(Die Foliennummern entstammen der dazugehörigen Präsentation)

 

In unserer Ortsgruppe „Extinction Rebellion“ haben wir gegen Ende des vorigen Jahres ein Positionspapier erarbeitet, um uns zu den Kritiken an der Bewegung „Extinction Rebellion“ zu positionieren. In den Prinzipien dieser Bewegung wird vom „toxischen System“ gesprochen. In Jena einigten wir uns darauf, den Kapitalismus bei seinem Namen zu nennen. Natürlich wirken für das naturfeindliche Verhalten auch andere Verhaltensweisen und Verhältnisse eine Rolle, aber wir wollten den zentralen Kern der verhängnisvollen Dynamik präziser benennen.

Dies forderte Kritik heraus. So bekamen wir in einer Email mitgeteilt (Folie 1):

„Ich bin aber über eine Formulierung gestolpert und habe mich gefragt, ob ihr sie bewusst gewählt habt. Und zwar der „weltweit agierende Kapitalismus“ […].
Ist euch bewusst, wie sehr diese Formulierung sich anlehnt an Erzählungen von antikapitalistischen Antisemit*innen? […] Und wenn ihr behauptet, der Kapitalismus würde „agieren“, dann ist das eine ähnliche Verschwörungserzählung.
Denn Kapitalismus agiert nicht. Es sind Menschen, die agieren.

In dem folgenden Bild werden unvermittelt beide Positionen verbunden: der Kapitalismus tötet und Kapitalisten könnten die Mörder sein (Folie 2):

In der Version 1.1. unseres Positionspapiers haben wir daraufhin die Stelle mit diesem „Agieren“ herausgenommen. Aber das Thema selbst hatten wir da noch nicht ausführlich diskutiert. Das holen wir heute nach. Ich habe dazu eine kleine Präsentation vorbereitet. Der Ausgangspunkt ist die durch die Kritik entstehende Frage: Wenn der Verweis auf das System in Richtung Verschwörungstheorie gehen kann, geht dann das Gegenteil davon, die Menschen direkt verantwortlich zu machen, in Richtung einer „Personalisierung“, die zu einem „shaming and blaming“ führt, dass wir in der Bewegung auch ablehnen? (Folie 3 und 4)

Tatsächlich können nur Menschen agieren, nicht die Systeme. Die können sich auch verändern, aber eben nicht in dem Sinne, wie sich Menschen handeln, indem sie selbstgesetzte Zwecke zu erreichen suchen.

Dabei bleibt aber die Frage: Werden nicht die Akteure, deren Handeln einen systemartigen Zusammenhang bildet, nicht gleichzeitig auch vom System bestimmt? (Folie 5) Es gab in den 70ern einen langen gesellschaftstheoretischen Disput über das Verhältnis von Strukturen und Handlungen (z.B. zwischen Niklas Luhmann und Jürgen Habermas). Anders formuliert: von Verhältnissen und Verhalten. Die Annahme, dass es letztlich nur Individuen gibt und alle gesellschaftlichen Phänomene direkt aus individuellem Verhalten ableitbar sein müssten, wird auch „methodischer Individualismus“ bezeichnet und manchmal ist das auch verbunden mit dem „ontologischen Individualismus“, der annimmt, es gibt auch nur die Individuen und ihr Handeln gibt und keine ganzheitlichen Phänomene. Dem kann man aber leicht entgegen halten, dass übergreifende Phänomene wie Sprache dem individuellen Sprechen voraus gehen. Aber letztlich bleibt es eine Art Henne- und-Ei-Problem. Ohne Individuen gibt es nichts Gesellschaftliches – aber das Gesellschaftliche kann nicht auf individuelles Handeln (oder deren Summe) reduziert werden.

Wenn wir noch ein wenig abstrakter werden: Das Verhältnis von Individuen und Gesellschaft ist ein Verhältnis zwischen Teilen und ihrem Ganzen. (Folie 6) Ein Ganzes kann als Summe der Teile entstehen, wie ein Steinhaufen. Es kann aber auch mehr als die Summe der Teile sein, so, wenn die Steine zu einer Kathedrale verbaut sind und auch bei der Gesellschaft, die durch menschliches Handeln entsteht. Dieses „Mehr als die Teile“ ist eigentlich immer gemeint, wenn man von einem „Ganzen“ spricht. Nun kann solch ein Ganzes gemacht sein, ohne dass die Teile dabei selbst agieren, so bei der Kathedrale. Aber die Teile können selbst das Ganze machen, wie bei der Gesellschaft. Für die Gesellschaft gelten einerseits Teile der Gesellschaft, wie die Wirtschaft, die Politik, die Kultur… als ihre (Bestand-)Teile, andererseits kann man auch die Individuen bzw. ihr Handeln als Teile der Gesellschaft betrachten.

Damit sind wir mit unseren Differenzierungen aber noch nicht am Ende. Es gibt unterschiedliche Gesellschaften, in marxschen Begriffen: Gesellschaftsformationen. Ohne hier darauf ausführlicher eingehen zu können, sind nun zu unterscheiden, Gesellschaftsform(en), in denen die Teile der Gesellschaft und auch die Individuen verbunden bleiben mit der Entwicklung des Ganzen von einer Gesellschaftsform, in dem sich Teile gegenüber dem Ganzen verselbständigen, bzw. auch das Ganze sich gegenüber den Teilen verselbständigt. Die Verbindung von Teilen (Gesellschaftsteilen und auch Individuen/ihrem Handeln) mit dem Ganzen soll im Kommunismus (als humane und ökologische Gesellschaft irgendweann nach dem Kapitalismus) verwirklicht sein. Der Kapitalismus ist dagegen gekennzeichnet von einer Verselbständigung der Wirtschaft gegenüber den anderen gesellschaftlichen Bereichen und sogar ihrer Dominanz über die anderen und auch des gesellschaftlichen wirtschaftlichen Ganzen gegenüber den Individuen (dazu gleich mehr).

Jetzt kommt ein wenig Kapitalismusanalyse (für die Marx um die 1000 Seiten brauchte, deshalb kann es hier nur seeeehr verkürzt werden). Beginnen wir mit den Offensichtlichen (Folie 7): Im Kapitalismus werden die zum Leben notwendigen Güter als Waren produziert und gekauft/verkauft. Man kommt an die Waren nur heran, indem man selbst Geld verdient, mit dem man sie kaufen kann. Einerseits beschränkt das den Zugang, was arme Menschen deutlich zu spüren bekommen, andererseits gibt es letztlich eine unablässige Steigerung des Angebots, dem die Bedürfnisse folgen und was ökologisch verheerend wirkt. Auf der Ebene dieser Marktbeziehungen kann man die Dynamik hinter dem Ganzen noch nicht verstehen. Was treibt das Ganze an? Warum müssen es immer mehr und mehr Waren sein?

Dort wo die Waren produziert werden, ist eine besondere Ware aktiv: die Ware Arbeitskraft. (Folie 8) Das Besondere an ihr ist, dass sie mehr Wert produziert, als sie als Arbeitslohn zurück erhält. Diesen Mehrwert kann sich die Kapitalist*in als Verkörperung „des Kapitals“ einstecken. Sie muss es auch, weil sie sonst in der Konkurrenz unterliegt. Und hier kommt der systemische Zwang hinein. Darin unterscheiden sich die kapitalistischen Märkte von allen anderen Märkten, die es überall auf der Welt seit Jahrtausenden gab und gibt. Auf dem kapitalistischen Markt wird nicht einfach gegen den jeweils anderen Anbieter konkurriert, wo letztlich zwar jeder einen Gewinn machen muss (um zu überleben), aber wo die Höhe des Gewinns für alle tendenziell so bemessen ist, dass es für alle, die nicht ganz dumm handeln, ausreicht zum Leben als Händler*in. Im Kapitalismus stellt sich jedoch eine Durchschnittsprofitrate ein, und jede*r Marktteilnehmer*in muss nicht nur mit der*m anderen Marktteilnehmer*in konkurrieren, sondern die Durchschnittsprofitrate erreichen und möglichst übertreffen. Durch die Durchschnittsprofitrate kommt der systemische Effekt hinein (das ist so kompliziert, dass es in den meisten Einführungen in die Marxsche Kritik der Politischen Ökonomie gar nicht erläutert wird).

Man kann diese Besonderheit der kapitalistischen Gesellschaft nun so zusammenfassen. (Folie 9) Zuerst einmal dominiert in ihr der wirtschaftliche Bereich (und führt damit u.a. auch zur „Abspaltung“ der Lebensbereiche, die üblicherweise den Frauen zugeordnet werden). Die Wirtschaft ist davon gekennzeichnet, dass auch die Arbeitskräfte zu Waren geworden sind („Arbeitsmarkt“). Menschen ohne Eigentum an Produktionsmitteln (heute auch Aktien…) kommen nur zum Geld, das sie zum Kaufen der nötigen Güter (als Waren) brauchen, wenn sie ihre Arbeitskraft verkaufen. Dies kennzeichnet auch das Klassenverhältnis. Die einen sind im Besitz der wichtigen Produktionsmittel (wozu heute auch Distributionsmittel wie Verkaufsplattformen maßgeblich gehören) und können und müssen über den Zweck der Produktion bestimmen (alles, was ihre Profite erhöht), die anderen können nur ihre Arbeitskraft verkaufen und haben keine Bestimmungsmacht über den Sinn und Zweck und die Mittel der Produktion (deshalb macht die Demokratie auch an den Werkstoren halt). Das Klassenverhältnis soll keine Menschen einsortieren oder klassifizieren, aber es charakterisiert die Trennung von unterschiedlichen und in vielerlei Beziehung sogar gegensätzlichen gesellschaftlichen Funktionen, die durch Menschen ausgeübt werden. In ökologischer Sichtweise: Es gibt Handlungen, die sich dem Zweck der Profiterhöhung widmen (müssen) und dabei ökologische Schäden in Kauf nehmen (müssen). Und es gibt welche, die sich dieser Zwecksetzung unterwerfen müssen, weil sie nur so letztlich ihre Bedürfnisse befriedigen können (d.h. durch das verdiente Geld die nötigen Waren einkaufen).

Insofern wir die Kapitalist*innen als Menschen betrachten, sind wir wahre „Kapitalist*innenversteher*innen: Wir sehen die systemischen Zwänge ihres Handelns: Um als Kapitalist*in zu überleben, müssen sie so viel Mehrwert aneignen, dass ihre Profite die Durchschnittsprofitrate erreichen und möglichst übertreffen. Um nicht Pleite zu gehen, reicht es nicht (mehr) aus, die eigenen Kosten zu decken, sondern sie müssen „aus Geld noch mehr Geld machen“ (Folien 10 bis 12).

Das führt dazu, dass auch die Bedürfnisse der Konsument*innen nur dann und insoweit befriedigt werden (können), als ihre Befriedigung profitabel genug ist. (Folie 13) Das Bedürfnis nach einer intakten Umwelt gehört nicht zu denen, aus denen die Kapitalvertreter*innen gerade viel Profit schlagen können – höchstens, wenn wiederum die Konsument*innen genug dafür zahlen können (damit ist auch klar, wer für die Rettung der Welt zahlen muss unter diesen Verhältnissen).

Um der Profitsteigerung willen wird auch an der Schraube gedreht, dass den Menschen immer mehr Bedürfnisse aufgeschwatzt und andere Kaufzwänge gesetzt werden, was ökologisch absolut verhängnisvoll ist. Meine Schrankwand ist noch von 1988 aus der DDR – eine Couch, die ich nach unserem Umzug vor 8 Jahren kaufte, ist schon jetzt nicht mehr zu gebrauchen.

Alle Versuche, den Kapitalismus ökologisch verträglich zu machen, sind davon abhängig, dass jemand „nachfragt“. Die Menschen als individuelle Konsument*innen von Bioprodukten, „die Politik“ als regulierende Instanz und letztlich all jene, die nicht unter dem Diktat des Erreichens der Durchschnittsprofitrate stehen (d.h. eine bestimmte Klasse und zwar nicht die der Produktionsmitteleigentümer*innen). Hier sind wir bis zu der Stelle vorgedrungen, an der klar wird: Ökologische Rettung bedeutet Klassenkampf!

Wie schon beim sozialen Klassenkampf gibt es auch hier eine gewisse Variabilität des Systems. (Folie 14) Systemisch gesehen können politische Regulierungen bestimmte „Leitplanken“ vorgeben, innerhalb derer agiert wird. Es gibt auch für den Kapitalismus unterschiedliche Regulierungsformen; es ist ein Unterschied, ob „keynesianisch“ oder „neoliberal“ agiert wird. Letztlich gibt es auch Extremsituationen, wie in den Weltkriegen, in denen Gesellschaft, Politik und Wirtschaft ihre Beziehungen neu aushandelten und so was wie „New Deals“ möglich waren. Dabei blieb der Zwang zum Erreichen der Durchschnittsprofitrate erhalten und auch die Tatsache, dass letztlich die Produktionsmitteleigentümer*innen über den Zweck der Produktion und ihrer Formen maßgeblich bestimmten, wenn auch teilweise eingeschränkt.

Welche Handlungsoptionen haben nun die Unternehmer*innen selbst? (Folie 15) Sie können auswählen, womit sie Profit machen wollen. So eignen sich auch Öko-Produkte oder die Produktion von Energie aus sich erneuernden Quellen dazu. Dabei wird weiter Mehrwert angeeignet und bezahlen müssen letztlich die Kund*innen. Unternehmer*innen können sich auch entscheiden, keinen übermäßigen Profit zu machen, solange ihre Unternehmensexistenz nicht in Frage gestellt wird (was sehr schnell passiert). Letztlich können sie sich als Menschen natürlich auch entscheiden, nicht mehr Unternehmer*in zu sein. Aber wiederum: Da nun wirklich nicht zu erwarten ist dass alle oder auch genügend viele die letzte Option wählen: Die Unternehmer*innen können nur innerhalb des Rahmens der Notwendigkeit des Erreichens der Durchschnittsprofitrate agieren.

Jetzt können wir zu unserer Ausgangsalternative zurückkommen: Kapitalistische Verschwörung oder blaming-and-shaming-Personalisierung (Folie 16). Das Ernstnehmen des systemischen Charakters des Kapitalismus ist nicht identisch mit einer Verschwörungstheorie. Sondern es handelt von den strukturellen handlungsbegrenzenden und -bestimmenden Rahmenbedingungen des Systems, die ganz wesentlich in den Eigentumsverhältnissen festgeklopft sind. Und natürlich gibt es eine persönliche Verantwortung aller Akteur*innen. Verantwortlich kann ein Individuum aber nur für etwas sein, was es individuell beeinflussen kann und dazu gehören die genannten Rahmenbedingungen nicht. Diese können nur durch gesellschaftlich grundlegende Veränderungen der gesellschaftlichen, speziell der Eigentumsverhältnisse verändert werden. Erst dann können wir Menschen andere Zwecke unserer Tätigkeit setzen und bestimmen und nicht mehr für Profite, sondern für Menschen und die Natur produzieren und sie ausreichend reproduzieren.

Dass das nicht schon lange geschieht, können wir (leider) auch ganz gut verstehen. Auch für Nicht-Kapitalist*innen wirken diese Rahmenbedingungen. (Folie 17) Unsere Existenz hängt zuerst einmal von der Welt der Waren ab, wie sie in den kapitalistischen systemischen Zusammenhängen entstehen. Wenn das alles von heut auf morgen zusammenbricht, sind die Supermärkte bald leer… Und wenns funktioniert, brauchen wir Geld, also müssen wir uns im System und für das System so nützlich machen, so dass wir Geld dafür bekommen. Jene, die nicht genügend (Anteile an) Produktionsmitteln haben, sind zur Lohnarbeit erpressbar und letztlich wird das auch politisch offen durchgesetzt (Hartz IV-Schikanen etc.).

Aus dieser doppelten Abhängigkeit der eigenen Existenz vom Funktionen des Systems erklärt sich auch die Tatsache, dass sich viele von uns eher den Untergang der Menschheit vorstellen können als ein Ende des Kapitalismus!

Leider trägt dazu auch bei, dass es wohl keine ausreichend vertrauenerweckende Konzeption einer Alternative gibt, hieße sie nun Sozialismus, Kommunismus oder… Commonismus. (Folie 18) Und erst recht gibt es keine gute Vorstellung darüber, wie die Kapitalist*innen dazu gebracht werden können, ihre Verfügungsmacht über die Produktionsmittel aufzugeben.

Gleichzeitig will wohl niemand so eine Konzeption und Strategie vor die Nase gesetzt bekommen. Deshalb besteht die Herausforderung darin, dass wir alle zusammen beginnen, uns dieser Aufgaben selbst zu stellen. Bildet Lese- und Diskussionszirkel! Organisiert ein Netzwerk unter Euch dazu, geht in die Debatten, die dazu schon laufen. Wie z.B.:


Und wer theoretische Abhandlungen mag, kann auch hier weiter lesen: