Nach Theodor W. Adorno besteht das Wesen von Bildung darin, eine „lebendige Beziehung zu lebendigen Subjekten“ zu stiften (Adorno 1959: 103).
Im entwickelten Kapitalismus verliert die Bildung die Lebendigkeit, wird zur Ware und entwickelt dementsprechend den Anspruch, problemlos konsumiert werden zu können.
Obwohl im Einführungstext zu den Kapitalkursen von „ein wenig Geduld“ und „gründlichem Lesen“ geschrieben wird, gingen die Redner in der Auftaktveranstaltung und auch der selbsternannte Mitorganisator-Moderator davon aus, dass man gaaaaaanz einfach den geschriebenen Text inhaltlich erfassen können sollte. Die Angst, ja nicht zu viel zu verlangen, ist geradezu prägend für das Ganze. Dass gerade die vereinfachte Marxologie dem Marxismus historisch das Wasser abgegraben hat, und dass es auch möglich ist, die komplexeren Denkformen didaktisch eingängig zu behandeln, wird geleugnet.
Nach Adorno setzen unter bürgerlichen Bedingungen die Inhalte der Halbbildung den Subjekten keine Widerständigkeit mehr entgegen, Anstrengungen werden vermieden und es wird behauptet, ohne dieses lebendige angestrengte Ringen könne man zu geistiger Autonomie kommen. Demgegenüber behauptet Adorno: „nichts, was mit Fug Bildung heißen darf, (kann) voraussetzungslos ergriffen werden“ (ebd.: 113).
Jedes Fachgebiet kann nur souverän beherrscht werden, wenn nicht nur einfach alltagsprachlich der Inhalt nacherzählt wird, sondern wenn eine Methode des eigenständigen Erfassens und Begreifens gelernt wird. Warum sollte das ausgerechnet bei Marx nicht so sein?
Außerdem schleppen wir ja alle Voraussetzungen mit uns herum und die sind ausgerechnet in der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft entstanden. Wenn wir wirklich voraussetzungslos vorgehen wöllten, müssten wir uns genau vergegenwärtigen, inwieweit in unseren Denkformen diese herrschenden gesellschaftlichen Strukturen sich festgesetzt haben. Dies erfordert notwendigerweise einen methodischen Vorgriff, bzw. die beständige sorgfältige parallele Thematisierung der Methodenfrage. Dass die neuen Marxstudien dies nicht nur nicht machen, sondern explizit ausschließen, führt sie in Sackgassen, aus denen heraus der Weg länger und schwerer sein wird für die wenigen, die ihn gehen wollen und werden, als wenn wir das gleich bedacht und gründlich machen würden.
Einen kleinen Seitenhieb gegen manches, was sich in Internetzeiten Bildung nennt, hat Adorno auch noch parat:
Die zur vollständigen Bildung notwendige wechselseitige Durchdringung von Subjekt und Objekt geht verloren, „Erfahrung und Begriff“ wurde schon zu Adornos Zeiten „ersetzt durch die punktuelle, unverbundene, auswechselbare und ephemere Informiertheit, der schon anzumerken ist, daß sie im nächsten Augenblick durch andere Informationen weggewischt wird.“ (ebd.: 115) Dem entspricht auch der Ausspruch von Joseph Weizenbaum: „Kritisches Denken ist das Gegenteil von Internetsurfen!“.
Literatur: Adorno, Theodor W. (1959): Theorie der Halbbildung. In: Gesammelte Schriften, Band 8. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 93-121.
November 20, 2008 at 5:07 pm
Ich finde ja es macht jetzt nicht wirklich so einen großen Unterschied, ob ich Bibliotheken oder das Internet surfe.
November 20, 2008 at 7:19 pm
Mag ja sein, aber die Frage ist WIE Du das jeweils machst. Wenn Du in der Bibliothek genau so oberflächlich herumliest, wie manche im Internet, dann macht das keinen Unterschied – wenn Du im Internet ausführlich recherchierst und an die Inhalte selbstdenkend-kritisch herangeht, macht es auch nicht so viel Unterschied. Aber es geht um das WIE und da bemerke ich zumindest bei mir, dass ich beim üblichen Surfen im Internet schon grundsätzlich weniger konzentriert arbeite als beim Literaturstudium in der Bibliothek. Vielleicht wissen viele schon gar nicht mehr, welche Art Tiefe und Reife des Wissens entstehen kann, wenn man mal nicht schnell alles übersurft, sondern sich mal monatelang in eine Schrift oder mehrere Schriften eines Autors, eines Themas etc. vertieft.
November 20, 2008 at 9:43 pm
Das bringt mich grade auf eine Idee – Internet ist auf der einen Seite zwar schnell-lebig – aber vielleicht könnten wir hier eine virtuelle Uni initiieren- Könnte vielleicht so funktionieren, dass wir bestimmte Textstellen lesen und dann die Fragen stellen und beantworten … andere könnten dann ja beim Surfen auch auf solche Eintragungen stoßen … ist halt nur ne Idee … hätte den Vorteil, dass wir ja nicht zur gleichen Zeit da sitzen müssten … würde so etwas gehen?
November 21, 2008 at 2:22 pm
Unser Dialektik-Seminar am Wochenende (http://zw-jena.de/blog/2008/11/dialektik-in-der-zukunftswerkstatt/) führte ja am Ende bei der Frage, ob/wie wir weiter machen auch den Hinweis, dass das „Kapital“ interessiert.
Tanja fragte auch nach, weil sie in Berlin an entsprechenden Seminaren teilnimmt und sich nicht sicher ist, was sie davon halten soll.
Also machen wir doch Nägel mit Köpfen: Siehe http://coforum.de/index.php?7491.
Bis bald wieder
Ahoi Annette
November 24, 2008 at 10:02 am
Wenn’s um Kapitallesekurse in Berlin geht: da kann ich die an der Rosa-Luxemburg-Stiftung von Anne Steckner, Sabine Nuss und Ingo Stützle organisierten Kurse sehr empfehlen – da gibt es jedenfalls keine solchen Disaster wie Annette sie aus den SDS-Kursen berichtet. Neue Kurse beginnen für den 1. Band am 4. März 2009. Ich hab dieses Jahr den 1. Band mitgemacht und werd nächstes Jahr beim 2.+3. Band teilnehmen und kann berichten, dass die Referentinnen da wirklich mit Sachverstand rangehen!
Mai 15, 2010 at 12:28 pm
Ein Hinweis auf eine Radiosendung (Radio Frei Stuttgart) zum Bildungsbegriff bei Adorno:
Bildung, Halbbildung, Bildungsklau? Zum Bildungsbegriff Theodor W. Adornos und seiner semantischen Verkümmerung zur Parole innerhalb der Studierendenproteste.
Juli 26, 2015 at 7:59 pm
[…] Heutzutage ist es für meine Art, zu arbeiten und darüber kommunizieren zu wollen, sehr hemmend, dass sogar viele am Inhalt durchaus interessierte Studierende oft meinen: “Ach, ich muss schon im Studium so viel lesen, ich will das nicht auch noch in der Freizeit.” Das reduziert natürlich ihren geistigen Horizont extrem und blockiert die weitere Entwicklung. Gleichzeitig dünken sie als Studierende aber alles zu wissen. Die Erfahrungen mit solchen hab ich mal reflektiert in einem Text zur sog. “Halbbildung”. […]