Vor einigen Tagen erinnerte mich ein Fernsehbericht daran, dass ich mir schon längst ein Buch besorgen wollte, das die Erziehungspraxis in deutschen Haushalten wohl jahrzehntelang schwer beeinträchtigte. Es geht um Johanna Haarers „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ aus dem Jahr 1933. Es kann wahrscheinlich helfen, Konflikte und Leiden aufzuklären, die mit Gefühlskälte und verdrängten und unbefriedigten Bedürfnissen zusammenhängen. Die letzte Tochter, Gertrud Haarer, hat nun ein Buch vorgelegt: „Die deutsche Mutter und ihr letztes Kind“.

Was machte das Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Haarer, das in der Bundesrepublik in veränderter Weise noch bis 1987 verlegt wurde, so besonders? Was stand da drin?

Das Neugeborene soll „beiseite gelegt“ werden und es ist „von der Mutter getrennt unterzubringen“. Das dient nicht nur der Entlastung der Mutter nach der Geburt, sondern leitet eine bewusste Erziehungsstrategie ein: Das Kind soll auf gar keinen Fall „verwöhnt“ werden. Wenn es schreit, soll es – soweit keine offensichtliche Ursache dafür erkennbar ist – nicht getröstet, hochgenommen oder gar gestillt werden. Kühl und distanziert soll alle Wehleidigkeit abgestreift werden, denn es gilt einen Kampf zu bestehen: Wenn dem Kind nicht streng und unnachgiebig begegnet wird, würde es zu einem kleinen Tyrannen werden. Diese Angst vor den kindlichen Tyrannen zieht sich durch die Erziehungsdebatten bis heute hindurch. Auch ich erhielt noch solche Ratschläge, als unsere Tochter 1987 geboren wurde. Die meisten Mütter meiner Generation nabelten sich von solchen Ratschlägen aber schon ab; wir selbst haben aber wohl doch noch einiges davon abbekommen. Glücklicherweise haben nicht alle später solche psychischen Probleme bekommen wie die Kinder der Autorin der „Deutschen Mutter…“.

Ich hatte bisher eigentlich gedacht, dass die oft zu beobachtende eigentümliche Härte unserer VorfahrInnen den Jüngeren gegenüber primär aus ihrem harten Leben rührt. Wenn die Kinderschar frühmorgens vor der Schule Kühe putzen und melken muss, um den Lebensunterhalt mit zu verdienen, muss ihr kindlicher Wille natürlich gebrochen werden und die eigene Liebe zu den Kindern verdorrt, wenn man die Kleinen zu solchem Tun ständig zwingen muss.

Aber es war eben auch mehr. Die Autorin Sigrid Chamberlain betont, dass der von J. Haarer propagierte Erziehungsstil sehr gut zu den Bedürfnissen des Naziregimes passte, die so erzogenen Menschen in die „Volksgemeinschaft“ eingliedern zu können. Die Tochter Gertrud Haarer sieht keine direkte bewusste Verbindung ihrer Mutter mit diesem Ziel. Sie versucht eher, den Standpunkt der Mutter von deren eigenem Leben her zu verstehen. Deshalb nimmt der von der Mutter geschriebene Lebensbericht von 1900 bis 1933 den größten Raum in diesem Buch ein, was ich erst einmal nicht erwartet hatte. Aber ich finde darin vieles wieder, was ich auch aus anderen privaten Berichten aus dieser Zeit kenne. Erstaunlich ist die Willenskraft von J. Haarer, die sich als eine der ersten Medizinstudentinnen erst durch das Abitur und dann das Studium kämpft. Ihre letzte Tochter jedoch wird den Leistungs- und Lerndruck konsequent verweigern, aber erst sehr spät danach fragen, ob die Mutter die selbst verkündeten Erziehungsratschläge selbst befolgt hat und was das mit ihr gemacht hat.

Es wird schon deutlich, wie groß die Trendwende war in Richtung einer liebevollen, sich an den Bedürfnissen der Kinder orientierenden Umgangsweise, die in Deutschland wohl später als anderswo begann. Wie viele von uns Älteren haben eigentlich noch den harten Stil durchleben müssen, was hat es mit uns gemacht? Hilft uns das beim Verstehen von uns und anderen?

Bei WDR gabs mal noch mehr über Johanna Haarers Buch und die Fortführung ihrer Erziehungsprinzipien. Im Unterschied beispielsweise zu den USA haben sie sich bis in die 60er und 70er Jahre hindurch weiter durchgesetzt.

Ich habe mal nachgeschaut, wie sich die Erziehungsratschläge in den Büchern meiner Bibliothek dazu verändert haben. Die betreffen natürlich nur die DDR und weisen auch zeitlich große Lücken auf. Im Jahr 1961, meinem Geburtsjahr, betont die „Kleine Enzyklopädie Die Frau“ noch, dass neben „größter Sauberkeit“ auch „Regelmäßigkeit“ besonders wichtig sei. Für das Stillen werden als Orientierung Zeiten angegeben, so für die ersten 3 Monate „fünfmal Brust um 6, 10 ,14 ,18 ,22 Uhr“ . Etwas später wird geschrieben: „Schon der Säugling muß erfahren, daß er durch noch so kräftiges Schreien nicht die Erfüllung seiner Wünsche erzwingen kann.“ Johanna Haarer läßt grüßen.

Weiter steht da: „Durch die Erziehungsmaßnahmen soll das Kind bei voller Entfaltung seiner persönlichen Eigenart lernen, daß es sich seiner Umgebung anzupassen hat und daß das Leben in Gemeinschaft nicht nur Vorteile, sondern auch Pflichten und Verzichte mit sich bringt, die das Kind nicht widerwillig, sondern freiwillig und freudig auf sich nehmen muß.“ In der „Kleinen Enzyklopädie Das Kind“ wird 1972 auch noch darauf verwiesen, dass „regelmäßig fünfmal am Tage“ gestillt werden solle, und auf eine achtstündige Nachtpause „von Anfang an streng geachtet werden“ soll. 1979 wird das gelockert. Im Ratgeber „Wir haben ein Baby“ wird betont: „Ein gestilltes Kind kann individuell nach seinem Bedürfnis gefüttert werden. Die Pausen zwischen dem Stillen können mal länger oder kürzer sein.“ In der Nacht können Stillkinder auch gestillt werden, ansonsten wird empfohlen: „Wenn man nach dem Rechten gesehen hat und das Kind versorgt ist, sollte man es nicht lange herumtragen, sondern es so schnell wie möglich wieder schlafen legen, damit sich keine schlechten Gewohnheiten einschleichen.“

Irgendwie scheint sich in den 80er Jahren die Haltung gegenüber den kleinen Kindern deutlich geändert zu haben. Im Büchlein „Die ersten drei Jahre“ von 1984 wird auf eine „intensive emotionale Zuwendung“ als Entwicklungsanreiz Wert gelegt. Bezüglich des Stillens wird erläutert, dass schon im Interesse der Abstimmung der Milchbildung der „Stillrhythmus den Bedürfnissen des Neugeborenen“ angepasst werden soll. Auch beim Schreien hat sich die Haltung grundlegend gewandelt.

„Immer soll das Kind die warme, freudenspendende und schützende Hand seiner Eltern spüren und die wohltuende Erfahrung der Geborgenheit machen.“

Im Jahr 1986 waren dann schon die ersten Rooming-in-Stationen eingerichtet: „Die Grundbedürfnisse jedes einzelnen Kindes nach Kontakt und Nahrung, seine Schlaf- und Wachzeiten finden auf diese Weise ganz zwanglos ihre Antwort.“ („Ein Kind wird erwartet“). Diese Grundhaltung zeigt sich auch in der Zwischenüberschrift: „Die persönliche Note des Kindes akzeptieren.“ Ganz ausdrücklich wird geschrieben:

„Ihr Baby ist nicht irgendein Material, das Sie wie Plastilina beliebig formen können nach Ihren Erwachsenenvorstellungen. Es hat, durch Entwicklung und Reife bedingt, seine eigenen inneren Gesetze und Verhaltensmöglichkeiten, die respektiert sein wollen. Helfen Sie Ihrem Kind sein Leben leben zu können.“

Ich denke schon, dass die Art und Weise, mit den Kleinsten umzugehen, viel aussagt über die Zeiten und gesellschaftliche Verhältnisse. Ich weiß wenig darüber, wie wenig oder stark sich hier soziale Unterschiede auswirken. Aber ich weiß, wie sehr dies das ganz normale Leben von Menschen beeinflusst, wieviel Leid hier seine Quelle hat. Es wird wohl jede Generation auf irgendeine Weise mit ihren Eltern hadern. Hoffen wir, dass wenigstens die hier genannte Härte und Gefühllosigkeit als Ursache von gestörter Freude- und Lebensfähigkeit endgültig der Vergangenheit angehört.