Diese Seite gehört zum Text: „Sozialismus-Utopie?“
Bei der Konzeption eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts stehen wir wiederum vor dem Problem, wie die bestimmte Formen Arbeit als „Stoffwechsel mit der Natur“, die Zeit, Arbeitskraft und Ressourcen erfordert, so zeit- und ressourceneffektiv erfolgen können, dass notwendige Arbeit erstens nicht mehr so ein großes Ausmaß annimmt und zweitens genügend Freiraum für durchaus zeitaufwendige Care-Arbeit im ausreichenden Maß gewonnen werden kann. Zu starke Hoffnungen darauf, dass angesichts der vielen derzeitigen Bullshit-Jobs und des Verzichts auf Rüstung, Marketing und Wegwerfwaren-Produktion sowieso nur noch wenig Arbeit notwendig wäre, erledigen sich angesichts der künftig erhöhten Aufwendungen für die Energiegewinnung durch sich erneuernde Energien, bei einer ökologisch nachhaltigen Nahrungsmittelproduktion und den vielen notwendigen Arbeiten bei der Regeneration der Atmosphäre und Biosphäre. Also müssen wir Wege finden, in vielen Bereichen ressourcen- und zeiteffektiv zu arbeiten und dies unter Einbeziehung aller zu organisieren.
Kooperations-Markt
In der Theorie von Klaus Dörre wird weder der nicht zu wiederholende Sozialismus mit „Planwirtschaft“ gleichgesetzt noch der Kapitalismus mit „Marktwirtschaft“. Deshalb behält Dörre Teilmomente von Markt wie auch Plan für sein Sozialismuskonzept bei. Der Markt soll als „Entdeckungsverfahrens“ erhalten bleiben, und dabei durch „wirkungsvolle Maßnahmen gegen Kartellbildungen und die Zentralisierung wirtschaftlicher Macht“ (ebd.: 130) begrenzt werden. Vor allem bei Klein- und Mittelbetrieben schließen sich Konkurrenz und Kooperation nicht aus. Dörre zeigt das an der Vernetzung flexibler, spezialisierter kleiner Unternehmen in Oberitalien (ebd.: 130f.). Die Netzwerke legen Kooperationsprinzipien nahe: „War in dem einen Unternehmen Flaute, wurden Arbeitskräfte auf Zeit an den prosperierenden Konkurrenten ausgeliehen.“ Das integrierende Moment war in den traditionell linken Gebieten der Toskana oder der Emilia Romagna die PCI (Partido Comunista Italiano), woanders wurde es von der Kirche oder im Großraum New York von den Ethnien gestellt (ebd.: 131). Auch regionale Kooperationen wie in der Gemeinde Skellefteå in Schweden nennt Dörre als Beispiele.
Das Kapital als solches soll entmachtet werden durch eine Zerschlagung der Machtzentren des Finanzkapitals und die Übernahme der „verbleibenden Funktionen in öffentliches Eigentum“ (ebd.: 170). Sogar Geld ist nicht mehr unbedingt notwendig: „Auf lokaler und regionaler Ebene können Tauschringe bei der Bereitstellung von Gütern des täglichen Bedarfs wahrscheinlich weitgehend ohne Geld auskommen.“ (ebd.: 172)
Sozialistische Planung
Die Abläufe bei der Herstellung nötiger Güter und der Arbeitsteilung auch im Care-Bereich erfordern eine Abstimmung, die über das Mitteilen des Bedarfs und Verteilung der Güter und Dienste hinausgeht. Jakob Heyer etwa meint, dass die Vorstellungen des „Linkskommunismus“, die von einem sofortigen „Nehmen nach Bedürfnissen“ ausgehen, (Heyer 2020: 86, Fn. 352) ungenügend beschreiben, wie die „dafür anfallende, notwendige Arbeit“ aufgeteilt wird (ebd.).
Klaus Dörre sieht deshalb die Notwendigkeit einer „Neujustierung von Markt und Plan“ (Dörre 2021: 140).
„Soziale und ökologische Nachhaltigkeit benötigt eine Planung für dekarbonisierte, ressourcenschonende Wirtschaftssysteme.“ (ebd.: 141)
Die Planung soll nicht „von oben nach unten“ erfolgen sondern „in demokratisch zusammengesetzten Gremien“ stattfinden, z.B. durch eine periodische Abstimmung der Bevölkerung über Planvarianten (ebd.: 141). Klaus Dörre (ebd.: 180ff., vgl. auch Heyer 2020) verweist insbesondere auf die Konzepte von Pat Devine (1988)und David Laibmann (2006, 2013). In beiden Konzepten ist ein „gleichberechtigter Zugang zu den für die Entscheidungsfindung erforderlichen Ressourcen“ vorgesehen (nach Heyer 2020: 88). Es geht um eine „bewusste Gestaltung wirtschaftlicher Aktivitäten in Übereinstimmung mit individuell und kollektiv bestimmten Bedürfnissen“ (Heyer 2020: 83, vgl. Devine 1988: 5). Solch eine „ausgehandelte Koordination“ (Devine 1988: 13) enthält auch Planungselemente.
Und der Staat?
Klaus Dörre sieht die Möglichkeit, „Markt“ und auch „Staat“ aus dem herrschaftlichen, speziell dem kapitalistischen Modell zu entkoppeln und ihnen Funktionen, die anscheinend auch im Sozialismus des 21. Jahrhunderts notwendig sind, zuzuordnen.
„Es kommt darauf an, wie Markt und Staat definiert werden, welche Funktionen sie für die Gesellschaft haben und was sie zur Realisierung von Nachhaltigkeitszielen beitragen können.“ (Dörre 2021: 116)
Definieren wir „Staat“ wie (der frühe) Marx, also als „selbständige Gestaltung, getrennt von den wirklichen Einzel- und Gesamtinteressen“ (MEW 3 DI:33, vgl. hierzu Heinrich 2008), der den Widerspruch zwischen den besonderen und den gemeinschaftlichen Interessen zu lösen hat, so sollte er im neuen Sozialismus nicht mehr in der verselbständigten Form vorhanden sein.[1]
Unerlässlich ist er für Dörre im Prozess des Übergangs: „Dennoch ist dem ökonomischen Machtzentrum des globalen Kapitalismus ohne Staatseingriffe kaum beizukommen. Enteignung und Sozialisierung funktionieren nicht ohne den interventionistischen Staat“ (Dörre 2021: 125).[2] Warum eigentlich? Damit die Transformation schön „demokratisch“ bleibt? Wären nicht doch wirklich „revolutionäre Massenaktionen“ (Lenin LW 21: 206) weiterhin möglich und sinnvoll, wenn sie Emanzipation und Selbstbestimmung ermöglichen?
Für die Zeit nach der Transformation/Revolution stellt sich die Frage nach möglichen Funktionen eines „Staates“ noch einmal neu. Dörre schreibt ihm die Funktion zu „verbindliche Maßstäbe zu definieren, die für die Gesellschaft einen Wahrheitsgehalt besitzen und Verständigung ermöglichen“ (Dörre 2021: 217). Diese Instanz, „die definitionsmächtig und letzten Endes auch durchsetzungsstark ist“ (ebd.: 218) soll der (sozialistische) Staat sein. Als Beispiel für eine sinnvolle Behörde nennt er das Umweltbundesamt (ebd.: 218) – aber wo ist dessen Durchsetzungsstärke?
Tatsächlich ist meiner Einschätzung nach die Frage, wie beispielsweise die Erfordernisse der Erhaltung der Regenerationsfähigkeit der Biosphäre und der Stabilität der Atmosphäre (Klimawandel!) durchgesetzt werden können, noch offen. Eine Hoffnung darauf, dass „die Leute das aus Eigeninteresse von sich aus machen“ werden, vor allem in der oben genannten jahrzehntelangen Übergangsphase, scheint mir auch einigermaßen blauäugig. Die Frage bleibt bestehen, wie das Allgemeininteresse sich gegenüber mit ihm nicht identischem individuellem und kollektivem Interesse so vermitteln lässt, dass es sich nicht als verselbständigte Institution letztlich gegen letztere stellen kann.
[1][1] Also nicht mehr als abstrakt Allgemeines, sondern eher als konkret Allgemeines, wie es im Staatsbegriff von Hegel vorkommt. (vgl. Schlemm 2011a, Schlemm 2011b)
[2] Damit folgt er letztlich der Ansicht von Friedrich Engels: „Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft – ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiet nach dem anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein.“ (MEW 20 AD: 262) Von welchem Staat wird hier gesprochen? Die Staaten im Kapitalismus jedenfalls können die kapitalistischen Verhältnisse gerade deshalb stabilisieren (!), weil sie als neutrale Repräsentanten der Allgemeinheit erscheinen (vgl. Gerstenberger 2008: 145).
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