Es war schon eine Herausforderung, bei über 35 °C in einem unklimatisierten Raum stundenlang soziologischem Reden zuzuhören – aber es war ein historischer Moment: Wer hätte gedacht, dass das Thema der „Klassen“ und meist auch explizit verbunden mit einer Marxschen Sichtweise, noch einmal ernsthaft diskutiert werden kann nach dem Desaster des real gewesenen Sozialismus. Aber der Raum während der „Ersten Jenaer Klassenkonferenz“ war voll, die Zeitplanung wurde entsprechend dem Fußballzeitplan umgestellt und dann konnte ich spannende Debatten erleben. Gleich vorweg: Klassen und Klassenkampf sind in den aktuellen Debatten längst nicht das, was viele noch aus dem vereinfachenden ML-Unterricht zu erinnern glauben! (mehr dazu unten an der mit (*) bezeichneten Stelle). Ich selbst habe zwei Veranstaltungsrunden auslassen müssen, weil ich noch zu tun hatte; deshalb hoffe ich auf ein schriftliches Nachreichen der Beiträge in einer Veröffentlichung. Dann können auch andere nachlesen, in welcher Weise mit Marx und neueren Autoren wie Bourdieu solche Fragen behandelt werden wie:

  • Was sind Klassen?
  • Verhältnis Ökonomismus – Kulturalismus
  • Organisierung
  • Staatlichkeit – offenes Kampffeld oder Gegner?
  • Hinweis zu Commons

Als Autoren, die für eine Klassendebatte heute in Frage kommen, wurden vor allem Karl Marx, Max Weber, Pierre Bourdieu und Antonio Gramsci genannt. Eine Übersicht über neuere Theorien dazu bietet auch Wikipedia. Ich möchte hier auch an das „Projekt Klassenanalyse“ der Marx-Engels-Stiftung erinnern.

Ich werde im Folgenden nicht meine Notizen abarbeiten oder gar die ganze Konferenz nacherzählen, sondern nur einige Hinweise notieren, die mir interessant erscheinen. Dabei folge ich auch nicht genau der Sprecher_innenreihenfolge.

Was sind Klassen?

Einig waren sich meiner Wahrnehmung nach eigentlich alle Vertreter_innen auf den Panels, dass eine soziologische Analyse in politisch emanzipativer Absicht um die Beschäftigung mit „strukturellen Determinanten“, die etwas mit der Klassenlage zu tun haben, nicht herum kommen. In dem für die Konferenz vorab erarbeiteten Diskussionspapier wurden Klassen bezeichnet als „konstitutiven, wenngleich nicht determinierenden, als relativ stabilen, wenngleich nicht fixierten und als grundsätzlich antagonistischen, wenngleich vielfach ausdifferenzierten – und umkämpften – Modus der Reproduktion von Subjektpositionen im Kapitalismus“ bezeichnet. Auch in den Vorträgen wurde auf die Bedeutung der Lage im Produktionsprozess verwiesen, insbesondere die Frage des Eigentums an Produktionsmitteln.

Dass diese Bedeutsamkeit unsichtbar (gemacht) wird, ist ein Teil der Klassenherrschaft, meinte Christoph Henning (St. Gallen). Letztlich hätten sich alternative Versuche emanzipativer Gesellschaftstheorie ohne Klassenbegriff, die sich z.B. auf die Individualisierungstrends berufen, erschöpft und es ließe sich nicht verleugnen, dass auch die Individualisierungschancen abhängen von der Lage der Menschen im Produktionsprozess. Christoph Henning meinte zum Verhältnis von Individualisierungs- und Klassendiskurs (so ungefähr, meine Mitschrift ist nicht wörtlich):

In dem Moment, in dem Individualität zum allgemeinen Paradigma geworden ist, kann es auch befreiend sein, auf die die Möglichkeiten strukturierende Lage zurück zu verweisen.

Dass es Klassen gibt, war meiner Wahrnehmung nach unumstritten, es ging nur darum, wie sie zu erfassen sind. (*) Einig waren sich auch alle darin, keine empiristischen individuellen Zuschreibungen („dieser oder jener gehört zu dieser oder jener Klasse“) zu meinen und auch darin, dass die Erzeugung der Klassenpositionen ein ständiger dynamischer Prozess ist und nicht per se irgend welche festgeschriebenen Menschengruppen bezeichnet. Schön fand ich den folgenden Vergleich:

Klassenkampf ist kein Rugby-Spiel, bei dem die gegnerischen Gruppen von vornherein streng definiert und identitär festgeschrieben auf dem Platz stehen; sondern die Klassen konstituieren sich erst im Kampf und mit dem Kampf.

Sabine Nuss sprach über die Reproduktion der Klassen innerhalb des kapitalistischen Verwertungsprozesses und vergaß wieder nicht, einen Seitenhieb auf jene auszuteilen, die ihrer Meinung nach die Freie Software als „Projektionsfläche revolutionärer Phantasien“ (wieder sicher keine ganz wortgetreue Wiedergabe) benutzen. Wichtig ist aber ihr Insistieren auf den allgemeinen Verwertungsimperativ, der bei allen soziologischen Debatten nicht aus den Augen gelassen werden sollte.

Aus Wien angereist war Karl Reitter, dessen österreichischem Dialekt ich nicht immer ganz folgen konnte. Deshalb helfe ich gerade nach durch die Lektüre eines Textes von ihm im Internet, in dem er ähnliche Thesen äußerte. Die von ihm ausgesprochene Definition des Proletariats finde ich nicht wieder, aber hier lese ich:

„Marx definiert das Proletariat niemals als distinkte soziale Gruppe mit Interessen, die sich aus ihrem gegebenen sozialen Status und ihrer Situation ergeben, sondern ausschließlich negativ. Es steht der Bourgeoisie als potentielle oder bestimmte Lohnarbeit gegenüber, kann aber am Verharren in dieser gesellschaftlichen Existenzweise kein Bedürfnis haben.“

„Klassenkampf ist der Kampf gegen das zur Klasse gemacht werden“ lese ich hier wieder einen schon vertrauten Satz von ihm, der mir gut gefällt. Wenn das so ist, dann erweist es sich, dass seine Suche nach den „verhüllten Elementen der klassenlosen Gesellschaft“, die er unbedingt nur „im Bereich der Produktion und Reproduktion, im sozialen Verhältnis der Klassen“ sucht, gar nicht so sehr im Widerspruch steht zu dem „Keimformansatz“ (Es gab schon einmal eine Debatte zwischen Stefan Mz. und mir zu ähnlichen Fragen).

Sabine Nuss scheint das ähnlich zu sehen, sie machte in einer Diskussion die Bemerkung, dass der Klassenkampf so lange zur invarianten Reproduktion des Kapitals (ohne Transformationstendenz) gehört, solange er am Verwertungsimperativ nicht rüttelt.

Karl Reitter machte noch eine kleine Bemerkung zum Begriff der „Multitude“ nach Negri, mit dem häufig versucht wird, alte Klassenkampfdebatten zu verabschieden und trotzdem so eine Art „neues revolutionäres Subjekt“ zu konstituieren. Reitter kritisiert diese Ansicht, weil bei Negri die Multitude als eine Form gesellschaftlichen Seins betrachtet wird, die quasi schon fertig da ist und sich selbst bejaht. Sie soll als Multitude sie selbst bleiben, und bloß noch den Kapitalismus, wie als äußere Hülle, abschaffen. Beim Marxschen Begriff des Proletariats dagegen ist mit gemeint, dass sich auch dessen gesellschaftliches Sein aufhebt, in dem es das übergreifende Kapitalverhältnis aufhebt.

Zur Hauptfrage des ersten Panels, wie sich Alte und Neue Klassen zueinander verhalten, gab es erstaunlicherweise die ziemlich übereinstimmende Position, das sich so viel gar nicht verändert hat.

Mehrere Redner_innen bezogen sich produktiv auf den Kapitalbegriff von Pierre Bordieu, über dessen Grundlage kurz etwas nachgelesen werden kann in dem Referat „Habitustheorie und Kapitalbegriff“. Hierzu gab es offensichtlich recht abweichende Lesarten und Interpretationen, so dass auch keine Einigung erzielt werden konnte, ob seine Begriffe heute noch hilfreich für die Analyse und vor allem für politische Handlungsorientierungen sein können.

Es wurde vorgeschlagen, zwischen einem soziologischen und einem politökonomischen Begriff von Klassen zu unterscheiden, außerdem wurde immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass jeweils verschiedene Analyseebenen zu unterscheiden sind (analytisch, begrifflich).

Verhältnis Ökonomismus – Kulturalismus

Natürlich ging es auch um das Verhältnis von Klassenherrschaft zu anderen Herrschaftsformen. Dabei taucht als übergreifende Unterscheidung jene nach einer primär ökonomistischen Sichtweise versus primär kulturalistischer Sichtweise auf.

Der Beitrag von Jörg Nowak (Kassel) zum Verhältnis von Klassen- und Geschlechterverhältnissen wurde erstaunlich wenig diskutiert.

Margareta Steinrücke (Bremen) brach immer wieder eine Lanze für Bordieus Klassenanalyse und berichtete über ihre empirischen Untersuchungen, nach denen Klassengemeinsamkeiten (wenn Klassen so umfassend bestimmt sind wie nach Bordieu) empirisch eine größere Bedeutung als das Geschlecht haben. Sie betrachtete das Geschlecht als „Unterklasse“ (vielleicht gebe ich dies hier viel zu grob wieder, ich empfehle, das genauer nachzulesen). Auf jeden Fall ist aus den Erfahrungen dieser speziellen Gruppe von Menschen zu erfahren, dass es für Frauen ein besonderes Missverhältnis zwischen Leistung und Anerkennung gibt, dass dies ein spezielles gemeinsames Leiden mit sich bringt. Es käme nun darauf an, diesem Leiden eine Stimme zu verleihen und das dadurch gegebene Organisationspotential zu nutzen.

Wichtig fand ich die Erfahrung, die Karin Scherschel (Jena), dass Migrant_innen durch die meisten Raster zur Erfassung von Klassen und Schichten fallen, weil ihre Lage, die durch Titel wie Aufenthaltsrechte gekennzeichnet ist, dort nicht darstellbar ist.

Karl Reitter versuchte zu vermitteln, dass seiner Ansicht nach das Kapitalverhältnis auch in Bezug auf Geschlechter- und andere Herrschaftsverhältnisse das „übergreifende Verhältnis“ ist. In dem oben schon zitierten Text spricht er davon, „das Kapitalverhältnis sei hinsichtlich Unterdrückung und Befreiung das zentrale Verhältnis“. Dies liege, so erklärte er auch heute, an seiner Besonderheit. Und diese Besonderheit besteht vor allem (nicht nur) darin, dass es sich als gesellschaftliches Verhältnis in der Erscheinung als Verhältnis von Dingen gegeneinander geradezu verbirgt.

Dem Kapital ist nicht anzusehen, dass es aus akkumulierter, unbezahlter Mehrarbeit besteht, dass es also auf einem gesellschaftlichen Zeitverhältnis beruht, genauer, dieses Verhältnis ist. Das Resultat der Klassenbeziehung ist in Geldform beliebig akkumulierbar und zudem zu einem anderen Zeitpunkt und an einem anderen Ort wieder so einsetzbar, dass es sich selbst erneut reproduziert.

Reitter verwendet für die Beziehung der Formen der sozialen Herrschaft das Wort „Symbiose“, wobei das Kapital jene Basis ist, die alle anderen Formen so beeinflusst, dass mit dessen Wegfall auch die anderen Formen sich maßgeblich verändern.

… Morgen geht es weiter mit den weiteren Themen…