„Im Weiterschreiten find er Qual und Glück,
Er, unbefriedigt jeden Augenblick!“ (Faust II)

– für T. –

Ausschnitt:

Die Bewegung findet im Bewusstsein statt, auf seinem „Selbsterfahrungstrip“. Es geht um einen Bildungsprozess, bei dem Erfahrungen gemacht werden, um eine „bessere Einsicht über sich und sein Wissen“ zu gewinnen (Römpp 2008: 27)



Ein altes Buch, eine schwere Sprache – aber es ist jenes Buch, in dem Hegel uns menschlichen Individuen und unserer Lebenserfahrung am nächsten ist. Deshalb mögen es wohl Geisteswissenschaftler_innen und ästhetisch oder psychologisch/anthropologisch orientierte Menschen mehr als die „Logik“, die nun wiederum bei Naturwissenschaftler_innen, wenn sie sich schon mal für die Philosophie Hegels interessieren, besser „ankommt“.

Ernst Bloch schätzte dieses Werk sehr:

„Das Werk, womit Hegel zuerst hervortrat, ist sein dunkelstes und tiefsinnigstes geworden. Obwohl es als besonders leicht, nämlich als erzieherisch geplant war, es sollte den Leser vors philosophische Tor führen. Das ist ihm nun freilich nicht gelungen, die Fülle der Gesichte hat es verhindert. dennoch wendet sich das Buch, wenn auch durchaus nicht an den Anfänger, so an jenen anderen Teil des Anfanges, der geistige Jugend heißt.“ (Bloch SO: 59)

Die „Phänomenologie“ hat das Ziel, zur Erkenntnis des „absoluten Wissen“ zu gelangen. Dies soll „alles enthalten […] was für den Menschen als denkendes Wesen in einem radikalen Sinne gewusst werden kann“ (Römpp 2008: 285). Einfacher und mit den Worten von Friedrich Engels gesagt:

Es geht um die „Entwicklung des individuellen Bewußtseins durch seine verschiedenen Stufen, gefaßt als abgekürzte Reproduktion der Stufen, die das Bewußtsein der Menschen geschichtlich durchgemacht“ (MEW 21: 269, vgl. HW 3: 32)

Eine interessante Lesart stellt Georg Lukács (Lukács 1986: 535) vor: Er sieht in der „Phänomenologie“ eine Darstellung der Entwicklung der Menschheit unter drei aufeinander folgenden Gesichtspunkten:

  1. Dem Weg der Erfahrung eines individuellen Bewußtseins
  2. Dem Weg der menschlichen Gattungsgeschichte
  3. Dem Weg der Erkenntnis dieser Geschichte vom Erreichten her.

Er gibt dabei auch den Tipp, Hegels Bestimmung des „geistigen Wesens“ als „ein Wesen, dessen Sein das Tun des einzelnen Individuums und aller Individuen“ ist (HW 3: 310), ernst zu nehmen, und statt des oft eher abschreckenden Wortes „Geist“ „Gattung“ zu lesen (Lukács 1986: 537).

1 Zur Methodik der „Phänomenologie“
1.1 Gegenstand der Philosophie – idealistisch bzw. onto-epistemisch bestimmt

Von der Welt wird dabei nur vorausgesetzt, dass sie verstehbar sei, was letztlich bedeutet, dass sie nichts ist, was sich unserem Erkenntnisvermögen endgültig widersetzen würde. Der Gegenstand der philosophischen Betrachtung ist dann nicht, wie die Welt verfasst ist – dies ist Gegenstand der Einzelwissenschaften. Nein, die Philosophie – zumindest für Hegel und eine große philosophische Tradition – fragt nach dem Verhältnis vom erkennenden Bewusstsein und seinen Gegenständen. Diese Gegenstände sind nicht die „Dinge da draußen“, sondern sie sind das Gewusste, und zwar auf dem jeweiligen Entwicklungsstand der Erkenntnis. Das heißt, die „Sache“, um die es geht, ist nichts außerhalb des Bewußtseins sondern außergedankliches, sondern

„Mit dieser Einführung des Inhalts in die logische Betrachtung sind es nicht die Dinge, sondern die Sache, der Begriff der Dinge, welcher Gegenstand wird.“ (HW 5: 29)

Da es hier also letztlich nur um Vermittlungen innerhalb des Bewusstseins geht, wird diese Art Philosophie auch „idealistisch“ genannt. M.E. hat diese Art der Betrachtung durchaus eine Berechtigung, weil sie berücksichtigt, dass wir tatsächlich niemals von einem Beobachterstandpunkt außerhalb der Welt über sie sprechen, sondern wir wissen von der Welt nur, was wir von ihr wissen. Wir sagen also nichts direkt über die Welt, wie sie wäre, wenn wir sie nicht erkennen würden. Sondern wir sagen etwas über unser erkennendes Verhältnis zu dieser Welt. Und „weil wir etwas über das Verhältnis sagen können, so auch etwas über die Beschaffenheit dessen, was sich verhält“ (Wahsner 2000: 221) – also über uns und die Welt. Dieses verschlungene Verhältnis von uns, unserem Wissen über die Welt und der Welt wird auch als „onto-epistemisch“ bezeichnet. Als Onto-Epistemologie versteht H.-J. Sandkühler „jene epistemische Dialektik, in welcher sich der Prozeß der subjektiven, kognitiven Weltaneignung als widersprüchliche Beziehung zwischen Erfahrung […] und Konstruktion […] entwickelt“ (Sandkühler 1990).

Hegel beschäftigt sich nur mit dem, was im erkennenden Bewußtsein passiert – wobei vorausgesetzt ist, dass das, was da passiert, in Wechselbeziehungen zur äußeren Welt steht. Es betont, dass es ganz wesentlich vom erkennenden und handelnden Subjekt abhängt, wie es der Welt begegnet, was es zu seinem Gegenstand macht.

1.2 Der Weg des natürlichen Bewußtseins…

Wie kommen wir nun zu dem, was wir als denkende, menschliche Wesen wissen können? Wir wollen das Wahre, aber dieses können wir nicht einfach irgendwie ausdrücken, ohne zu sagen, was der Ausdruck bedeutet. Was bedeutet es, einen „Begriff“ von etwas zu haben? Wie hängen „Begriff“ und „Sache“ zusammen? Wie kommt es, dass die höchste Erkenntnis von einem Gegenstand immer bedeutet, ihn als Bewegungszusammenhang seiner dialektischen Widersprüche zu begreifen? Was heißt das für jeweils meine Fragestellung? Auf diese Weise steckt im Ergebnis stets der ganze Prozess des Erkennens mit drin, über alle notwendigen Durchgangsstufen. „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.“ (HW 3: 24) Also müssen wir wohl oder übel die Entwicklung der Erkenntnis selbst vollziehen, wenn wir das Resultat verstehen wollen. Damit könnte ich nun Schluss machen und auf die Originaltexte von Hegel verweisen. Aber ich muss zugeben, dass ich auch Einstiegshilfen benötigt habe und immer wieder benötige, um Hegels Argumente nachvollziehen zu können. Solche Zusammenfassungen sind im Hegelschen Sinne immer „falsch“, weil sie nicht die „ganze Wahrheit“ in ihrer notwendigen Entwicklung nachvollziehen, aber sie helfen vielleicht manchmal über Erkenntnisbarrieren hinüber bzw. geben Motivationen, über das Gelesene noch mal nachzudenken.

Die schon genannte „Wissenschaft der Logik“, die Hegel nach der „Phänomenologie“ ausarbeitete, hat dann nicht mehr Bewusstseinsgestalten zum Gegenstand, sondern beschäftigt sich mit „reinen Denkbestimmungen“ (HW 8: 84). Es geht dort nicht mehr um die Welt/Selbsterkenntnis von Menschen, sondern um die Selbsterkenntnis des „absoluten Geistes“. Ob die „Phänomenologie“ zum System der Wissenschaften von Hegel notwendig hinzugehört, oder nur eine (aus späterer sicht auch verzichtbare) Vorarbeit ist, darüber streiten sich die Experten. Es gibt neben dem unterschiedlichen Thema/Gegenstand der Schriften auch methodische Differenzen, z.B. in der Verwendung der Kategorien „an sich, für sich, an-und-für-sich“, was mitunter Verwirrung stiftet und Verständnisschwierigkeiten zwischen „Phänomenologen“ und „Logikern“ hervorruft. Es ist aber auch möglich, die Phänomenologie als eine Art „Leiter“ hinauf zu den Höhen des Hegelschen Denkens zu verwenden, die vielleicht danach nicht mehr unbedingt gebraucht wird. Auf jeden Fall meinte Hegel:

Es „hat das Individuum das Recht zu fordern, daß die Wissenschaft ihm die Leiter wenigstens zu diesem Standpunkte reiche, ihm in ihm selbst denselben aufzeige.“ (HW 3: 29)

(Quelle: Spencer, Krauze 1996: 56)

1.3 … hin zur Identität von Gegenstand und Begriff, von Wissen und Wahrheit

Eine Besonderheit der Methode der „Phänomenologie des Geistes“ ist es, dass immer unterscheiden wird zwischen dem Standpunkt des Bewusstseins und dem Standpunkt von äußeren Beobachter_innen/Leser_innen, die darüber nachdenken und es beschreiben. Die Bewegung findet aber im Bewusstsein statt, auf seinem „Selbsterfahrungstrip“. Es geht um einen Bildungsprozess, bei dem Erfahrungen gemacht werden, um eine „bessere Einsicht über sich und sein Wissen“ zu gewinnen (Römpp 2008: 27) Das Ziel dabei ist die Aufhebung der Differenz zwischen „Begriff“ (mehr dazu etwas weiter unten) und „Gegenstand“. Die Übereinstimmung zwischen beiden wird auf jeder Entwicklungsstufe geprüft und wenn sie noch nicht realisiert ist, muss weiter gegangen werden.

Normalerweise würden wir denken, dass wir nun betrachten, wie sich das Bewusstsein in einer äußeren Welt verhält und wie es mit den Erfahrungen umgeht. Der Weg von „Faust“ wäre solch ein Selbsterfahrungs-Trip, bei dem sich das Subjekt durch seinen Weg durch die objektive Welt selbst verändert und auch die Welt verändert. Vorausgesetzt ist erst einmal ihr Unterschied, ihre Trennung und im Laufe der Zeit verschlingen sich – im günstigen Fall – Selbst und Welt immer mehr. Das würde bedeuten, dass es einerseits die Welt gibt, so wie sie „an sich“ ist und andererseits sehen wir sie, wie sie „für uns“ erscheint (HW 3: 76). Aufgrund der in 1.1 erläuterten Reduktion der Betrachtung auf den „Gedankenfilm“ im Bewusstsein bei Hegel geht es aber die ganze Zeit explizit nur darum, wie das Bewusstsein selbst sich entwickelt. Es selbst kennt das „An sich“ (noch) nicht; es weiß nicht, wie das Äußere ist. Das weiß nur ein äußerer Beobachter. Wir haben also zwei Standpunkte: Einerseits denjenigen des Bewusstseins selbst, das nur seine eigenen Zustände kennt und andererseits den Standpunkt eines äußeren Beobachters bzw. des Lesers der Phänomenologie (dies macht Hegel nur hier in der „Phänomenologie“).

Das Bewusstsein selbst ist auch in sich differenziert: einerseits in das Bewusstsein von sich selbst und andererseits in das Bewusstsein des Gegenstands. (ebd.: 77) Es sind diese beiden Momente, deren dialektischer Widerstreit die Entwicklung vorantreiben wird. Auf jeder Stufe ist das Bewusstsein des Gegenstands eine Weiterentwicklung aus der früheren Entwicklung her – aber es wird sich zeigen, dass dieses Wissen noch nicht die volle Wahrheit ist. Deshalb muss sich das Wissen verändern und damit auch der Gegenstand. Dass sich im Erkenntnisprozess auch die Gegenstände verändern, klingt dann unglaublich, wenn man sich unter „Gegenstand“ das gegenständliche Ding da draußen in der Welt vorstellt. Dann würde man denken, die ganze Abhandlung beschreibt, wie durch Denken die äußere Welt geschaffen wird. Aber so ist es nicht gemeint. Der Gegenstand ist das, was im Kopf jeweils Gegenstand der Erkenntnis ist. Das kann zuerst „das Ding da vor mir auf dem Schreibtisch“ sein. Später, wenn ich seine verschiedenen Eigenschaften betrachte, ist es „etwas Rundes, Weißes, Henkel Tragendes“ und letztlich wird der Gegenstand für mich zur „Tasse, die dazu hergestellt ist, um Flüssigkeiten hineinzufüllen und zu trinken“. Dasselbe äußere Ding, aber verschiedene Erkenntnis-Gegenstände.

In der „Phänomenologie“ wird das Wechselspiel zwischen Wissen und seinen Gegenständen dargestellt, aber nicht zwischen Gedanken und „Dingen da draußen“. Trotzdem geht es nicht um beliebige Hirngespinste, sondern um Wahrheit! Die Wahrheit ist dann erreicht, wenn der Gegenstand seinem Begriff entspricht. Und was ist nun der Begriff? Es ist keine definitorische Bezeichnung, keine Kategorie, sondern bei Hegel ist im Begriff jene Einheit begriffen, aus der sich alle unterschiedlichen Momente und Aspekte und sogar die Widersprüche der Sache begründen lassen. Anders ausgedrückt: Im Begriff werden jene Bestimmungen erfasst, aus denen sich alle anderen ableiten lassen. Er ist die „geistig reproduzierte Totalität“ (Schlemm 2005: 141). Der Begriff einer Sache ist deshalb auch niemals nur ein Wort, sondern jeweils die ganze in sich systematische Theorie, aus der sich alles Wichtige ergibt für das Sachgebiet. (Zum „Begriff“ in der Logik siehe auch Schlemm 2002).

Wir haben nun in der „Phänomenologie“ eine Argumentationsstruktur, bei der das Bewusstsein sich über jeweils mangelhafte Zwischenstadien, bei denen das Wissen noch keine Wahrheit ist, in Richtung der Wahrheit bewegt – und dass wir als Leser_innen der „Phänomenologie“ dabei zuschauen.

Auf diesem Weg ergibt sich jeweils eine bestimmte Einheit von Bewusstsein über seinen Gegenstand – diesen erreichten Zustand nennt Hegel „Gestalten des Bewußtseins“, (HW 3: 80) bzw. des Geistes.

Jeder Gegenstand ist jeweils für den entsprechenden Bewusstseins-Entwicklungsstand gültig. Aber die Selbstprüfung des Bewussteins wird zeigen, dass dieses Sein-für-das-Bewusstsein, der konkret erreichte Wissensstand, noch nicht die ganze Wahrheit darstellt.

Von außen betrachtet, also für jemanden, der das „An sich“ des Gegenstandes kennt, ergibt sich eine Differenz zwischen „An-sich“ und „Für-das-Bewusstsein“, also „für-sich“. Dem Bewusstsein selbst, das keinen Außenstandpunkt hat, wird das nicht so klar, sondern es erkennt die Differenz an anderen Mängeln des jeweils erreichten Standes, an Widersprüchen. Das Ziel besteht letztlich im Erreichen eines „anundfürsichseiende[n] Wesen[s]“ (HW 3: 325), wenn alles, was „an-sich“ ist, auch gewusst wird.

Letztlich war das Ziel der ganzen Bewegung, das absolute Wissen bzw. der absolute Geist schon immer vorhanden. Aber es soll ja nicht dogmatisch hingestellt und gelernt oder geglaubt werden, sondern es soll in einem immer wieder kritisch hinterfragbaren Selbstbegründungprozess fundiert werden. Sein Inhalt ist nur wahr im Durchlauf der gültigen Argumentationen, er kann nicht geronnen als starres Resultat festgehalten werden. Deshalb beginnen wir mit so wenig wie möglich – der abstrakten sinnlichen Gewissheit – ,und verfolgen den Weg der in sich schlüssigen Entwicklung nach, ohne Fremdes hinzuzutun.

(Quelle: Spencer, Krauze 1996: 57)

„Am Ende wird also erst erkannt, was der Anfang der Geschichte und ihr Fortgang in Wahrheit ist.“ (Römpp 2008: 67).
Für das Selbstbewusstsein etwa gilt:

„Als Selbstbewusstsein war das Bewusstsein immer auch schon auf explizites Sichselbstwissen hin angelegt. Dazu kommt es aber erst auf dem geschichtlichen Weg seiner Erfahrung in der Auseinandersetzung mit den ihm gegenüber stehenden Dingen, die es „unbewusst“ als die seinen weiß.“ (ebd.)


Morgen dann mehr zum Inhalt…