Kleiner Exkurs zu Schellings Kritik an Hegel

Obgleich die eben geschilderte Zeitvorstellung (von 1804) sich als Rückkehrprozess versteht, ist nach Wüstehube (1989: 42) die Spätphilosophie Schellings davon gekennzeichnet, sich in Gegensatz zu Hegels „Rückkehr“-Entwicklungsphilosophie zu setzen.


Für Hegel entfaltet sich in der Entwicklung eine „Anlage, Vermögen, das Ansichsein“ (HW 18: 39) zur Wirklichkeit, dem Fürsichsein. Der Mensch wird im Laufe seiner Entwicklung vom Säugling von einem nur der Möglichkeit nach vernünftigen Wesen zu einem wirklich vernünftigen Wesen. Dabei bleibt der Inhalt (das Wesen: für den Menschen die Vernunft) gleich, aber die Form verändert sich und diese Form ist „ein ungeheurer Unterschied. Auf diesen Unterschied kommt der ganze Unterschied in der Weltgeschichte an.“ (ebd.: 40). Das, was erst nur innerlich ist, soll aus sich herausgezogen und sich gegenständlich werden (ebd.). Der Keim will wieder Frucht werden, dies ist vorherbestimmt und insofern ein Zurückkommen: „Der Keim will sich selbst hervorbringen, zu sich selbst zurückkehren.“ (ebd.: 41) Zwar betrifft dieses Zurückkommenin der Natur ein weiteres, das nachkommende Individuum, aber im Geist besteht das Ziel im „Zusichselbstkommen“ direkt darin, „sich mit sich zusammen[zu]schließen“. (Zur Rolle der Zeit und der Zukunft in Hegels Philosophie siehe Schlemm 2009)

Schelling will „jener rotatorischen Bewegung, die mit seinem Urseyn nothwendig gesetzt wäre, auch wirklich […] entkommen.“ (SW XIII: 274) Ein Ausbrechen aus diesem Kreis kann nach Schelling nur durch eine unwillkürliche Tat Gottes geschehen, durch eine willentliche Entscheidung, die nicht selbst im Kreislauf des dialektischen Aufhebens gefangen-vorherbestimmt ist. Zeitlichkeit wird hier gerade durch den Ausbruch aus der in sich geschlossenen logisch bestimmten Aufeinanderfolge bestimmt.

In den „Weltaltern“ diskutiert Schelling diese Entscheidung „durch eine blindlings die Einheit brechende Gewalt“ (SW VIII: 220). Diese Entscheidung ist es, die etwas vorher nur Geistiges in Wirklichkeit bringt. Damit überschreitet Schelling das idealistische Konzept von Hegel, bei dem der Gegenstand seines Philosophierens eine Sache ist, die aber „ für uns nichts anderes als unsere Begriffe von ihr sein kann. (HW 5: 25)

„Das Denken dringt durch die äußerliche Erscheinung durch zur inneren Natur der Sache und macht sie zu seinem Gegenstand. Es läßt das Zufällige einer Sache weg.“ (HW 4: 214)

Deshalb verwahrt sich Hegel gegen die Forderung von Wilhelm Traugott Klug, „es solle jeder Hund und Katze, ja sogar Herrn Krugs Schreibfeder deduziert werden“ (HW 2: 194). (Zu Hegels idealistischer bzw. onto-epistemischer Bestimmung der Gegenstände der Philosophie siehe Schlemm 2010)

Schelling dagegen, und das wird auch als materialistischer Ansatz gewürdigt (Frank 1975), kritisiert den „unendliche[n] Mangel an Seyn“ (SW XII: 49) und sucht nach einem „unvordenklichen Seyn“ (SW XIV: 337).

„Die Begriffe als solche existiren in der That nirgends als im Bewußtseyn, sie sind also objektiv genommen nach der Natur, nicht vor derselben; Hegel nahm sie von ihrer natürlichen Stelle hinweg, indem er sie an den Anfang der Philosophie setzte.“ (SW X: 140)

Damit, so könnte man meinen, begeht Schelling aus Hegelscher Sicht den gleichen Fehler wie der Herr Krug, „die Sache wie der gemeinste Plebs zu verstehen“ (HW 5: 194) – aber um Schreibfedern oder Hunde und Katzen geht es Schelling überhaupt nicht. Das „unvordenkliche Seyn“, das er sucht, ist nicht die „objektive Realität, die außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewußtsein existiert“ (dialektisch-materialistischer Materiebegriff nach PWB 1975: 769), sondern es geht um das „Seyn schlechthin“ (SW I: 202), also das „außer aller Zeit gesetzt[e]“. Für die Erkenntnis dieses Seyns reicht dann auch weder empirische Erkenntnis noch rationales Denken, sondern es „intellektuelle Anschauung“ (SW III: 368) oder „Ekstase“ (Init.: 38) nötig.