Auch aus geschichtlichen Überlegungen heraus liegt die Frage nahe, warum die „moderne“, „bürgerliche“, sprich kapitalistische Entwicklung ausgerechnet in Europa ihren Ausgang nahm. Waren die anderen Regionen bloß „noch nicht weit genug“ entwickelt? Häufig wird der westlich-abendländische Entwicklungsweg quasi als „Norm“ zugrunde gelegt und gefragt, warum die anderen Regionen nicht so weit kamen. Ginge es nicht auch anders herum?

Man kann auch fragen, wieso sich ausgerechnet hier etwas entwickelt hat, was zwar einerseits zu dem geführt hat, was man verbreitet als „Fortschritt“ versteht, andererseits jetzt aber die Weiterführung der menschlichen Zivilisation überhaupt in Frage zu stellen droht.

Eins der Bücher, das wir auch im Geschichtsseminar der Zukunftswerkstatt Jena diskutiert haben, ist „Arm und Reich“ von Jared Diamond. Hier liegt der Schwerpunkt im Vergleich der eurasischen Entwicklungsbedingungen für die frühen Kulturen im Vergleich zu Nord- und Südamerika. Ein anderes Buch ist Michael Mitterauers „Warum Europa?“. Hier wird die frühmittelalterliche Geschichte auch immer wieder im Kontrast zu den Bedingungen, zur Geschichte und zur Kultur in den anderen Gebieten der Welt betrachtet.

Dabei wird für den islamischen Raum festgestellt, dass es hier keine Rodemöglichkeiten wie in Europa gab, dass eine besondere Vielfalt an Kulturpflanzen entwickelt wurde, wobei der intensive Gartenbau jedoch keine Synergieeffekte durch die Viehzucht erhielt (während in Europa sich die Agrartechnik und die Nutzung von Pferden gegenseitig stark beförderte: sog. „Vergetreidung“ als wesentlicher Neuerungs- und Beschleunigungsfaktor). Politisch konnte Europa sich wegen bestimmten Besonderheiten (zweigeteilte Herrschaft: Herrenland/Bauernland, kleinteilige dezentrale Ordnungs- und Herrschaftsstrukturen) besonders schnell entwickeln, was im islamischen Raum alles nicht so zutraf.


(Hier ergänze ich in Kürze Hinweise aus einer weiteren Literaturquelle, die ich mir gerade antiquarisch besorge, weil ich an meine eigenen alten Bücher gerade nicht herankomme).

Thomas Bauer stellt in seinem Buch „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams“ die Sonderwegfrage aus einer besonderen Perspektive. Er fragt nicht, welches Phänomen in Europa vorhanden gewesen sei als „positive“ Ursache für die dynamische Entwicklung, denn fast alle der üblicherweise (und auch bei ihm) genannten Faktoren gab es im arabisch-islamischen Bereich irgendwann auch. Er nennt: Marktwirtschaft, Arbeitsteilung, Individualismus, Säkularismus, Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme. Er fragt anders herum: War es nicht eher ein Defizit, was zum Sonderweg der europäischen Geschichtsentwicklung führte? Er sieht die Wurzeln dieser Besonderheit in einigen Ereignissen im 16. und 17. Jahrhundert: So wurden die bis dahin durch die Renaissance entwickelte humanistische Trends beim Konzil von Trient 1563 zerschlagen; die Ermordung des französischen Königs Heinrich IV. 1610 beendete ein Zeitalter der Toleranz verschiedener Interpretationen des Christentums und insbesondere der Dreißigjährige Krieg (1618 bis 1648) führte nach Stephen Toulmin zu einer Umorientierung:

„Die Bereitschaft der Humanisten [Erasmus, Morus, Rabelais, ergänzt v. A.S.], mit Ungewißheit, Vieldeutigkeit und Meinungsverschiedenheit zu leben, hatte in ihren Augen [der weltlichen und geistlichen Mächtigen, ergänzt v. A.S.] nicht verhindern können, daß der religiöse Konflikt außer Kontrolle geriet; daher, so schlossen sie, hatte sie zur Verschlimmerung der Situation beigetragen. Wenn man mit der Skepsis auf keinen grünen Zweig gekommen war, dann war Gewißheit um so dringender vonnöten. […] Wenn die Europäer nicht im skeptischen Sumpfe versinken wollten, dann mußten sie wohl etwas finden, dessen man >gewiß< sein konnte.“ (zit. S. 392)

Außerdem haben nach Thomas Bauer auch die Besonderheiten der herrschenden christlichen Religion eine Bedeutung, so die zentrale Stellung der Sünde und ihre radikale Leib- und Sexfeindlichkeit.

Genau genommen, so beschreibt es auch Bauer, begann der geistige Umbruch bereits mit Aristoteles. Während die Ausdrucksweise des philosophischen Denkens von Heraklit (soweit wir sie aus überlieferten Fragmenten überhaupt kennen) noch als vielschichtig und doppelbödig gilt, wofür ihm auch der Beiname „der Dunkle“ gegeben wurde (durch Cicero, nach Wikipedia), so zeichnet sich die Aristotelische Philosophie durch den Versuch aus, äußerste sprachliche Klarheit zu erreichen. Ich schreibe hier bewusst, dass sich diese Philosophie dadurch „auszeichnet“, denn bei aller Relativierung des Anspruchs der Eindeutigkeit zugunsten einer neuen Wertschätzung der Ambivalenz (was in den folgenden Blogbeiträgen vertieft werden wird) würde ich auf die geistig-kulturellen Ergebnisse der europäisch-abendländischen Geschichte auch nicht verzichten wollen.

Der Unterschied bezüglich der Wertschätzung (dazu im nächsten Beitrag mehr) oder Ablehnung von Ambiguität im „Abend-“ bzw. im „Morgen-“land zieht sich durch viele Epochen. Nach Bauer begründet sich auch das extrem unterschiedliche Vorgehen der Erkundung der Weltmeere und neuer Kontinente durch die verschiedene Mentalität in diesem Bereich. Europäische Entdecker verwendeten meist arabische Karten -warum waren sie es, die die neuen Kontinente in Besitz nahmen und nicht die Menschen aus den islamischen Kulturen, obgleich sie seefahrtstechnisch wohl ebenso dazu in der Lage gewesen wären? Thomas Bauer sieht die Ursache dafür in der großen Gelassenheit der Menschen in der arabisch-islamischen Welt dem Anderen gegenüber. Sie hegen keine übermäßige Neugier und sie werden nicht durch einen „Universalisierungsehrgeiz“ (366) ihrer eigenen Denk- und Lebensweise getrieben. Anders dagegen im europäischen Abendland:

„Die Neugier auf den Anderen beruhte nicht auf Aufgeschlossenheit und Weltoffenheit, sondern verdankt sich vor allem der Tatsache, daß sich keine andere Kultur so leicht und so sehr von der Andersheit der Anderen in Frage gestellt sah. Wann immer man sich mühsam zur Wahrheit, zu einer Wahrheit durchgerungen hatte – vom Christentum des Mittelalters bis zu den Welterklärungsideologien des 19. Jahrhunderts -, immer gab es diese anderen Länder und anderen Menschen, die durch ihre bloße Existenz die mühsam errungene Gewißheit der eigenen Weltsicht in Frage stellten.“ (370)

Insbesondere in der europäischen Aufklärung verfestigt sich der Gegensatz. Während es im 16. und 17. Jahrhundert noch einmal eine Blütezeit „stilistischer Raffinesse“ und eine Vorliebe für das „subtile Spiel mit der Sprache“ gab, wurde dies durch die Aufklärung beendet (32). Deren Ziel war es, „Unklarheiten zu beseitigen“ (Wikipedia). Die Vernunft als Urteilsinstanz hat universelle Ansprüche. Zweifellos sollte (und kann wahrscheinlich auch) ein umfassender Begriff von Vernunft auch die von Bauer verteidigte Ambiguität von Betrachtungsweisen mit enthalten. Durchsetzungsmächtig war bisher jedoch eher ihre vereinseitigende, instrumentelle Form, bei der sie zum Mittel einer gleichmacherischen bzw. unterdrückerischen Universalisierung wurde und wird.

Wunsch des liberalen Aufklärers Condorcet nach einer Universalsprache, „welche die Erkenntnis der Wahrheit leicht und den Irrtum fast unmöglich machte“ (zit. S. 32; vgl. dazu mehr auch hier).

Auch Michel Foucault (1971) betont die Zäsur in der kulturellen Entwicklung zwischen der Renaissance und dem späteren „Zeitalter der Klassik“ (ab 17. Jhd.). Während beispielsweise Schriften in der Renaissance noch nach dem Prinzip der „Beziehung der Interpretation“ verstanden wird, so beginnt in der Klassik die „Beziehung der Ordnung“ vorzuherrschen (Foucault 1971: 91). Es geht nicht mehr Ähnlichkeiten, wie vorher, sondern um Identitäten und Unterschiede (ebd.: 82). Foucault sieht einen Zusammenhang dieser neuen Ordnung des Wissens zu dem sich in dieser Zeit durchsetzenden Merkantilismus, d.h. der Loslösung von der (qualitativen) „Kostbarkeit“ des Geldes in Richtung von rein quantitativ erfassbaren Tauschrelationen (ebd.: 222).

Thomas Bauer zitiert dazu einen weiteren Autoren:

„Der Kampf gegen die Ambiguität, den westliche Intellektuelle seit dem 17. Jahrhundert führten, ist eine in der Weltgeschichte einzigartige Entwicklung. In keiner vormodernen Kultur findet sich etwas Vergleichbares.“ (Donald N. Levine: The Flight from Ambiguity; zit. S. 40)

Für das ebenfalls außerordentliche Thema der „Ambiguität der Lust“ und deren Unterdrückung in der abendländischen Kultur durch die Festlegung von Normen anerkannter Sexualität im Westen möchte ich hier das direkte Lesen des Buches von Th. Bauer empfehlen (S. 268ff.). Sex als “Vorgeschmack auf das Paradies“ – das hat doch was…


Zusätzliche Literatur:

  • Diamond, Jared (2006): Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften. Frankfurt am Main: Fischer Verlag. (Notizen dazu)
  • Michel Foucault (1971): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Mitterauer, Michael (2003): Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs. München: C.H.Beck Verlag. (Blogbeitrag dazu , Notizen dazu)
  • Toulmin, Stephen (1991): Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne. Frankfurt am Main 1991. (habe ich selbst nicht gelesen)