Auch aus geschichtlichen Überlegungen heraus liegt die Frage nahe, warum die „moderne“, „bürgerliche“, sprich kapitalistische Entwicklung ausgerechnet in Europa ihren Ausgang nahm. Waren die anderen Regionen bloß „noch nicht weit genug“ entwickelt? Häufig wird der westlich-abendländische Entwicklungsweg quasi als „Norm“ zugrunde gelegt und gefragt, warum die anderen Regionen nicht so weit kamen. Ginge es nicht auch anders herum?
Man kann auch fragen, wieso sich ausgerechnet hier etwas entwickelt hat, was zwar einerseits zu dem geführt hat, was man verbreitet als „Fortschritt“ versteht, andererseits jetzt aber die Weiterführung der menschlichen Zivilisation überhaupt in Frage zu stellen droht.
Eins der Bücher, das wir auch im Geschichtsseminar der Zukunftswerkstatt Jena diskutiert haben, ist „Arm und Reich“ von Jared Diamond. Hier liegt der Schwerpunkt im Vergleich der eurasischen Entwicklungsbedingungen für die frühen Kulturen im Vergleich zu Nord- und Südamerika. Ein anderes Buch ist Michael Mitterauers „Warum Europa?“. Hier wird die frühmittelalterliche Geschichte auch immer wieder im Kontrast zu den Bedingungen, zur Geschichte und zur Kultur in den anderen Gebieten der Welt betrachtet.
Dabei wird für den islamischen Raum festgestellt, dass es hier keine Rodemöglichkeiten wie in Europa gab, dass eine besondere Vielfalt an Kulturpflanzen entwickelt wurde, wobei der intensive Gartenbau jedoch keine Synergieeffekte durch die Viehzucht erhielt (während in Europa sich die Agrartechnik und die Nutzung von Pferden gegenseitig stark beförderte: sog. „Vergetreidung“ als wesentlicher Neuerungs- und Beschleunigungsfaktor). Politisch konnte Europa sich wegen bestimmten Besonderheiten (zweigeteilte Herrschaft: Herrenland/Bauernland, kleinteilige dezentrale Ordnungs- und Herrschaftsstrukturen) besonders schnell entwickeln, was im islamischen Raum alles nicht so zutraf.
…
(Hier ergänze ich in Kürze Hinweise aus einer weiteren Literaturquelle, die ich mir gerade antiquarisch besorge, weil ich an meine eigenen alten Bücher gerade nicht herankomme).
…
Thomas Bauer stellt in seinem Buch „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams“ die Sonderwegfrage aus einer besonderen Perspektive. Er fragt nicht, welches Phänomen in Europa vorhanden gewesen sei als „positive“ Ursache für die dynamische Entwicklung, denn fast alle der üblicherweise (und auch bei ihm) genannten Faktoren gab es im arabisch-islamischen Bereich irgendwann auch. Er nennt: Marktwirtschaft, Arbeitsteilung, Individualismus, Säkularismus, Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme. Er fragt anders herum: War es nicht eher ein Defizit, was zum Sonderweg der europäischen Geschichtsentwicklung führte? Er sieht die Wurzeln dieser Besonderheit in einigen Ereignissen im 16. und 17. Jahrhundert: So wurden die bis dahin durch die Renaissance entwickelte humanistische Trends beim Konzil von Trient 1563 zerschlagen; die Ermordung des französischen Königs Heinrich IV. 1610 beendete ein Zeitalter der Toleranz verschiedener Interpretationen des Christentums und insbesondere der Dreißigjährige Krieg (1618 bis 1648) führte nach Stephen Toulmin zu einer Umorientierung:
„Die Bereitschaft der Humanisten [Erasmus, Morus, Rabelais, ergänzt v. A.S.], mit Ungewißheit, Vieldeutigkeit und Meinungsverschiedenheit zu leben, hatte in ihren Augen [der weltlichen und geistlichen Mächtigen, ergänzt v. A.S.] nicht verhindern können, daß der religiöse Konflikt außer Kontrolle geriet; daher, so schlossen sie, hatte sie zur Verschlimmerung der Situation beigetragen. Wenn man mit der Skepsis auf keinen grünen Zweig gekommen war, dann war Gewißheit um so dringender vonnöten. […] Wenn die Europäer nicht im skeptischen Sumpfe versinken wollten, dann mußten sie wohl etwas finden, dessen man >gewiß< sein konnte.“ (zit. S. 392)
Außerdem haben nach Thomas Bauer auch die Besonderheiten der herrschenden christlichen Religion eine Bedeutung, so die zentrale Stellung der Sünde und ihre radikale Leib- und Sexfeindlichkeit.
Genau genommen, so beschreibt es auch Bauer, begann der geistige Umbruch bereits mit Aristoteles. Während die Ausdrucksweise des philosophischen Denkens von Heraklit (soweit wir sie aus überlieferten Fragmenten überhaupt kennen) noch als vielschichtig und doppelbödig gilt, wofür ihm auch der Beiname „der Dunkle“ gegeben wurde (durch Cicero, nach Wikipedia), so zeichnet sich die Aristotelische Philosophie durch den Versuch aus, äußerste sprachliche Klarheit zu erreichen. Ich schreibe hier bewusst, dass sich diese Philosophie dadurch „auszeichnet“, denn bei aller Relativierung des Anspruchs der Eindeutigkeit zugunsten einer neuen Wertschätzung der Ambivalenz (was in den folgenden Blogbeiträgen vertieft werden wird) würde ich auf die geistig-kulturellen Ergebnisse der europäisch-abendländischen Geschichte auch nicht verzichten wollen.
Der Unterschied bezüglich der Wertschätzung (dazu im nächsten Beitrag mehr) oder Ablehnung von Ambiguität im „Abend-“ bzw. im „Morgen-“land zieht sich durch viele Epochen. Nach Bauer begründet sich auch das extrem unterschiedliche Vorgehen der Erkundung der Weltmeere und neuer Kontinente durch die verschiedene Mentalität in diesem Bereich. Europäische Entdecker verwendeten meist arabische Karten -warum waren sie es, die die neuen Kontinente in Besitz nahmen und nicht die Menschen aus den islamischen Kulturen, obgleich sie seefahrtstechnisch wohl ebenso dazu in der Lage gewesen wären? Thomas Bauer sieht die Ursache dafür in der großen Gelassenheit der Menschen in der arabisch-islamischen Welt dem Anderen gegenüber. Sie hegen keine übermäßige Neugier und sie werden nicht durch einen „Universalisierungsehrgeiz“ (366) ihrer eigenen Denk- und Lebensweise getrieben. Anders dagegen im europäischen Abendland:
„Die Neugier auf den Anderen beruhte nicht auf Aufgeschlossenheit und Weltoffenheit, sondern verdankt sich vor allem der Tatsache, daß sich keine andere Kultur so leicht und so sehr von der Andersheit der Anderen in Frage gestellt sah. Wann immer man sich mühsam zur Wahrheit, zu einer Wahrheit durchgerungen hatte – vom Christentum des Mittelalters bis zu den Welterklärungsideologien des 19. Jahrhunderts -, immer gab es diese anderen Länder und anderen Menschen, die durch ihre bloße Existenz die mühsam errungene Gewißheit der eigenen Weltsicht in Frage stellten.“ (370)
Insbesondere in der europäischen Aufklärung verfestigt sich der Gegensatz. Während es im 16. und 17. Jahrhundert noch einmal eine Blütezeit „stilistischer Raffinesse“ und eine Vorliebe für das „subtile Spiel mit der Sprache“ gab, wurde dies durch die Aufklärung beendet (32). Deren Ziel war es, „Unklarheiten zu beseitigen“ (Wikipedia). Die Vernunft als Urteilsinstanz hat universelle Ansprüche. Zweifellos sollte (und kann wahrscheinlich auch) ein umfassender Begriff von Vernunft auch die von Bauer verteidigte Ambiguität von Betrachtungsweisen mit enthalten. Durchsetzungsmächtig war bisher jedoch eher ihre vereinseitigende, instrumentelle Form, bei der sie zum Mittel einer gleichmacherischen bzw. unterdrückerischen Universalisierung wurde und wird.
Wunsch des liberalen Aufklärers Condorcet nach einer Universalsprache, „welche die Erkenntnis der Wahrheit leicht und den Irrtum fast unmöglich machte“ (zit. S. 32; vgl. dazu mehr auch hier).
Auch Michel Foucault (1971) betont die Zäsur in der kulturellen Entwicklung zwischen der Renaissance und dem späteren „Zeitalter der Klassik“ (ab 17. Jhd.). Während beispielsweise Schriften in der Renaissance noch nach dem Prinzip der „Beziehung der Interpretation“ verstanden wird, so beginnt in der Klassik die „Beziehung der Ordnung“ vorzuherrschen (Foucault 1971: 91). Es geht nicht mehr Ähnlichkeiten, wie vorher, sondern um Identitäten und Unterschiede (ebd.: 82). Foucault sieht einen Zusammenhang dieser neuen Ordnung des Wissens zu dem sich in dieser Zeit durchsetzenden Merkantilismus, d.h. der Loslösung von der (qualitativen) „Kostbarkeit“ des Geldes in Richtung von rein quantitativ erfassbaren Tauschrelationen (ebd.: 222).
Thomas Bauer zitiert dazu einen weiteren Autoren:
„Der Kampf gegen die Ambiguität, den westliche Intellektuelle seit dem 17. Jahrhundert führten, ist eine in der Weltgeschichte einzigartige Entwicklung. In keiner vormodernen Kultur findet sich etwas Vergleichbares.“ (Donald N. Levine: The Flight from Ambiguity; zit. S. 40)
Für das ebenfalls außerordentliche Thema der „Ambiguität der Lust“ und deren Unterdrückung in der abendländischen Kultur durch die Festlegung von Normen anerkannter Sexualität im Westen möchte ich hier das direkte Lesen des Buches von Th. Bauer empfehlen (S. 268ff.). Sex als “Vorgeschmack auf das Paradies“ – das hat doch was…
Zusätzliche Literatur:
- Diamond, Jared (2006): Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften. Frankfurt am Main: Fischer Verlag. (Notizen dazu)
- Michel Foucault (1971): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Mitterauer, Michael (2003): Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs. München: C.H.Beck Verlag. (Blogbeitrag dazu , Notizen dazu)
- Toulmin, Stephen (1991): Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne. Frankfurt am Main 1991. (habe ich selbst nicht gelesen)
- Weiter zur „Ambiguität im Islam“
Januar 3, 2012 at 3:24 pm
Was genau wird denn als die
<>
in Europa (ist damit auch Westrussland gemeint? 😉 angesehen, woran wird sie festgemacht? Ich habe das oben nicht gefunden und kann deshalb die Argumente nicht nachvollziehen 😦
Danke,
Peter
Januar 3, 2012 at 3:25 pm
„“ war
„moderne“, „bürgerliche“, sprich kapitalistische Entwicklung
Januar 3, 2012 at 5:29 pm
Westrussland ist vor allem bis zu Peter I. (und sicher auch danach) extra zu betrachten. Gemeint ist hier wirklich jene Kerndynamik, aus der sich das Besondere entwickelte, dass dann später immer weiter expandierte.
Ab wann das als „kapitalistisch“ zu bezeichnen ist, weiß ich nicht. Vielleicht muss man wirklich erst mal konkret viele der Prozesse anschauen, um dann ihre Rolle im Weltgeschehen einordnen zu können.
Dieser Text eignet sich tatsächlich nicht als präzise Geschichtsschreibung – er dokumentiert den Stand der Untersuchungen dazu, die wir vor allem in der Zukunftswerkstatt Jena gemeinsam unternommen haben, um das frühere doch zu einseitig-lineare „Gesellschaftsformation-Aufeinanderfolge“-Geschichtsbild zu erweitern. Work in progress…
In dem Buch von Bauer jedenfalls war mir alles zu sehr nur auf die (ambiguitätsbezogene) Mentalitität bezogen, ich versuche nun einiges zu ergänzen, was eher materielle Bedingungen und Prozesse mit einbezieht. Für alle Hinweise auf weitere Quellen, bessere Darstellungen usw. bin ich dankbar. (wie erwähnt, auf eins der vielleicht besseren Bücher zur Geschichte des Islam warte ich grad noch).
Januar 3, 2012 at 9:24 pm
„Mit offenen Karten“ beschäftigt sich mit der Geschichte dessen, was „die westlichen Welt“ genannt wird. http://www.youtube.com/embed/kdlWcNyfxeE Ich vermeinde diese „Kategorie“ lieber, weil mir das meist zu sehr in eine kulturalistische Richtung geht. Dass „das Römische Recht“ bzw. was dem soziologisch zugrunde lag, eine gewisse Rolle bei der späteren Entwicklung gespielt haben könnte, kann ich mir allerdings gut vorstellen. Mir fallen außer den bereits erwähnten „Holzvorrat“ noch ein: die Dezimierung der bevölkerung durch die Pest und dann den 30 jährigen Krieg, die wohl erste Anreitze zur Mechanisierung waren.
Auf einer RosaLux-Tagung zum Thema Transformation kam vom Podium aus ein interessanter Hinweis, nämlich, dass man in China, das technologisch ja sehr lange „die Nase vorn“ hatte , schon im 13 Jahrhndert (? ganz sicher bin ich mir allerdings nicht, jedenfalls lange vor Columbus) in der Lage gewesen sei, hochseetüchtige Schiffe zu bauen, dass aber eine sich auf den Weg nach Afrika befindliche Schiffsflotte kurz vor deren Ankunft vom Kaiser zurückbeordert worden war, weil die ökonomische Vernunft des Unternehmens in Frage stand. Das Kaiserreich war im Gegensatz zu den Mächten Europas in der Lage, die „gesamtwirtschaftlichen“ Gewinne und Risiken/Verluste im Blick zu behalten. Der „westliche“ Kolonialismus sei demnach ein Ausdruck des Fehlens einer Grundlage für – auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung gerichtete – Vernunft gewesen.
Gruß hh
Januar 4, 2012 at 9:16 am
Zum Philosophie-Studium an der Humboldt-Uni in den 70-er Jahren gehörte eine Vorlesung „Römisches Recht“.
Die Wikinger besaßen auch hochseetüchtige Schiffe, die Hanse auch.
Besaß der Kaiser von China Schnellboote? Richtig ist, dass ein Herrscher umso schneller, direkter und umfassender seine Beschlüsse umsetzen kann, je uneingeschränkter seine Macht ist, vgl. die Verlegung der Hauptstädte in Kasachstan und Deutschland; das hat mit Kapitalismus erst einmal gar nichts zu tun. F2 hat oft genauso gehandelt wie jener Kaiser. Bestünde China aus etlichen selbständigen Staaten, würden die sich i. wes. genauso verhalten wie die Staaten in Europa, Afrika oder Südamerika.
Beste Wünsche,
Peter
Januar 4, 2012 at 9:46 am
„Die Wikinger besaßen auch hochseetüchtige Schiffe, die Hanse auch.“
Standen aber auch nicht unter der Knute eines Kaisers von China. Warum sich der europäische See-Fernhandel erst später entwickelte ist natürlich eine interessante Frage. Zum Glück gibt es WIKIPEDIA
http://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Expansion
Oder auch:
„Der Zugang zu den in ganz Europa begehrten Luxusgütern des Orients (Teppiche, Gewürze, Farbstoffe, u.a.) konnte nur über arabische Zwischenhändler erfolgen. So kontrollierte Ägypten den Handel mit arabischen und indischen Gütern. Zwar waren europäische Händler willkommen, aber die Weiterreise für Fremde über Kairo hinaus war verboten. Die sogenannte „lateinische“ Handelsstraße oder auch „Mongolenweg“, die diese „muslimische Blockade“ umging, war seit dem Ende des 14. Jahrhunderts versperrt. Bereits durch den Zusammenbruch des riesigen, von Dschingis-Khan begründeten, mongolischen Reiches, insbesondere durch die Eroberungen Timur Lenks, und die nationale Revolution der Ming-Dynastie in China, verschlossen diese Handelsstraße für italienische Kaufmannskarawanen. Das Vordringen der Osmanen im 15. Jahrhundert erschwerte den Asienhandel der Italiener zusätzlich. Der Orient war für Europa damit verschlossen.“
http://de.wikipedia.org/wiki/Kolonialismus
Besaß der Kaiser von China Schnellboote?
Die Schiffe der Boten waren klein und schnell. Gegenber Chinas damaligen Handelsschiffen sollen Columbus‘ Boote Nussschalen gewesen sein.
„Bestünde China aus etlichen selbständigen Staaten, würden die sich i. wes. genauso verhalten wie die Staaten in Europa, Afrika oder Südamerika“
Ja,das war u.a. die gegebene Erlärung des „europäischen Sonderwegs“.
Gruß hh.
Januar 4, 2012 at 5:02 pm
Michael Mitterauer (http://www.thur.de/philo/notizen/Michael%20Mitterauer_Vergleiche.pdf) nennt ja ein ganzes Netzwerk von Faktoren, die den westlichen Sonderweg befördert haben. Im Kontrast dazu „fehlt“ den anderen dann immer was. In China ist das z.B. die dezentrale Struktur, die in Europa das Übertragen von Innovationen und dementsprechende Synergieeffekte förderte. Außerdem gab es in China (und anderen Regionen) nicht die für Europa wichtige Synergie zwischen Landbau und Viehzucht (Pferde, die einerseits mit den entstehenden Produkten ernährt werden konnten und gleichzeitig zu wesentlichen Energielieferanten für diese Produktion wurden). Ein anderer Faktor: Reis braucht nicht so eine komplizierte Nachbearbeitung wie Getreide, so dass kein Bedarf nach Wassermühlen (die in Europa zu einem Kernelement der weiteren Entwicklung von Mechanik und Technik) bestand, obwohl man sie technisch durchaus auch kannte.
Letztlich wird es wohl nie ein einziger Faktor sein, der ausschlaggebend ist.
Januar 4, 2012 at 6:16 pm
Klicke, um auf Michael%20Mitterauer_Vergleiche.pdf zuzugreifen
Super Zusammenstellung! Ach könnte ein Schulfach „Regional- und Weltgeschichte“ interessant sein :-).
Januar 4, 2012 at 9:04 am
Ich vermisse immer noch die Definition von „kapitalistisch“ 😮
Beginnt der Kapitalismus nicht mit der ursprünglichen Akkumulation von Kapital? Falls nein, womit dann? Falls ja, lautet die Frage, warum diese dort begann, wo sie begann.
In einem Vortrag ca. 1986 an seinem Institut führte Thomas Kuczinsky aus, dass die ursprüngliche Akkumulation von Kapital in Italien begann, mit der Schafzucht und Wollverarbeitung in Manufakturen. Leider kann ich mich nicht an nähere Details erinnern. Vielleicht hatten die reichsten italienischen Kaufleute Geld übrig, dass sie außerhalb des Handels anlegen wollten?
Bemerkenswert war jedenfalls, dass diese Entwicklung nicht in den Städten stattfand. (Marx‘ Entwicklungstheorie weist den grundsätzlichen Fehler auf, dass angenommen wird, die Weiterentwicklung setze am derzeitig am weitesten entwickelten Gebilde an: der Stammbaum der Tiere beweist das Gegenteil. Das bedeutet natürlich nicht, dass alles andere auch falsch ist.)
Januar 4, 2012 at 9:57 am
„Bemerkenswert war jedenfalls, dass diese Entwicklung nicht in den Städten stattfand. (Marx’ Entwicklungstheorie weist den grundsätzlichen Fehler auf, dass angenommen wird, die Weiterentwicklung setze am derzeitig am weitesten entwickelten Gebilde an…“
Empfehle die Lektüre des Schlusskapitels aus dem ersten Band des Kapitals. Siehe dazu auch WIKIPEDIA:
http://de.wikipedia.org/wiki/Urspr%C3%BCngliche_Akkumulation
Es geht bei dieser Diskussion ja auch um die Vorbedingungen der Entstehung kapitalistischer Produktions- / Aneignungsverhältnisse, d.h. auch der von Marx beschriebenen Entwiclung freier Lohnarbeit (Trennung von den Produktionsmitteln, Landflucht usw.) Und dazu gehört sicher auch die Entwicklung des privateigentümlichen Kaufmannkapitals, dem es dann irgendwann nach Gewerbefreiheit verlangte.
Januar 4, 2012 at 4:57 pm
Soweit ich mich damit beschäftigt habe, ist hängen geblieben, dass der wichtigste Effekt der „sog. urspr. Akkumulation“ nicht das Anhäufen von Geld war, sondern die Trennung der lebendigen Produktionsfaktoren (menschliche Arbeitskräfte) von ihren Lebensbedingungen und Produktionsmitteln. Genau dies geschah wohl an den anderen „Geldsammelstellen“ nicht.
Insofern wäre auch die „Definition“ des Kapitalismus zu präzisieren: Nicht nur Kapitalakkumulation, sondern insbesondere, wenn dabei das Verhältnis von arbeitenden Nichtproduktionsmittelbesitzern und nicht lohnarbeitenden Produktionsmittelbesitz erzeugt/reproduziert wird.
Januar 4, 2012 at 5:43 pm
„…. dass der wichtigste Effekt der „sog. urspr. Akkumulation“ nicht das Anhäufen von Geld war, sondern die Trennung der lebendigen Produktionsfaktoren (menschliche Arbeitskräfte) von ihren Lebensbedingungen und Produktionsmitteln.“
Habe aber auch nichts Gegenteiliges behauptet. Das in private Hände akkumlulierte Kaufmannskapital gehörte zu den Vorbedingungen (!) dieser Trennung (= „Entfremdung“) so wie die Windmühlen (interessanter Hinweis!) eine Vorbedingung der – diese Trennung forcierenden und zugleich nutzenden – Mechanisierungin den entstehenden Manufakturen. Die entstanden ja außerhalb der Zünfte durch Zusammenkunft von Kaufmannskapital und aus Leibeigenschaft und kleinbäuerlicher bzw. kleinhandwerklicher Existenz befreitem Arbeitsvermögen. Was mit der Dampfkraft dann zur vorherrschenden Produktionsbeziehung wurde. Akkumulation nicht mehr über die Versorgung mit Luxusmitells aus fernen Ländern für den Landadel, der auch seine Untertanen irgendwann nötigte, ihre Steuern in Geld statt in Naturaien zu zahlen usw. und damit die Heimarbeit voran brachte usw.usf.
Januar 6, 2012 at 11:50 am
Ich finde wieder mal eine interessante Koinzidenz mit der These der Zäsur von Eske Bockelmann in „Der Takt des Geldes“, die er Anfang des 17. Jahrhunderts sieht (und mit den qualitativen Umbrüchen in Musik, Dichtung und Wissenschaft belegt). Er führt es auf die Verallgemeinerung von Tausch und Geld als sozial strukturierendem Prinzip zurück, also ähnlich wie Foucault, den er für sein Buch aber wohl nicht rezipiert hat (steht jedenfalls nicht in der Literaturliste).
Januar 6, 2012 at 3:11 pm
Zu diesem Absatz:
„Europäische Entdecker verwendeten meist arabische Karten -warum waren sie es, die die neuen Kontinente in Besitz nahmen und nicht die Menschen aus den islamischen Kulturen, obgleich sie seefahrtstechnisch wohl ebenso dazu in der Lage gewesen wären? Thomas Bauer sieht die Ursache dafür in der großen Gelassenheit der Menschen in der arabisch-islamischen Welt dem Anderen gegenüber. Sie hegen keine übermäßige Neugier und sie werden nicht durch einen „Universalisierungsehrgeiz“ (366) ihrer eigenen Denk- und Lebensweise getrieben.“
Ich finde, das KLIMA wird als Mit-Ursache der kulturellen, politischen und ökonomischen Entwicklung viel zu wenig beachtet. Und warum nicht? Weil jene, die vor allem über diese Themen forschen und schreiben, hauptsächlich im gemäßigten Klima sitzen.
Befänden sie sich in den Tropen oder in arabischen Wüsten, würden sie am eigenen Befinden spüren, wie drastisch der Forscherdrang (und auch der Hang zum vielen Arbeiten, erobern etc.) nachlässt, wenn man lange in RICHTIG heissen Gegenden ausharren muss.
Das mal so als Nicht-Expertin in den Raum werfend
grüßt Dich
Claudia
Januar 6, 2012 at 5:04 pm
Jared Diamond erläutert (wenn ich mich richtig erinnere in „Arm und reich“ – dazu gabs einmal auch eine Reportage), wie die unterschiedliche Lage der Klimazonen relativ zu den Kontinenten zu typischen Unterschieden in der Entwicklung von Eurasien und Amerika führte. In Eurasien konnten Tiere, Pflanzen und Kulturen über weite Strecken hinweg übertragen werden und die Kulturen sich so gegenseitig befruchten. In Süd-/Nordamerika wurden diese Übertragungen geblockt, weil unterschiedliche Klimazonen zu durchqueren waren.
Für Europa gibt es soweit ich weiß, auch einige Untersuchungen, inwieweit die kleine Eiszeit die Evolution eventuell beschleunigte…
Zur Arbeits-„lust“ und „-unlust“ wurde die klimatische Erklärung leider auch herangezogen, um die „Faulheit der Neger“ einigermaßen zu „erklären“, wobei die westlichen Normen unhinterfragt blieben. Wir müssten da tatsächlich eher anders herum fragen: Warum wurde für unsere Vorfahren die Arbeit so wichtig?
Ansonsten sind wir ja auch Nicht-Expertinnen, wollen aber so viel wie möglich interessante Informationen aufsammeln und in unser Weltbild aufnehmen.
Februar 18, 2018 at 8:21 pm
[…] auch Annette Schlemm intensiver mit dem Buch von Thomas Bauer beschäftigt hat und empfehle ihren Beitrag zur Vertiefung des europäischen Sonderwegs. Und hier habe ich einen weiteren interessanten Artikel […]