Tanja versucht gerade, interessante Fotos zum Thema „Momente“ zu erstellen. Als sie mir das erzählte, erinnerte ich mich daran, was ich gerade gelesen habe: Etwas über die Zeittheorie von Schelling und Bloch. Und da gibt es interessante Verbindungen…


Zeiten in unterschiedlichen Sichtweisen

Wenn wir über das Phänomen der Zeit nachdenken wollen, kommt uns sofort der berühmte „Zeitpfeil“, also die mathematische Darstellung von etwas, das sich in eine Richtung gleichmäßig „ausbreitet“, in den Sinn. So haben wir es von früh auf gelernt und dementsprechend versuchen wir auch unsere Erfahrungen zu ordnen. Der Lebenslauf beginnt mit einem Nullpunkt, dann können wir die Lebensjahre auf dem Zeitstrahl eintragen und irgendwann endet jeder individuelle Pfeil. Dieser individuelle Pfeil ist ein Teil des großen, der wahrscheinlich irgendwie mit dem Urknall begann.

Lineare Zeitpfeildarstellung (Quelle)

Lange stellte man sich auch vor, dass das individuelle Gedächtnis die biographischen Erinnerungen entsprechend solch einem linearen Zeitpfeil organisiert. Als Modell eines solchen Gedächtnisses dient ein gut organisiertes Archiv.

Wir wissen inzwischen, dass dies nicht stimmt. Die Erinnerung ist kein objektiver „Mitschnitt“ unseres Lebens. Sondern sie organisiert ihre Inhalte entsprechend der gegenwärtigen psychischen Anforderungen. Es „konstruiert“ die eigene Vergangenheit nach Maßgabe von Erfordernissen der Gegenwart. Natürlich geschieht dies im allgemeinen unbewusst und jede_r wird sich natürlicherweise gegen die Annahme sträuben, dass dem Gedächtnis nicht zu entreißen ist, wie es „objektiv wirklich gewesen“ ist. Das, was wirklich geschehen ist, wird untergeordnet unter die Bemühungen des Selbstbewusstseins, Integration und Kohärenz zu erreichen (siehe Siegel 2006). In einem Buch, das dieses Thema bearbeitet (Pohl 2007, S. 148 f.) fand ich ein sehr schönes Zitat:

„Es ist gewöhnlich für Raupen, zu Schmetterlingen zu werden und dann zu behaupten, dass sie in ihrer Jugend kleine Schmetterlinge gewesen waren. Die Reifung macht uns alle zu Lügnern.“

Wir haben nun schon zwei Zeittheorien: eine mathematisch-physikalische und eine individual-psychologische. Philosoph_innen sollten nun darauf bedacht sein, alle Aspekte eines Themas und alle Bezüge, die unsere Praxis uns darauf eröffnet, zu berücksichtigen. Es wäre also einseitig, z.B. nur die lineare Zeitvorstellung zu berücksichtigen oder auch andere, die „nur“ aus der objektiven Naturwissenschaft folgen (spiralförmige Zyklen usw., vgl. Hörz 1989) und nicht auch die menschlich-existentiellen Aspekte erfassen. Es ist auch wichtig, dass die anthropologischen Merkmale des Zeiterlebens nicht lediglich als „Abweichungen“ von den „eigentlich richtigen“ naturwissenschaftlichen Zeitvorstellungen interpretiert werden.

Dichter haben dies längst gewusst:

Aus der Zeit wollt ihr einen Strom machen, an dessen Ufern ihr sitzt und zuschaut, wie er fließt.
Doch das Zeitlose in euch ist sich der Zeitlosigkeit des Lebens bewußt
Und weiß, daß Gestern nichts anderes ist, als die Erinnerung von Heute
und Morgen der Traum von Heute.

(Khalil Gibran, Der Prophet)

Und natürlich gibt es Berührungspunkte mit esoteriknahen Würdigungen der Hinwendung der Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt.

Kommen wir nun aber zur Philosophie. Hier gibt es eine interessante Verbindungslinie zwischen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775 – 1854) und Ernst Bloch (1885 – 1977).


Foto rechts oben: Geli, „Wassertropfen“, Quelle: http://www.piqs.de/
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