Die Zeitvorstellung von Schelling

Ich habe mich früher vorwiegend mit den frühen Texten von Schelling beschäftigt (Schlemm 1996) Schelling schien der Philosoph zu sein, dessen Lehre von lebendigen und dynamischen natürlichen Prozessen besonders gut zu den Erkenntnissen der Selbstorganisationstheorie passen und die auch ökologischen Motiven einen geeigneten philosophischen Hintergrund geben können. Schauen wir uns aber die tiefere Grundstruktur seiner Philosophie, die als Begründung für diese wünschenswerten Schlüsse dient an, so steht dann doch die Frage, ob sie heute noch annehmbar erscheinen. Ich verstehe die vielen Veränderungen in Schellings aufeinander folgenden unterschiedlichen Konzeptionen auch als ein Herausbringen der schon früher angelegten Grundstrukturen. Dabei stellt sich nun für die Zeit folgendes heraus:

Die Zeit war für den jungen Schelling (1795) verbunden mit der Notwendigkeit und Möglichkeit für ein Individuum, sein Ziel zu erreichen, nämlich identisch mit sich selbst zu werden (SW I: 199). (Auch Hegel teilte diese Entwicklungsvorstellung, nach der etwas, was es erst als Vermögen („an sich“) gibt, zur Wirklichkeit wird („für sich“ wird).) Dazu braucht es, wenn es um reale Dinge geht und nicht um logische Ableitungen, die Zeit. Das, worauf diese zeitliche Entwicklung hinzielt, ist aber nicht beliebig, sondern bestimmt vom Absoluten, das die Verwirklichung alles Möglichen umfasst und sich selbst außer aller Zeit (aeternitas: Seyn in keiner Zeit) befindet. (SW I: 202) Wenig später (1797/98) präzisiert Schelling: Dass wir als endliche Wesen eine zeitliche Geschichte durchlaufen, ist gegenüber dem Absoluten ein Zeichen unserer Beschränktheit. (SW I: 472). Das Zeitleben“ entpuppt sich als ein „nichtiges Leben“ (SW VII: 164) und da die Philosophie sich aufs Absolute richtet, ist auch „keine Philosophie der Geschichte möglich“ (ebd.: 465).

Seine Vorstellung von natürlicher und menschlicher Geschichte wandelte sich im Laufe der seiner eigenen Lebenszeit maßgeblich. Sprach er im Jahr 1803 wenigstens noch beiläufig von einer „Geschichte der organisch-zeugenden Natur […] von der Pflanze bis zum Gipfel des Thiers“ (SW V: 341), so ging er 1804 davon aus, „daß die frühere Natur der Erde sich mit edlern und höher gebildeten Formen vertrug, als die gegenwärtigen sind“ (SW VI: 59), der zeitliche Verlauf also wenigstens bisher durch ein „Herabsinken der Cultur“ (ebd.) gekennzeichnet ist. Schelling entwickelt hier eine quasizyklische Zeit- und Geschichtsvorstellung: Nach der Entfernung von Gott ist es die Aufgabe, die Welt wieder zu Gott zurück zu führen.

„Die Geschichte ist ein Epos, im Geiste Gottes gedichtet; seine zwei Hauptpartien sind: die, welche den Ausgang der Menschheit von ihrem Centro bis zur höchsten Entfernung von ihm darstellt, die andere, welche die Rückkehr.“ (SW VI: 57)

Wieder nur wenige Jahre später leiten Gedanken aus seiner „Freiheitsschrift“ (1809) über zu den späteren Philosophiekonzepten der „Weltalter“ und der „Philosophie der Mythologie“ und der „Philosophie der Offenbarung“, denn „[o]hne den Begriff eines menschlich leidenden Gottes, der allen Mysterien und geistigen Religionen der Vorzeit gemein ist, bleibt die ganze Geschichte unbegreiflich […]. (SW VII: 403) Schließlich wird für den späten Schelling die gesamte Geschichte eines Volkes durch seine Mythologie bestimmt.

„Nicht durch seine Geschichte ist ihm seine Mythologie, sondern umgekehrt ist ihm durch seine Mythologie seine Geschichte bestimmt, oder vielmehr diese bestimmt nicht, sie ist selbst sein Schicksal (wie der Charakter eines Menschen sein Schicksal ist), sein ihm gleich anfangs gefallenes Loos.“ (SW XI: 64)

Für mich war in meiner ersten „Schelling-Phase“ damit das Interesse an Schellings späterer Philosophie erloschen. Ernst Bloch jedoch scheint gerade aus dieser Zeit Impulse aufzunehmen.