In vielen Darstellungen zur Geschichte der Philosophie, wenn sie sich nicht gleich auf die „abendländische“ Tradition beschränken (wie Wikipedia), ist die arabisch-islamische Tradition spätestens im 16. Jahrhundert nicht mehr erwähnenswert und auf dem Weg dahin werden vorwiegend jene Denker gewürdigt, die sich in Richtung einer der westlichen sehr ähnlichen Aufklärung bewegen. Häufig wird angenommen, der arabisch-islamische Kulturkreis würde seitdem stagnieren bzw. sei in „Dekadenz“ geraten.

Thomas Bauer dagegen wendet sich in seinem Buch „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams“ gegen die „Frühzeitversessenheit“ der Islamwissenschaften (161)) und bezieht sich vorwiegend auf Quellen aus der Ayyubiden– und Mamlukenzeit (1171-1517 u.Z.) sowie der Osmanenzeit (1517- 19. Jhd.u.Z.). Er bezeichnet die Jahrhunderte zwischen dem 10. und dem 19. Jahrhundert als „Zeitalter des Skeptizismus“ (385): In dieser „klassischen“ Zeit formt sich die islamische Kultur aus.


Beginnen wir also gleich mit dem Hauptgegenstand, an dem wir die Ambiguität der islamischen Kultur gut kennenlernen können: dem Koran. Auf einer Webseite können wir uns verschiedene Lesarten des Koran anhören. Auch wenn wir kein Wort verstehen, können wir heraushören, dass insbesondere die Vokale jeweils anders sind.

Dies wird häufig mit der Besonderheit der arabischen Sprache erklärt, bei der die Vokale nicht mitgeschrieben werden. Die Vieldeutigkeit erscheint als Manko, das letztlich durch Zuhilfenahme von Punktierungen behoben werden kann. Kaum jemand vermutet, dass diese Vieldeutigkeit zumindest beim Koran kein Mangel, sondern pure Absicht ist. Dies behauptet Thomas Bauer in seinem Buch „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams“.

Er geht davon aus, dass sich im (klassischen) islamischen Kulturkreis trotz des entstandenen Monotheismus kein Wahrheitsdogmatismus entwickelt hat, sondern die Darstellungsweise darauf abzielt, einen Variantenreichtum zu pflegen, auch wenn die entstehende Vielfalt „gezähmt“ werden muss, um nicht in Beliebigkeit zu zerfallen.

Sehr oft werden Berichte über harte Kämpfe und Streite aus dem Reich der Kalifen überliefert. Thomas Bauer betont aber, dass die meisten dieser Kämpfe, vor allem nach den ersten Jahrhunderten, nicht mit der Vernichtung oder Unterjochung eines der Kontrahenten endete, sondern die Kultur des klassischen Islams sich als Ergebnis von Kompromissen zwischen widerstreitenden Diskursen herausgebildet hat; es gab eine regelmäßige Folge von Diskursintegrationen (42).

Der Variantenreichtum des Korans

Insbesondere im 14. Jhd. u.Z. wurden die verschiedenen Varianten des Korantextes als Bereicherung empfunden (15). Während bis zu Mohammeds Auftreten immer wieder neue Propheten auf die Erde kamen, um das Wort Gottes an die jeweiligen neuen Bedingungen und Kontexte anzupassen, soll der Koran mit seiner mehrdeutigen Sprechweise die Menschen befähigen, den Text jeweils zeitbezogen selbständig interpretieren zu können (118). Bei einer Koraninterpretation geht es in der genannten Zeit des klassischen Islam vorwiegend darum, das gesamte Interpretationsspektrum einer Textstelle zu erfassen, anstatt sich auf eine einzige Interpretation als allein gültige festzulegen (45).

„Keiner ist von vollkommener Einsicht, ehe er nicht im Koran viele wudjuh (Bedeutungsaspekte) erkennen kann. Gemeint ist, daß jemand, wenn er einen einzelnen sprachlichen Ausdruck sieht, den man in verschiedenen Bedeutungen auffassen kann, sich nicht auf eine Bedeutung beschränkt, sondern sie auch in diesen verschiedenen Bedeutungen auffaßt, solange sie einander nicht widersprechen.“ (As-Suyuti, zit. S. 123)

Eine systematische Betrachtung zeigt, dass sich letztlich sämtliche Koranlesarten auf eine endliche Menge an generativen Transformationsmodi zurückführen lassen (aus Bauer 2011: 88):

Dabei gilt der „der variantengenerierende Mechanismus […] selbst als Bestandteil des Textes“ (113). Es entstehen beispielsweise für den vierten Vers der ersten Sure verschiedene Textvarianten, die mit unterschiedlicher Häufigkeit verwendet werden (ebd.: 112):

Auf diese Weise gilt der Koran als „pluraler, nichtabgeschlossener, hypertextuell strukturierter nichtlinearer Text, dessen Bedeutungsgehalt nie ganz ausgeschöpft werden kann, sondern der von seinen Hörern und Lesern immer neue Textarbeit fordert […]“ (113).

Dies entspricht der Vorstellung eines Textes als „System von Relationen … zwischen dem Text und seinen Rezipienten“ (Kermani 1999: 11). Insbesondere bei Rechtsbüchern gilt es das Verhältnis der lexikalischen Bedeutung, der Bedeutung, die der Sprecher verwendet hat und der Bedeutung, die der Hörer dem Ausdruck zuschreibt, zu beachten (Bauer 2011: 163f.).

„Während die Bibel erst von neuzeitlichen Philologen mit einem Variantenapparat versehen worden ist, ist, nach klassischer islamischer Vorstellung, der Koran mitsamt seinen Varianten offenbart worden. Varianten sind nicht Unfälle der Textüberlieferung, sondern genuiner Bestandteil des Textes selbst.“ (46)

Hier wird nicht angenommen, dass beim Vorliegen von zwei Interpretationen eine falsch sein muss. Nein, der muslimische Interpret geht „davon aus, daß die Unverständlichkeit einzelner Stellen eine unvermeidliche, da gottgewollte Eigenschaft des Textes ist, eine göttliche List, die die Menschen zu ständiger neuer Beschäftigung mit dem Text anreizt und ihnen Gelegenheit zur Bewährung ihres Wissens und ihres Scharfsinns gibt“ (46). Im Wikipediatext zur Koranexegese wird recht ausführlich die Geschichte der Koraninterpretation geschildert und bemerkt:

„Nach dem Stand der Forschung ist davon auszugehen, dass es stets eine Anzahl gleichberechtigter und nebeneinander gebrauchter Textformen gab.“

In einer Diskussionseite zum Beitrag „Lesarten des Korans“ wird für die Gegenwart berichtet:

„Auf CD und als Buch bekommt man leicht die Zusammenschau der 14 Überlieferungen. Sie werden im Radio, im Fernsehn und im Internet klanglich verbreitet. Richtig ist, dass manche Fundamentalisten damit Schwierigkeiten haben, aber seit die CD, die die Unterschiede zeigt und erklingen lässt von verschiedenen Fernsehstationen in Ramadannächten ausgestrahlt wurde, kommen sie damit nicht mehr durch.“

Aus diesem Grunde wurde in der arabisch-islamischen Tradition auch nicht die Logik zur Leitwissenschaft wie im Abendland, sondern die Rhetorik behielt ihre maßgebliche Bedeutung. Es war und blieb wichtig, wer ein Argument wem in welchem Kontext vorträgt (393).

Aus dem Wissen um die Bedeutung der Variantenvielfalt erklärt sich auch die Skepsis gegenüber Übersetzungen des Korans. Die Bindung des Korans an die arabische Sprache erklärt sich „nicht aus dogmatischer Engstirnigkeit, sondern aus der Furcht vor einem Ambiguitätsverlust, den jede Übersetzung zwangsläufig mit sich bringt“ (47, vgl. 137ff.).

Auch die mündliche Tradierung („Koran“ ist die arabische Bezeichnung für „Lesung, Rezitierung, Vortrag“) beinhaltet die Vermittlung von Interpretationskenntnissen, und es kommt dabei nicht auf die wortwörtliche Wiederholung, sondern die Befähigung zur sachgerechten Korenexegese an. Die Besonderheit der dabei vermittelten Erkenntnisse wird übersehen, wenn wir lediglich westliche Tradierungs- und Interpretationsmuster hinein interpretieren. Es heißt, der erste aufgeschriebene Korantext (um 632-634 von Abu Bakr in Auftrag gegeben) sei vor allem eine „Sicherheitskopie“ gewesen, weil viele Korangelehrte in Kämpfen umgekommen waren (66). Auch das erste „Vereinheitlichungswerk“ namens „Uthman“ (650-651) negierte nicht nur Ambiguitäten, sondern erzeugte neue, indem bewusst die Vokalzeichen weggelassen wurden, die damals schon bekannt waren (66ff.).

Fehldeutungen ergeben sich heutzutage immer wieder daraus, dass moderne Leser_innen annehmen, dass es einen einzigen Urtext gegeben habe, der erst später verändert wurde und der sich mit einer bestimmten Methode wieder rekonstruieren lassen könnte. Demgegenüber gilt jedoch:

„Der traditionelle islamische Gelehrte weiß, daß restlose Eindeutigkeit etwas der menschlichen Natur Widersprechendes ist, und nimmt dankbar das göttliche Geschenk eines pluralen Korantextes entgegen, dessen genaue Grenzen offen sind und der ihm dadurch zur Aufgabe und zur Bewährungsprobe wird.“ (78)

Rechtspraxis

Dieser Bewährungsprobe unterwerfen sich insb. die Rechtstheoretiker immer wieder. Sie müssen praktisch umsetzbare Anweisungen geben und hierzu müssen sie die Ambiguität bändigen. Dabei wird bewusst in Kauf genommen, dass die Rechtsbücher nicht direkt in die Praxis umgesetzt werden. Wie schon im ersten Beitrag angedeutet, ist der Jurist „nicht für die Wahrheit des Glaubens verantwortlich, sondern bedient sich seines fehlbaren Verstandes, um zu Urteilen zu gelangen, die keine Gewißheit beanspruchen können“ (206).

Ein interessantes Beispiel für die Rechtspraxis ist die Steinigung von Ehebrechern. Es gibt tatsächlich einen Paragraphen zur Steinigung von Ehebrechern. „Dessen praktische Umsetzung wurde aber gleichzeitig durch eine Reihe weiterer Vorschriften unmöglich gemacht“ (60). So muss ein Ehebruch z.B. von 4 Zeugen in allen Einzelheiten bezeugt werden (280). Auch die Geburt unehelicher Kinder wird eher durch die Vorstellung einer „schlafenden Schwangerschaft“ erklärt, als dass es Folgen für die Frau gäbe (ebd.). Vor dem 20. Jhd. wird von keiner einzigen Hinrichtung oder auch nur Anklage deswegen berichtet.

„Die Steinigung von Ehebrechern wird als Norm akzeptiert, mag gar in der „Frühzeit des Islams“ unter besonderen Umständen angewandt worden sein, aber durch die Hürden, die das Gesetz selbst errichtet, unanwendbar und damit im praktischen Sinne ungültig.“ (282)

Es gibt zu vielen Fragen auch widersprüchliche Rechtsgutachten. Nach einigen wurde Musik verboten, nach anderen (und das sind die Mehrzahl), wird Musik als gottgefällige Sache angesehen (60). Aus aktuellem Anlass ist z.B. die Beantwortung folgender Frage besonders interessant: „Was sagt der Islam zu Demonstrationen und Hungerstreiks?“ (Antwort siehe hier).

Dieser Anspruch auf Auslegung wurde sehr wertgeschätzt: „Die Meinungsverschiedenheit ist eine Gnade für meine Gemeinde.“ (as-Suyuti (1445-1505 u.Z.), zit. S. 45, vgl. dazu S. 184f.). Er beruht auf der Vielfalt des Lebens selbst (91). Wenn neue Deutungen entstehen muss die Fülle natürlich in irgendeiner Weise auch wieder kanalisiert werden. Verdrängungswettbewerbe führten meist zu Kompromissen, „die die ursprünglich konkurrierenden Deutungsmuster integrierten oder nebeneinander bestehen ließen“ (28). Es lassen sich Zeiten finden, in denen eine Ausuferung der Interpretationen zu krisenhaften Erscheinungen führte, dann wurde die Ambiguität teilweise beseitigt, aber nie vollständig (57).

„Im Grunde sind alle zentralen gesellschaftlichen Deutungssysteme des vorkolonialen Nahen Ostens Resultat einer solchen Ambiguisierung oder durch einen solchen Prozeß mitgeprägt.“ (28)

Die folgende Abbildung zeigt den langen Weg vom überlieferten Text zur Beurteilung eines Sachverhalts (aus Bauer 2001: 182):

Es ist natürlich eine große geistige Herausforderung, in diesem Prozess mitzuwirken. Es erfordert eine große Gründlichkeit und Präzision. Aus dieser Leistungsfähigkeit wird dann auch die Vorstellung der Überlegenheit der Muslime abgeleitet (92).

Ambiguitätskultur

Die Vorliebe für Ambiguität wird auch deutlich in der Literatur, in der die Vieldeutigkeit von alters her beliebt war (249f.):

„Der Exeget hat den Ehrgeiz, in einem Text möglichst viele Bedeutungen zu finden. Das Sammeln von Wörtern mit gegensätzlicher Bedeutung wird zum Lexikographensport. Literaten […] bemühen sich, Texte zu schaffen, die möglichst viele Bedeutungen auf möglichst engem Raum vereinigen.“ (265)

Dichterwettstreite zwischen Vertretern verschiedener Gruppen sind in der altarabischen Tradition wurden häufig abgehalten (254), sie beinhalten das „Bewußtsein der Relativität menschlicher Urteile und Bewertungen“ (255). In der Abbasidenzeit entwickelten Gelehrte eine umfassende Disputationskunst (ebd.). Dabei entstehen Schriften, in denen Dasselbe gleichzeitig gelobt und kritisiert wird, es wird jeweils über „die guten und die schlechten Seiten“ Desselben und das Ineinander-Übergehen dieser Gegensätze geschrieben, so heißt ein Buch z.B.: „Das Schönmachen des Häßlichen und das Häßlichmachen des Schönen“ (255f.). Dies entspricht einer Mentalität, die „Doppelbödigkeit der menschlichen Existenz“ zu berücksichtigen und sich vor Vorurteilen zu bewahren (258).

In der kolonialen Zeit wird gerade das „Überhandnehmen von Wortspielereien“ als Anzeichen des Niedergangs angesehen (250):

„In den Augen des Westens zeig sich die Unreife des Orientalen und die Stagnation seiner Kultur gerade in seiner Leidenschaft für Ambiguität.“ (252)