Angesichts der Krisen in fast allen Bereichen unseres Lebens wächst das Interesse an Alternativen. Während uns der Zerfall des Realsozialismus mehr oder weniger weich landen ließ im bereits vorhandenen real existierenden Kapitalismus, steht uns solch eine fertige Alternative beim Ende des Kapitalismus nicht zur Verfügung. Wir müssen sie selber machen – aber bevor wir keine Ahnung davon haben, wie sie aussehen könnte, können wir nicht daran arbeiten und viele zögern sogar, überhaupt daran zu glauben, das Menschen ohne Ausbeutung, Herrschaft und Entwürdigung leben können.
Während einige alternative Konzepte praktisch seit mehreren Jahrzehnten aufgebaut und in Nischenbereichen sogar haltbar und erfolgreich sein können (Kommunen, eher handwerklich orientierte „Alternative Ökonomie“…), entstanden in den letzten 10 Jahren neue Ideen, die auch den High-Tech-Bereich einbeziehen. Es könnte möglich sein, alle notwendigen Güter selbstbestimmt und ohne Bewertung durch Geld herzustellen, zu geben und zu nehmen wie Freie Software. Im Bereich der Kultur ist die „Creative Commons“-Praxis bereits weit verbreitet. Es gibt also durchaus sinnvolle Ansatzpunkte für eine andere Produktions- und Lebensweise.
Natürlich ermöglicht eine solche neue Produktions- und Lebensweise sicher andere Formen von Kultur und im engeren Sinne auch von Kunst. Von Ernst Bloch können wir aber lernen, dass diese neuen kulturellen und künstlerischen Formen in der Geschichte oft lange vor den neuen gesellschaftlichen Produktions- und Verteilungsformen entstanden sind und wenigstens im Nachhinein als wichtige „Keimform“ für das Neue entschlüsselt werden können.
So gab es – wie Bloch beschreibt – in verschiedenen Zeiten unterschiedliche Interpretationen der Faust-Legende (Bloch, Tübinger Einleitung, S. 70, Prinzip Hoffnung, S. 1188 ff.). Der Goethesche Faust verkörpert das „Bewußtsein des bürgerlichen Ich … im Sonnenaufgang der deutschen bürgerlichen Gesellschaft) (66). Durch dialektische Widersprüche hindurch emanzipiert sich das Subjekt durch den Durchgang durch verschiedene, jeweils dem Entwicklungsstand des Subjekts angemessenen objektiven Welten. Bloch bemerkt, dass die Grundstruktur des Goetheschen Faustwerkes der Hegelschen Phänomenologie erstaunlich verwandt ist. Die gesellschaftliche Form, die diesen Werken entspricht, ist die „private Wirtschaftsweise des kommenden Unternehmers, eines Typus […], der im zurückgebliebenen Deutschland zur Zeit des Urfausts noch kaum, zur Zeit der Phänomenologie erst sporadisch auftrat.“ (ebd.). Ich frage mich nun: In welchem Kunstwerk wird das Subjekt – Subjekt- und das Subjekt-Objekt-Verhältnis des möglichen neuen Zeitalters dargestellt???
Philosophisch lässt sich diese zukünftige, weder von Faust, noch von Hegel erahnte, noch in der kapitalistischen Wirklichkeit realisierbare Vision bereits aussagen: In der von Bloch als sozialistisch bezeichneten nachkapitalistischen Gesellschaft findet das Objekt sein Ende am befreiten Objekt, das Subjekt sein Ende am unentfremdeten Objekt (ebd., S. 83). Es geht um „jene Freiheit, jene Heimat der Identität, worin sich weder der Mensch zur Welt noch aber auch die Welt zum Menschen verhalten als zu einem Fremden.“ (Prinzip Hoffnung, S. 241) Es ist die „Identität des zu sich gekommenen Menschen mit seiner für ihn gelungenen Welt“ (ebd.: S. 368) Nicht zufällig endet das Werk, in dem Bloch selbst auf Spurensuche für utopische Ansätze in allen Bereichen der Kultur war, mit dem Utopikum von „etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ (ebd.: 1628)
Die Kunst, in der wir Gestaltungen dieser Utopie finden können, ist für Ernst Bloch eine „tätige Umarbeitung“ der Welt, „als eine die Welt durchaus erweiternde und wesenhaft vermehrende“ (ebd.: S. 50). In einer Welt, die als prozesshaft-offen angenommen wird, kann Kunst voraus scheinen in das noch nicht Verwirklichte, es kann das Latente darstellen, es kann einen Vor-Schein des möglichen Neuen entbergen. Indem Kunst ihre Stoffe, in Handlungen, Situationen und Gestalten bis ans Ende ihrer Möglichkeit treibt (ebd.: 947), wird sie zum ästhetischen Vorschein, der „im Horizont des Wirklichen“ steht (ebd.: 948).
Wahrscheinlich ist Kunst auch etwas anderes als ästhetischer Vor-Schein, aber zumindest findet jener in der Kunst seinen Platz. Weite Teile des Werks „Das Prinzip Hoffnung“ zeigen diese Perspektive in Märchen, in Schauerromanen und sogar in kolportagehafter Literatur, im Tanz, auf der Schaubühne und im Film. Auch die Malerei und der Architektur durchforstet Bloch auf der Suche nach dem utopischen Vor-Schein. Fündig wird er vor allem in der Musik und der Oper, so z.B. im Trompetensignal vor der Befreiung der Gefangenen im „Fidelio“. Musik ist für ihn „die utopisch überschreitende Kunst schlechthin…“ (ebd.: 1242).
„Immer gibt gute Musik mit Tonmalerei ein anderes als Oberfläche wieder, sie holt vielmehr ein Klingen und Zeigen heraus, das neben dem Ding, das geworden ist, noch übrigbleibt.“ (ebd.: 1270)
„Kulturindustrie“ hin oder her – es wäre sicher spannend, die heutigen Kunstprodukte nach Spuren des Vorscheins für Neues zu durchforsten. Natürlich widerspiegelt jede Kunst erst einmal ihre eigene Zeit und ist Moment der aktuellen Kultur. In einer Zeit des Niedergangs liegt die fantasy-volle Flucht in mittelalterliche Welten und Szenarien recht nahe. Aber es ist nicht nur Rückzug darin, es ist nicht nur Flucht, Eskapismus oder entsagungsvoller Zynismus; und die billig-süßen Holly- und Bollywoodinszenierungen sind immer noch von unausrottbaren menschlichen Sehnsüchten getragen, die sich an der Realität reiben. Auf schriftstellerische Übersetzungen abstrakter utopischer Theorien können wir zu Recht verzichten. Nicht aber auf den künstlerischen Vor-Schein von Möglichkeiten, die am Horizont des wirklichen wachsen.
Wer mag, kann ja mal in den Kommentaren kurz beschreiben, welche künstlerische Arbeit sie bzw. ihn beflügelt hat. An welchem Kunstwerk spüren wir den Hauch einer lebenswerten Zukunft?
Meine Gedanken dazu stehen in dem Blogbeitrag „Rufe aus der Zukunft“.
Dazu passt auch ein Text von Christoph Spehr:
Social Fiction und Utopie
Oktober 26, 2009 at 10:06 am
Das Konzept „Kunst“ als eigenständige Sphäre ist doch selbst durch und durch bürgerlich. Ich finde da nur sehr selten Neues. Vielleicht noch am ehesten in der Science Fiction, aber da ist es ja im Grunde nicht die Kunst, die das neue aufscheinen lässt, sondern eher die Spekulation über und die Simulation von Welten, wie sie sein könnten. Deswegen wird ja der SciFi auch oft der Kunstcharakter abgesprochen.
Oktober 28, 2009 at 10:55 am
Wenn irgendwo rauszulesen ist, dass Bloch (oder ich in meiner Interpretation) „Kunst als eigenständige Sphäre“ verstehen, dann entschuldige ich mich für diese Darstellung.
Ich bin wirklich immer recht verblüfft, mit welcher Art reflexhafter Ablehnungshaltung (erst mal so interpretieren, wie es sich kritisieren lässt) Texte oft gelesen werden.
Bei Bloch ist es ganz speziell so, das seine Art und Weise, an etwas heranzugehen, meist grundsätzlich ganz anders ist als natürlich schon mal das „bürgerliche“ aber auch unsere üblichen Interpretationsmuster. Da muss man sich aber wohl doch in die Originalliteratur einlesen. Wenn ich versuche, etwas verkürzt darzustellen, wird es wohl dann noch leichter fehlinterpretiert.
Zum Kunstbegriff bei Bloch kann ich in der nächsten Zeit nicht arbeiten, das ist sehr umfassend. Eine Bestimmung möchte ich aber zitieren, damit klar wird, dass Bennis Vorwurf völlig fehlt geht. Nach Bloch ist Kunst auf dem Gebiet der ästhetischen Darstellung „tätige Umarbeitung“ der Welt, „als eine die Welt durchaus erweiternde und wesenhaft vermehrende“ (PH: 950).
Und jetzt schau Dich noch mal um, wo Dir in der Welt so was vielleicht nicht doch auch begegnet statt nur an die heutige SF zu denken. Gerade die SF ist genau das, was Bloch NICHT meint, und was ich herausarbeiten wollte…
(Als weiterführende Literatur dazu vielleicht noch ein Tip: Vidal, Francesca: Kunst als Vermittlung von Welterfahrung. Zur Rekonstruktion der Ästhetik von Ernst Bloch, 1994)
Oktober 28, 2009 at 11:13 am
sorry, das war nicht als bashen gemeint. Das Problem sehe ich auch nicht so sehr darin wie Bloch oder Du Kunst sehen, sondern darin, wie sie empirisch auffindbar ist und da finde ich halt recht wenig keimförmiges, weil sie eben fast immer abgespalten ist.
Mich würde dann mal interessieren, was da noch der Unterschied zur „Arbeit“ ist bei Bloch, klingt erstmal ähnlich. Aber da hast Du wohl recht, muss ich wohl selber lesen.
Oktober 28, 2009 at 1:07 pm
Tja, was „empirisch auffindbar ist“ – genau das ist die Frage!!! Ist nur das auffindbar, was auf der Oberfläche offensichtlich als „bürgerlich“ entzifferbar und damit schnell ablehnbar ist? Oder ist auffindbar auch das, was sich bisher nur als „Vor-Schein“ zeigt, als undeutliche, nicht vollständig mit unserer „verbürgerlichten“ Sprache (auch Kunst-Sprache) ausdrückbar ist, aber doch auch immer da ist in menschlichen Wunschträumen, Tagträumen und den dementsprechenden (ästhetischen, d.h. sinnhaften und in irgend einer Weise sinnlich darstell- und wahrnehmbaren, eben nicht nur rational denkbaren) Äußerungen von Menschen?
Damit sind wir genau beim Punkt: Es war das Lebenswerk von Ernst Bloch, die Wirklichkeit gerade nicht als blockhaft-widersätzliche Tatsächlichkeit zu sehen, sondern die Wirklichkeit in der Fülle ihrer Möglichkeiten zu erschließen. Diese Möglichkeiten, vor allem wenn nicht nur ihre technokratischen Aspekte betrachtet werden, haben viel mit Menschen zu tun, mit ihren Wünschen, Hoffnungen, Utopien und diese drücken sich immer auch in kulturellen und Kunstprodukten aus, die nicht nur ein Abklatsch ihrer schlechten tatsächlichen Welt (Sklavenhaltertum, Feudalherrschaft, kapitalistische wertvermittelte Herrschaft) sind, sondern ein Vor-Schein von zukünftig möglichem Besseren. Dieses „Bessere“ drückt sich begrifflich meist vor allem negativ aus: „Nicht-Herrschaft“, „Nicht-Entfremdung“ – aber es läßt sich FÜHLEN und SPÜREN. Deshalb auch meine Frage: Was siehst und hörst Du, wenn Du das Nicht-Entfremdete erahnst? Bei welchem Lied, in welchem Film gab es so was? Wenn Du, Benni, für Dich da nichts findest, wäre es schade.
Bloch selbst hat sehr viel Wert darauf gelegt, auch in den Kulturtraditionen, die u.a. von der Arbeiterbewegung zu vorschnell als „bürgerlich“ weggelegt worden waren, das Vor-Scheinhafte zu suchen, es als Erbe fruchtbar zu machen. Seine Auseinandersetzung mit dem Hitlerfaschismus bestand darin zu fragen, welches Erbe die Faschisten so leicht antreten konnten, weil die eigentlich Fortschrittlichen es beiseite gelegt oder bewusst abgelehnt hatten.
Für mich als Symphatisantin des Keimform-Gedankens ist der Vor-Schein eine wichtige Ergänzung, wenn nicht sogar eine, die in den Kern des Konzepts eigentlich von vornherein hinein gehört. Ich laufe derzeit mit meiner Blochlektüre parallel und neben Eurer Keimform-Debatte. Für mich war das immer ein „Zueinandergehören“. Deine Mail hat mich deshalb darauf aufmerksam gemacht, dass nicht automatisch so ist.
Oktober 28, 2009 at 6:49 pm
[…] habe in meinem letzten Blogbeitrag gefragt, „welche künstlerische Arbeit Euch beflügelt hat“. Ich selbst bin auch ins […]
Oktober 29, 2009 at 3:41 pm
[…] Der Zusammenhang von Utopie und Kunst bei Ernst Bloch […]
November 11, 2009 at 10:24 am
[…] Wie erscheint die mögliche Zukunft, die Utopie in der Kunst? – fragt Annette in ihrem Blog und sammelt, welche künstlerische Arbeit Euch beflügelt […]
Februar 2, 2010 at 12:32 am
[…] den Zusammenhang von Utopie und Kunst bei Ernst Bloch schreibt Anette Schlemm in ihrem Philosophenstübchen-Blog. »Die Kunst, in der wir Gestaltungen […]
Februar 4, 2014 at 6:44 pm
Hey, in den letzten Tagen wird dieser Beitrag auffallend oft aufgerufen. Mag jemand aufschreiben, was gerade daran so interessant ist?
August 19, 2015 at 6:08 am
Wenn Kunst die “ tätige Umarbeitung der Welt ist“ dann sehe ich im Moment nicht viel Hoffnungstiftendes.
Für mich regiert das “ Untier“.
Peter Myrdal
http://www.vorscheinart.com