Das Thema des real gewesenen Sozialismus kommt immer mal wieder ins Gespräch. Ich möchte deshalb zwei ältere Texte von mir (der erste ist hier) dazu vorstellen:


Utopie: Sozialismus/Kommunismus

(Originaltext von 2021)

„Kollegen, Kommunismus, wenn ihr euch
Den vorstelln wollt, dann richtet eure Augen
Auf das, was jetzt ist, und nehmt das Gegenteil:
Denn wenig ähnlich ist dem Ziel der Weg.
Nehmt so viel Freuden, wie ihr Sorgen kennt,
Nehmt so viel Überfluß wie Mangel jetzt
Und malt euch also mit den grauen Tinten
Der Gegenwart der Zukunft buntes Bild.“
(Hacks 1976: 156)


An den Seitenrand eines Buches aus DDR-Zeiten über die weitere Entwicklung des Sozialismus hatte ich mit Bleistift die Bemerkung „Schön wärs…“ geschrieben. Als ich dies geschrieben hatte, erschien es durchaus denkbar, dass der real existierende Sozialismus tatsächlich noch diese gewünschte Entwicklungsrichtung nehmen könnte. Genau deshalb hab ich solche Sachen damals gelesen und genau deshalb wurde ich damals auch politisch aktiv:

„Die allseitige sozialistische Entwicklung der Persönlichkeiten und die immer bessere Befriedigung ihrer wachsenden Bedürfnisse ist das Ziel der sozialistischen Produktion.“ (Hagen 1988: 71)

Wer könnte das nicht wollen? So etwas wie eine „Inklusionslogik“, also die Logik gesellschaftlicher Strukturen, in denen den Menschen nahegelegt ist, die Bedürfnisse anderer mit einzubeziehen (Sutterlütti, Meretz 2018: 34).d.h. sich nicht auf Kosten anderer zu entfalten, ergab sich daraus auch. Denn „[d]ie sozialistische Gesellschaft ist durch eine ständige Höherentwicklung der Produktion, der Produktivkräfte und auf dieser Grundlage des materiellen und kulturellen Lebensniveaus der Werktätigen charakterisiert, und diese Fortschritte werden für die ganze Gesellschaft wirksam, nicht aber für einen Teil auf Kosten des anderen“ (Kosing 1988: 49). Der Unterschied zu Sutterlütti und Meretz ist hier der Bezug auf gesamtgesellschaftliche Momente, nicht nur auf Beziehungen zwischen mir und den anderen, also zwischen Individuen. In der Charakterisierung des Sozialismus, der ja in den Kommunismus einmünden soll, ist eine positive Rückkopplung vorgesehen, und zwar so, dass das Ziel in der Persönlichkeitsentwicklung besteht, die gleichzeitig als Mittel der weiteren Entwicklung wirkt, denn als Hauptproduktivkraft wird der Mensch angesehen. Die „Produktivkraftentwicklung“ ist hier also keinesfalls primär als Produktionsfortschritt oder Selbstzweck vorgesehen, sondern zielt auf die Entwicklung und Entfaltung menschlicher Persönlichkeiten. Die Entwicklung der Produktivkräfte „fällt mehr und mehr mit der Schaffung von Bedingungen für die allseitige und freie Entwicklung der Individuen zusammen“ (ebd.) Demnach ist der Sozialismus „die erste Gesellschaft in der Geschichte der Menschheit, in welcher der Mensch im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Zielsetzung steht, in der bewußt und planmäßig die materiellen, sozialen und geistigen Bedingungen für die möglichst universelle Entfaltung der gesellschaftlichen Natur des Menschen, für die allseitige Entwicklung seiner Schöpferkräfte geschaffen werden“ (Kosing 1983: 23). War das nur Ideologie, nur Lüge? Ich wuchs in eine Gesellschaft hinein, die mir lebenslang soziale Sicherheit zusicherte, die mir als erster in meiner Familie eine wissenschaftliche Zukunft ermöglichte, die mich als Frau besonders förderte. Sie stellte mir und anderen auch Hindernisse in den Weg, so gab es nicht in ausreichender Menge schöne Wohnungen. Manchmal waren Regale im Konsum leer. Ich musste im Studium auch einige Wochen „zur Zivilverteidigung“ und… ich lebte neben Menschen, die echt schikaniert und unterdrückt wurden, was ich persönlich aber erst später erfuhr. Ausgehend von der erreichten Abschaffung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse erschienen mir notwendige Veränderungen jedoch viel leichter durchsetzbar als unter den derzeitigen Macht- und Kräfteverhältnissen. Deshalb nahm ich das Angebot an, nicht nur „Schön wärs“ zu denken, sondern meine individuelle persönliche Entwicklung mit dem darin enthaltenen „Schön kann es werden“ zu verbinden. Und wenn ich in meiner Lehrzeit ab drei Uhr morgens im Stall arbeitete, so war es mir wichtig zu wissen, dass die ermolkene Milch wirklich am nächsten Tag getrunken wurde, dass ich damit also einen Beitrag zur Versorgung leistete. Vielen um mich herum ging es „nur“ um den Lohn – aber der Möglichkeit nach, von den gesellschaftlichen Bedingungen her, war viel mehr möglich. Für viele hat die Einheit von Individuellem und Gesellschaftlichem auch gut funktioniert: „Unsere Selbstverständlichkeiten heute, die waren für uns Luxus, täglich Brot haben, sich Schuhe kaufen können, eben als Mensch behandelt werden. Aus diesem Grund kann es nur meine Gesellschaftsordnung sein“ (Karoline O. in Wander 1978: 176). Ich hatte 1983 im dritten Studienjahr innerhalb des Betriebspraktikums eine gesellschaftswissenschaftliche Arbeit anzufertigen, in der es um die grundsätzliche Interessenübereinstimmung von individuellen, kollektiven und gesellschaftlichen Interessen ging. Deshalb wohl habe ich vor allem dazu viel Literatur, auch aus den folgenden Jahren. Dort finde ich ständig solche Sätze wie: „Entscheidend ist jedoch, daß die sozialistische Vergesellschaftung gesetzmäßig mit der Herausbildung und Festigung von Bedingungen verbunden ist, wodurch die Übereinstimmung von gesellschaftlichen, kollektiven und individuellen Interessen hergestellt werden kann“ (Helbing 1988:49). Die Lektüre zeigt, dass die platte Identifizierung der sozialistischen Wirtschaftspraxis mit „Zentralismus von oben nach unten“ falsch ist. Es wurde durchaus gerungen mit verschiedensten Praxen, die auf allen Ebenen eigene Entscheidungen, verbunden mit Verantwortung, ermöglichen sollten. Aus der Landwirtschaft kenne ich die Praxis selbst: Fehlentwicklungen wie die zeitweise zu starke Trennung von Pflanzen- und Tierproduktion wurden während meiner Lehrzeit auch auf der Grundlage demokratischer Diskussionen im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten wieder zurück genommen. Trotzdem war die Beteiligung an Entscheidungen eng begrenzt. So wird von den Dienstbesprechungen in einem Rat des Kreises berichtet: „Dort kamen alle Probleme zur Sprache, und zu guter Letzt haben andere Leute für uns entschieden. Die haben gedacht, wir kriegen das nicht alleine in die Reihe. So hat das Gefühl für die Eigenverantwortung auf fast allen Ebenen gelitten“ (Baumann, Busse 2014: 227-228). Ich selbst hatte im Rahmen der Facharbeiterprüfung die Gelegenheit, Vorschläge für eine Verbesserung der Ausbildung in der Landwirtschaft auszuarbeiten. Hier tauchte z.B. der grundlegende Widerspruch auf, dass wir einerseits sehr umfassend ausgebildet wurden, um der Forderung nach beinah universeller Persönlichkeitsentwicklung auch im Arbeitsbereich gerecht zu werden, aber andererseits der begrenzenden Realität der vorliegenden „technologischen Produktionsweise“ (Brie 1990: 33), unterlagen, die häufig mit monotoner, körperlich anstrengender und unkreativer Arbeit verbunden war. Andere berichten: „Wir hatten sogar große Probleme, überhaupt die Reproduktion sicherzustellen, weil niemand die schwere Arbeit machen wollte“ (Bauman, Busse 2014: 229). Unmittelbar konnten die gesamtgesellschaftlichen Erfordernisse und Interessen nach maximaler Arbeitsleistung und das individuelle Interesse an persönlichkeitsfördernder Arbeit noch nicht ganz zusammenpassen. Wer innerhalb der fordistischen Produktionsprozesse seine Arbeitszeit am Fließband verbringen musste, war i.a. noch schlechter dran. Wünschbar, also die Utopie einer solchen persönlichkeitsfördernden Arbeit wären also die Bedingungen, unter denen die Individuen ihr materielles Leben produzieren, Bedingungen wären, die „Bedingungen ihrer Selbstbetätigung [sind] und von dieser Selbstbetätigung produziert“ werden (MEW 3 EP: 71-72).

Die Utopie von Simon Sutterlütti und Stefan Meretz (Sutterlütti, Meretz 2018) geht davon aus, dass die gesamtgesellschaftlichen Notwendigkeiten nicht für jedes Individuum einzelne Verhaltensweisen vorschreiben, sondern Individuen diesen Notwendigkeiten gegenüber eine „Möglichkeitsbeziehung“ (nach Holzkamp). Diese Möglichkeit sichert zuerst einmal eine Freiheit mit hohem Maß an Beliebigkeit. Sutterlütti und Meretz suchen dann nach Bedingungen, die den Individuen „nahelegen“ (Sutterlütti, Meretz 2018: 127), sich nicht nur abstrakt frei, d.h. beliebig zu verhalten, sondern so, dass es nicht auf Kosten anderer geht. „Nicht auf Kosten anderer“ bedeutet, die Bedürfnisse anderer Menschen mit einzubeziehen in die Handlungen zur eigenen Bedürfnisbefriedigung. Bei der Organisierung des wirklichen Lebens unter Bedingungen, die den meisten Menschen täglich viele Stunden harte, körperlich schwere und monotone Arbeit abverlangen, müsste das Problem gelöst werden, ausreichendes Arbeitsengagement zu erhalten bei gleichzeitig nicht gerade lustvollen oder persönlichkeitsfördernden Arbeitsbedingungen. Die Wirtschaft müsste umgebaut werden, während sie tagtäglich in ausreichendem Maß Resultate für die Versorgung der Bevölkerung erzeugt. Die bisherigen Ansätze in den realsozialistischen Ländern waren von Anfang an von Mangelzuständen geprägt, einerseits wegen Kriegszerstörungen (1917 wie 1945), auch wegen ökonomischer Unterentwicklung (Russland) und mangelhaften eigenen Ressourcenbeständen (z.B. Energieträger in der DDR) und einem deutlichen geringeren Zugriff auf globale Ressourcen im Vergleich zu den westlichen kapitalistischen Ländern. In der BRD leisteten z.B. bis 1973 14 Millionen GastarbeiterInnen vor allem jene schweren Arbeiten, die wir in der DDR selbst erledigen mussten. Natürlich lag es indirekt im persönlichen Interesse, dass durch die eigene Arbeitsleistung die gesamtgesellschaftliche Wirtschaftslage sich verbessert: „So wie wir heute arbeiten – werden wir morgen leben“. Aber es lag nur indirekt im eigenen Interesse, die Interessen der Individuen und der Gesamtgesellschaft waren nie unmittelbar identisch. Wie kann dieses Problem gelöst werden?

Lenin setzte zuerst auf den revolutionären Enthusiasmus: „Wir, die wir von der Welle des Enthusiasmus getragen waren […], wir rechneten darauf, daß wir auf Grund dieses Enthusiasmus auch die ebenso großen (wie die allgemeinen politischen und militärischen) ökonomischen Aufgaben unmittelbar lösen würden“ (LW 33 JO: 38). Georg Lukács forderte während der Ungarischen Räterepublik im Jahr 1919 sogar „die spontane Aufopferung der momentanen, individuellen Interessen und der Gruppeninteressen in dem Augenblick, wenn es um die Interessen der Gesamtheit geht“ (Lukács 1919a/1975: 101). Lukács schrieb damals der Moral die Rolle zu, eine kommunistische Gesellschaft zusammen zu halten: „wodurch wird diese neue Gesellschaft aufrechterhalten und zusammengehalten, was wird der wichtigste Inhalt der in ihr Lebenden sein? Auf diese Frage können wir nur von der Seite der Moral eine Antwort erhalten“ (Lukács 1919b/1975: 86). Natürlich müssen sich mit den Umständen auch die Menschen und ihre Tätigkeiten ändern, wie Marx in den Feuerbachthesen feststellte (MEW 3: 533-534). „Es wäre utopisch zu glauben, diese Menschen [wie sie aus der kapitalistischen Gesellschaft kommen, AS] wären plötzlich, mit einem schlage in der Lage, ohne irgendwelche Rechtsnormen für die Allgemeinheit zu arbeiten.“ (Scheler 1961: 53) In einer 1989 zusammengestellten Sammlung von Stimmen aus der DDR berichtet Christina aus Berlin von ihrer Kindheit: „Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen und ich kenne außer dem Bürgermeister niemanden, der sich Kommunist genannt hätte. […] Vor den Russen hatten die Leute Angst, und von Idealen hatten sie die Schnauze voll“ (in Bohley u.a. 1998: 66). Im frühen Realsozialismus wurde deshalb die Aufgabe gestellt, „neue Menschen“ entstehen zu lassen. Dies führte zur Entwicklung eines „sozialistischen Menschenbildes“, das als Ideal „in der Form von allgemeinen Erziehungszielen herangereifte objektive Bedürfnisse der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung“ widerspiegeln sollte (Autorenkollektiv 1964: 12). Dabei ging es darum, die „objektiven Erfordernisse […] als ureigenste persönliche Angelegenheit in die Praxis umzusetzen“ (ebd.). Dies gelang in Ansätzen, aber letztlich nur unzureichend, weil die „objektiven Erfordernisse“ in Form von Erziehungsinhalten den Menschen „von außen“ nahegelegt erschienen und diese Praxis letztlich als „Erziehungsdiktatur“ verurteilt wurde und wird. Bärbel Bohley stellt am Ende der DDR fest: Die Menschen „werden ganz abstrakt verdonnert, sich für etwas einzusetzen, was mit ihnen persönlich wenig zu tun hat“ (Bohley in Bohley, Havemann 1989: 187). Trotzdem sind die Ergebnisse der kollektiven Praxen nicht völlig zu leugnen. „Es gibt aber wenigstens Versuche in der Arbeitswelt, einander näherzukommen und so etwas wie ein gesellschaftliches Bewußtsein zu entwickeln, im Unterschied zu den westlichen Ländern“ (Margot W. in Wander 1978: 121). Nach der „Wende“ wurde in der DDR von vielen die Kollektivität auf Arbeit und die Gemeinschaftlichkeit im Freizeitleben vermisst. Gelitten wurde meiner Erfahrung nach auch weniger unter Restriktionen der Arbeitsorganisation, als darunter, dass die Arbeit aufgrund von Mangelerscheinungen nicht flüssig, durchgängig und produktiv ablaufen konnte: „Es ist nicht möglich, so zu arbeiten, daß du Leistung bringen kannst. Ich habe einen Arbeitsvertrag, in dem steht, daß ich verpflichtet bin, mein Bestes zu geben. Dazu bin ich auch bereit, aber es ist nicht möglich, weil die Voraussetzungen fehlen“ (Eckhart in Bohley u.a. 1989: 115). Daran zeigt sich, wie sehr sich Interessenlagen von Menschen im Sozialismus schon verändert hatten. Bei einem Ost-West-Vergleich unter Jugendlichen nach der Wende wurden auch „ostdeutsche Eltern […] als warmherziger und toleranter beschrieben als westdeutsche“ (Schröter 2000: 45), was einiges über die sozialen Beziehungen im Sozialismus aussagt. Auch haben sich die weiblichen Erfahrungen trotz weiter bestehender patriarchaler Tendenzen in der DDR wesentlich unterschieden von denen im Westen (ebd.: 46f.). Eva Kaufmann macht im selben Sammelband zu „Lebensansprüchen ostdeutscher Frauen“ auch darauf aufmerksam, dass in Romanen von Schriftstellerinnen der DDR in vielfacher Weise „der Geist der real existierenden Utopie“ (Kaufmann 2000: 112, zitiert Christa Wolf 1978: 9) aufscheint – aber gleichzeitig auch die nur begrenzte Verwirklichung der Utopie der Geschlechtergleichberechtigung in der DDR. In die Bilanz des real gewesenen Sozialismus gehört meines Erachtens auf jeden Fall das, was Frauen aus der DDR-Film- und Theaterwelt nach 1990 meinten: „Die Utopie von einem weltweit friedlichen, gerechten, produktiven Zusammenleben der Menschen würden sie bewahren…“ (Ullrich 2000: 148). Leider sieht die Bilanz der realsozialistischen Jahrzehnte in individuellen Berichten oft nicht gut aus: „Meine Erwartungen, die sind… na ja, die sind eigentlich auch auf der Strecke geblieben“ – berichtet etwa Georg in einer Sammlung von Wortmeldungen von DDR-BürgerInnen (Bohley u.a. 1989: 81). Ganz so schlimm war es für die meisten Protagonistinnen aus Maxi Wanders „Guten Morgen, du Schöne“ noch nicht immer. Christa Wolf macht in ihrem Vorwort darauf aufmerksam, dass die Berichte „authentisch […] belegen, wie weitgehend die Ermutigung, an öffentlichen Angelegenheiten teilzunehmen, das private Leben und Fühlen vieler Frauen in der DDR verändert hat“ (Wolf 1978: 11). Die weit über den persönlichen Wohlstand hinausgreifenden Erwartungen, die enttäuscht wurden, wurden immerhin in dieser Gesellschaft geweckt. So sagt etwa Ruth: „Ich träume: die Menschen werden wie Menschen miteinander umgehen, es wird keinen Egoismus mehr geben, keinen Neid und kein Mißtrauen. Eine Gemeinschaft von Freunden“ (Wander 1978: 87). Etwas davon hatte auch schon begonnen. Ich finde mich sehr gut wieder in der Aussage: „Die Verhältnisse in unserem Land haben es Frauen ermöglicht, ein Selbstbewußtsein zu entwickeln, das nicht zugleich Wille zum Herrschen, zum Dominieren, zum Unterwerfen bedeutet, sondern Fähigkeiten zur Kooperation. (Wolf 1978: 19). Katja Havemann stellte fest, dass die Hoffnung auf Verbesserungen im Verlauf der Zeit bei vielen verblaßte und die jüngere Generation der 80er Jahre davon weniger hatten. „Wenn mich vieles angezogen hat von dem marxistischen Gedankengut, dann war doch im nächsten Moment klar, daß es in tiefem Kontrast steht zu meinen täglichen wirklichen Erfahrungen. […] Und unsere Kinder – die interessieren sich im Grunde genommen nicht mehr für diese Gedanken, für die ist die Wirklichkeit so durchschlagend…“ (Havemann in Bohley, Havemann 1989: 190). Erich Honecker konnte es tatsächlich nicht verstehen, warum „der DDR die Leute wegliefen“ (Wekwerth 1993: 139). Dreimillionen Wohnungen und stabile Preise sah er da z.B. auf der Habenseite– erfüllte Träume seiner Generation; aber die neuen Selbstverwirklichungsbedürfnisse erkannte er nicht (an). 

Besonders in der Frühzeit des Sozialismus führten enttäuschte Erwartungen auch zu rapiden politischen Richtungswechseln. In Rußland/Sowjetunion wurde mit der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) erkannt, „daß der direkte Übergang zu einer rein sozialistischen Wirtschaftsform, zur rein sozialistischen Verteilung der Güter unsere Kräfte übersteigt“ (LW 33 JO: 407f.). Trotzki hatte bereits 1919 bei seinen Erfahrungen mit dem Aufbau der Wirtschaft im Ural die Erfahrung gemacht, „daß man zur Hebung der Wirtschaft um jeden Preis das Element des persönlichen Interessiertseins einführen […] müsse“ (Trotzki 1929/1990: 413). Durch die konkreten Erfahrungen hatte „sich unsere ganze Auffassung vom Sozialismus grundlegend geändert“, so Lenin danach (LW 33 JO: 460).

Auch in der DDR wurde auf dem VI. Parteitag der SED 1963 ein „Neues ökonomisches System der Planung und Leitung“ (NÖSPL) eingeführt. Damit sollten die Beziehungen zwischen den Individuen und der Gesamtgesellschaft neu justiert werden: „Das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft orientiert die gesellschaftlichen Handlungen der Menschen auf ein einheitliches für alle gemeinsames Ziel und gewährleistet die harmonische Vereinigung der zielstrebigen Leitung von oben mit einem Höchstmaß von Initiative und aktiver Mitarbeit bei der Leitung der Wirtschaft von unten. Darum erfordert das neue Leitungssystem eine größere Bereitschaft aller Werktätigen zur verantwortungsvollen Mitarbeit bei der Leitung und Planung der Wirtschaft, ein höheres Maß an Selbständigkeit und Entscheidungsfreudigkeit und ausgeprägtes ökonomisches Denke, das bei allen Maßnahmen stets den maximalen Nutzen für die gesamte Gesellschaft bietet“ (Autorenkollektiv 1964: 23). Primär erscheint der „maximale Nutzen für die gesamte Gesellschaft“ und die Selbständigkeit und Entscheidungsfreudigkeit der einzelnen scheint „nur“ zur Umsetzung dieser Vorgaben vorgesehen zu sein. Wenigstens sollten die individuellen, kollektiven und gesamtgesellschaftlichen Zwecke sich gegenseitig bestärken, denn als „oberster Grundsatz dieses neuen Systems“ galt: „Was der Gesellschaft nützt, muß auch dem einzelnen sozialistischen Betrieb und dem Werktätigen des Betriebes nützen.“ (ebd.) Das Vorgehen ist zu werten als Versuch der Herstellung eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen individueller Arbeitsleistung und Fortschritten der Gesamtgesellschaft (ebd.).

Diese Strategie wurde vor allem deshalb notwendig, weil in den konkreten Arbeitstätigkeiten der Mensch nicht mehr bloß eine „bewegende und bedienende Kraft“ war, sondern sich besonders in den damaligen wesentlichen Industrien wie der Petrolchemie, der Elektronik und des wissenschaftlichen Gerätebaus auch als „aktiv schöpferisches Element“ (ebd.: 24) betätigen musste. Dies sollte u.a. durch die Neuerertätigkeit von „Arbeiterforschern“ (ebd.: 36) erreicht werden.

Hier klingt vor allem die Anpassung des Individuellen an das gesellschaftlich Notwendige durch, obwohl gleichzeitig versichert wird, dass diese Veränderungen wenigstens auch der „schöpferischen Funktion der Werktätigen in der sozialistischen Produktion allseitige Entfaltungsmöglichkeiten geben“ (ebd.: 26) sollten. In den Prozessen von Mechanisierung und Automatisierungen wurden Potenzen gesehen, die Menschen „aus Vereinseitigung und Verkümmerung“ zu befreien (Scheler 1961: 69), dies besonders auch bezogen auf die Befreiung der Frauen „von der zeitraubenden und schweren Hausarbeit“ (ebd.: 73).

Diese Aspekte wurden auch später noch gesehen, jedoch wurde seit dem VIII. Parteitag der SED 1971 verstärkt auf die Entwicklung der Konsummöglichkeiten gedrängt. Die damit geweckten Erwartungen konnten jedoch nur in ungenügendem Maß erfüllt werden. „Jeder müßte das leisten, wozu er fähig ist… so, und dann müßte dementsprechend was dabei rauskommen“ (Edeltraut in Bohley u.a. 1989: 159) – und dabei ist nicht Geld gemeint, sondern das, was man mit dem Geld anfangen könnte. Während der „Wende“ im Jahr 1990, als man noch annehmen konnte, dass wir innerhalb der DDR und des Sozialismus noch eine Chance auf positive Veränderungen hätten, machte Michael Brie den Vorschlag, das Prinzip der Verteilung nach Fähigkeiten und Leistungen auch auf die Produktionseinheiten anzuwenden: „Die Verbindung der Produzenten mit den Produktionsmitteln nach dem Prinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung!“ stellt die grundlegende Form dar, in der die Interessen der sozialistischen Eigentümer so ineinander übergehen, daß jeder seine eigenen Interessen dadurch realisiert, daß er die Interessen anderer verwirklicht“ (Brie 1990: 163). Dazu kam es nicht mehr. Am Schluss musste Gorbatschow konstatieren: „Wir haben das Privateigentum beseitigt, aber solche Systeme der Wirtschaftsführung eingeführt, die die Macht der Bürokratie stärkten und den Arbeiter von den Produktionsmitteln trennten.“ (zit. in Brie 1990: 25) Deshalb war das Ende des Realsozialismus nicht nur eine Folge der Konterrevolution, sondern: „Zu keinem Zeitpunkt hatte der SED-Staat die Mehrheit der Bevölkerung auf seiner Seite“ (Mitter, Wolle 1993: 541). Leider bestärkte dies das Misstrauen der Staats- und Parteiführung, das, wie Jürgen Fuchs erwähnte, auch etwas mit ihren Erfahrungen zu tun hatte, „mit dem Übernehmen der Macht durch die Hitler-SS-Partei, diesem Drücken, Uniformieren, Zwingen und Bekriegen, Ermorden, Ein- und Ausgrenzen“ (Fuchs in Bohley u.a. 1989: 166). Vieles, was theoretisch anders gewollt war bis zuletzt, wurde praktisch nicht gemacht, bis zuletzt: „Die Freiwilligkeit ging verloren, das Vertrauen. Wenn das verloren geht und Macht hinzukommt, ist das Gewalt, Druck“ (ebd.). Trotzdem waren nicht einmal die Oppositionellen im Sozialismus Gegner des Sozialismus an sich, sondern sie vertraten eine „subversive Utopie eines menschlichen und demokratischen Sozialismus“ (Mitter, Wolle 1993: 542-543). Dies wurde von der Bevölkerung allerdings nicht mit getragen, sondern „[i]hre Ideale erschienen den Menschen bald schon als weltfremde Träumereien und ihre moralische Unbedingtheit als im politischen Alltag störend“ (ebd.: 543).

Neue Utopien könnten dasselbe Schicksal teilen. Wenn Menschen einmal grundsätzlich anders denken, fühlen und handeln sollten (wie in Utopien gewünscht), haben sie von heute an einen noch sehr langen Weg zurück zu legen. Und auf diesem werden sie ihre eigenen Wünsche und Vorstellungen entwickeln und dann verwirklichen, ganz ohne unsere heutigen utopischen Entwürfe.

„Ich bin nicht mehr sicher, daß der Kommunismus […] das Schicksal der Menschheit ist, aber er bleibt ein Menschheitstraum, an dessen Erfüllung eine Generation nach der anderen arbeiten wird bis zum Untergang unserer Welt.“ (Heiner Müller 1993: 8)


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