Von menschlicher „Natur“ spricht man häufig, wenn man das „Wesentliche“ kennzeichnen will (z.B. im Titel von Schlemm 2001a). Durch die anthopogenetische Behandlung der Fragen der Anthropologie gibt es eine evolutionäre Begründung des Spezifisch-Wesentlichen der Menschen.
In der Anthropogenese entsteht nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar die Notwendigkeit, das eigene Leben durch gesellschaftlich vermittelte Arbeitsprozesse zu reproduzieren, wobei Menschen die Bedingungen ihres Lebens aktiv und bewusst verändern. Menschen sind Wesen, die auf gesellschaftlicher Ebene ihre Lebensbedingungen selbst schaffen und erweitern. Individuen sind mit den gesellschaftlichen Bedingungen in komplexer Weise vermittelt, sie haben keine unmittelbare Kopplung an die gesellschaftlichen Bedingungen.
Da es keine unmittelbare Bindung zwischen Bewusstsein und Gesellschaft gibt, steht das Individuum in einer spezifischen Möglichkeitsbeziehung der Gesellschaft gegenüber. Zwar sind, statistisch gesehen, ausreichend viele und adäquate Handlungen von Menschen notwendig, um die Gesellschaft als Ganzes zu reproduzieren, für das einzelne Individuum ergibt sich dadurch aber keine eindeutig bestimmte Handlungsnotwendigkeit, sondern es kann sich zu diesen systemischen Anforderungen bewusst verhalten. D.h., ein menschliches Individuum kann sich bewusst zu den Bedingungen verhalten. Es hat eine „gnostische Distanz“ gegenüber dem Gegebenen kann in unterschiedlicher Weise begründet handeln. (alles nach Holzkamp 1983/1985, siehe auch Zusammenfassung Schlemm 2001c).
Solange die Organismen im historisch sehr langen „Tier-Mensch-Übergangsfeld“ noch nicht über die genannten Fähigkeiten verfügten, starben ihre Populationen auch immer wieder aus. Erst mit der Dominanz der die eigenen Bedingungen aktiv verändernden Fähigkeiten konnte sich die Menschheit auf eigener Grundlage weiter entwickeln. Die genannten Fähigkeiten wurden in diesem Sinne auch „in die Gene eingeschrieben“. Deshalb ist jeder Mensch aus dieser Entwicklungslinie nun biologisch dazu befähigt, sich zu vergesellschaften (Holzkamp 1983/1985: 55). Der Mensch ist also „schon seiner Natur nach […] ein potentiell gesellschaftliches Wesen“, verfügt also „über individuelle Entwicklungsmöglichkeiten […], die ihn zur Teilhabe am gesellschaftlichen Prozeß befähigen.“ (Holzkamp 1979)
Ute Holzkamp-Osterkamp bestimmt deshalb die menschliche „Natur“ als „Inbegriff spezifisch menschlicher Entwicklungsmöglichkeit des konkreten Individuums“ (Holzkamp-Osterkamp 1977: 332).
Davon unterschieden (jedoch nicht getrennt), greift sie den Gedanken von Karl Marx in der 6 Feuerbachthese auf und bestimmt das menschliche „Wesen“ als „Inbegriff der gesellschaftlichen Verhältnisse, in die hinein sich diese Entwicklungsmöglichkeiten […] realisieren können“ (ebd.).
„Das bedeutet, daß die „menschliche Natur“ als Entwicklungspotenz zur individuellen Vergesellschaftung ein empirische Eigenart der artspezifischen biologischen Ausstattung darstellt, deren Realisierung aber stets im Hinblick auf historisch bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse erfolgt, so daß sie individualgeschichtlich niemals als „allgemeine“, „abstrakte“ im Individuum hockende Essenz erscheint, sondern immer und notwendig als Realisierungsweise des menschlichen Wesens in konkret-historischer Form.“ (ebd.: 332)
Es liegt also in der menschlichen Natur, dass Menschen ihre Lebensgrundlagen produzieren, aber „wie und unter welchen Umständen, in welchem Verhältnis von Ermöglichung und Behinderung sie dies tun“ (Markard 2009: 107), ist damit noch nicht bestimmt.
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