeint sein. (Ich vermute, dass es so auch von Dir gemeint ist?) Nach meiner Auffassung gibt es allerdings keine Möglichkeit, die Solidarität in bloß dialektischem Bezug zur Herrschaft zu sehen. Auch Hegel denkt anders. Das zu erläutern erfordert ein ganzes Buch. (Das Wichtigste dazu steht in meiner Dissertation. http://repositorium.uni-osnabrueck.de/bitstream/urn:nbn:de:gbv:700-2009120914/2/E-Diss964_thesis.pdf)
Hegel handelt an der angegebenen Stelle aber nicht unmittelbar von der Vernunft, sondern vom Selbstbewusstsein. Vollständig heißt der Satz: „Das Bewußtsein eines Anderen, eines Gegenstandes überhaupt, ist zwar selbst notwendig Selbstbewußtsein, Reflektiertsein in sich, Bewußtsein seiner selbst in seinem Anderssein.“ Das bedeutet bei Hegel schlicht so wie es da steht: Das Bewusstsein ist als das Bewusstsein eines Gegenstandes immer schon Selbst-Bewusstsein, Bewusstsein seiner selbst. Das ist so, weil notwendig im das Andere denkenden Bewusstsein das anders-Sein des eigenen mitgedacht wird. Dem fehlt aber noch die Gewissheit des Selbst um freies Subjekt zu sein. Dieser Schritt geschieht erst in der „Anerkennung“. Und in der Anerkennung kommt bei Hegel die Herrschaft (oder, wie ich denke, auch die Solidarität) ins Spiel.
Hegel selbst erkennt das in einem längeren Lernprozess in immer größerer Klarheit. Auch das findet sich zum Nachlesen in der Dissertation. (Abschnitte 3 und 5) Beispiel:
„Der Krieg aller gegen alle ist der wahre Naturzustand, wie Hobbes sehr richtig bemerkt hat.“ (Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, S. 956.) Selbsterhaltung ist die Ursache für „schlimmes“ „menschliches Handeln“. Aber Hegel unterscheidet von dieser Wirklichkeit der „Oberfläche“ die „wahrhafte Wirklichkeit“ eigentlich menschlichen Handelns, die „geistig“ bestimmt werden muss. Der Anerkennungsprozess ist von ihm als ein solcher „geistiger“ Vorgang verstanden worden.(Hegel-W19, 110-111) Er beklagt in seiner sogenannten „Differenzschrift“ von 1801 den Zerfall der „Gemeinschaft lebendiger Wesen“ (Hegel, Differenzschrift, S. 81), als deren Ursache er die „Trennungen“ (Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 31) wertet, die durch die zur Subjektivität radikalisierte Individualisierung hervorgerufen werden. Diese Trennungen sind also nicht bloß ein Problem einer abstrakten Reflexivität, sondern kennzeichnen „das ganze System der Lebensverhältnisse“ einer in eine Konkurrenzgesellschaft zerfallenen „Gemeinschaft“. Hegel äußert sich noch deutlicher zum eigentlichen Übel: „jede Beziehung ist ein Beherrschen und Beherrscht werden“(ebd.). Aus dieser Situation sieht er das „Bedürfnis der Philosophie“ entstehen, als Kritik eben dieser Verhältnisse.
Im Prinzip der Anerkennung erblickt er schließlich die Chance der Überwindung der Trennung. Er beginnt also mit einer Neubesinnung auf die Subjektivität, um in ihr selbst zugleich den Ursprung der Entzweiungen und den Ansatz zu ihrer Überwindung zu finden. Mit einem Konzept der Intersubjektivität, das er von Fichte übernommen hat, aber mit einem weit umfassenderen Anspruch versieht, hebt er das Projekt der Subjektivität so auf eine neue Ebene. Sowohl die Bildung des Subjekts als auch dessen Einbettung in die Gesellschaft lassen sich auf diese Weise als einheitlicher intersubjektiver Prozess verstehen. Als diesen begreift Hegel die Anerkennung. (Dissertation, s.o., 3.1)
Um unsere Diskussion damit nicht weiter zu belasten, werde ich in den nächsten Tagen in meinem eigenen Blog versuchen, den ganzen Zusammenhang verständlicher zu machen. http://herrschaftsphilosophie.wordpress.com/
August 31, 2014 at 6:48 pm
Das Problem mit der Solidarität besteht darin, dass es sich bei ihr um eine Form und keinen Inhalt handelt. Solidarisch handeln auch Soldaten, und Herrschaftseliten in totalitären Systemen.
Solidarität im linken Diskurs versteht sich in der Regel als Solidarität der einen Gruppe gegen eine andere Gruppe. Vielleicht erklärt sich aus diesem Mangel, dass im real existierenden Sozialismus bzw. im Sowjetkommunismus die Unterdrückung gegenüber dem Kaiserreich und der Weimarer Zeit nicht ab- sondern zugenommen hat.
Hegels Begriff der Vernunft hat immer einen Inhalt und schließt die Möglichkeit ein, sich selbst zu einer für das Gesamtsystem besseren Wirklichkeit hin zu entwickeln.
Betrachtet man mit dieser Logik einen Organismus, dann kann man auch von der Notwendigkeit dieser Entwicklung sprechen, der genau diesen Organismus über sich ändernde Umweltbedingungen und Generationen hinweg am Leben erhält. Ich weiß nicht ob es Hegel gesagt hat, aber es stimmt: Der Sinn des Lebens, ist das Leben.
Man kann natürlich auch mit einem englischen Philosophen, wie oben geschehen, sagen, der Sinn des Lebens sei der Tod.
Wenn dem so wäre fragt man sich, warum sich dieser behauptete Sinn bisher nicht verwirklicht hat und wir alle noch leben und unzählige andere Lebewesen auch?
Ist es nicht vielmehr so, dass nur das Ganze, die besonderen Arten des Lebens am Leben erhält, wie Hegel vernünftiger Weise meinte? Dass wir alle aufeinander angewiesen sind und angewiesen bleiben und dass dieses Ganze auch den Tod und der Verzehr einzelner Lebewesen einschließt, worin die wenigsten Menschen ein moralisches Problem sehen, solange es die Form der Solidarität der Menschen untereinander nicht verletzt.
Mir scheint es ist in der Tat schwierig zu sein, der Vernunft der Wirklichkeit, wie Hegel sie versteht, zu entkommen. Auch der Versuch seine Logik nur „vom Kopf auf die Füße zu stellen“ geriet zu einem weltgeschichtlichen Desaster der Unvernunft.
Nimmt man statt der Solidarität die Liebe, wie du ja auch vorgeschlagen hast, kommt man vernünftiger Weise sehr viel weiter. Nur, wer will heute an einer Universität in einem „wissenschaftlichen“ Diskurs von Liebe sprechen, ohne sich dabei lächerlich zu machen?
Die Kritik an der Solidarität als reine Form stammt übrigens von Maurizio Ferraris, auch ein linker Theoretiker, der mit seinem Manifest für einen neuen Realismus in Italien für Aufsehen gesorgt hat. Ähnliche Zwischenrufe kommen von dem Philosophen Markus Gabriel in Bonn.
August 31, 2014 at 8:02 pm
[…] noch ein Kommentar, den ich zu deinem Statement auf dem Blog von Annette Schlemm zum Thema Vernunft und Solidarität hinterlassen […]