Da ich mich derzeit viel mit Dialektik beschäftige, landete ich irgendwann beim Surfen bei Texten von Jürgen Ritsert, von dem ich auch schon einiges im Bücherschrank habe. Der Titel eines recht neuen Buches zog mich dann magisch an: Dialektische Argumentationsfiguren in Philosophie und Soziologie. Hegels Logik und die Sozialwissenschaften.

Das klingt schon wie aus einer anderen Zeit – wer traut sich denn heute noch, über so ein abgebügeltes Thema zu schreiben?

Es ist Jürgen Ritsert, emeritierter Soziologieprofessor in Frankfurt am Main. Sein Buch hätte ich mir vor 20 Jahren gewünscht, als ich mich in die Nicht-DDR-Philosophie einarbeiten musste, aber nicht von vornherein die Dialektik aufgeben wollte, nur weil sie nicht mehr die herrschende Philosophie war.

1.

Im ersten Teil seines Buches, das nach den Scripten von aktuellen Vorlesungen erarbeitet wurde, beschreibt Ritsert grundlegende Merkmale von Argumentationsfiguren, die als dialektisch gelten. Dabei informiert er über die verwendeten fachlichen Bezüge in einer Weise, wie man es sich für das Selbststudium nicht besser wünschen kann.

1.1.

Ritsert tastet sich an die Merkmale der Argumentationsfigur „Dialektik“ durch das Aufzählen und die Kritik möglicher Kandidaten wie „Der Widerspruch und die Entfaltungsdialektik“ (17 f.), der „Chiasmus“ (19), „Analyse rückgekoppelter Prozesse“ (22 f.), „strikte Antinomie“ (26 f.) vor. Diese werden gleichzeitig genutzt, um an Debatten und Kritiken zu erinnern, was gleichzeitig in den Meinungsstreit zu diesem Thema einführt. Dies aber auf eine Weise, die kaum überfordernd oder überlastend wirkt. Sehr symphatisch ist mir seine grundsätzlich achtungsvolle Haltung, die sich wohltuend von reißerischer Besserwisserei und fehlinterpretierenden Verrissen unterscheidet.

„Ach, wenn sich alles immer nur so einfach abfertigen ließe, was kluge Leute vormals so intensiv beschäftigt hat! Diesen Mut bringe ich nicht auf.“ (34)

Für mich bemerkenswert ist die Ablehnung Ritserts gegenüber einer reinen „Entfaltungsdialektik“, die er dann am Werk sieht, wenn versucht wird, aus dem einen Anfang alles Folgende wie aus einer einzigen Keimzelle abzuleiten (wir erkennen das sicher wieder!). Demgegenüber vertritt er die Position, dass der jeweilige Übergang als unsere „konstruktiv-hermeneutische Zutat“ (19) geschieht.

Gegen die angebliche „dialektische Triade“ von „Thesis, Antithesis und Syntheses“ bringt er eine nette Geschichte ins Spiel:

„Wenn ich mich recht erinnere und nicht sehr täusche, gab es mal jemanden, der einen Preis für den Nachweis einer ausdrücklichen Erwähnung des Dreiteilers durch Hegel als Grundlage seines Denkens ausgesetzt hat. Abgeholt wurde der Pokal bislang wohl noch nicht.“ (22)

Ich weiß zwar nicht, wer den Preis ausgeschrieben hat, aber kann ich mir den Pokal abholen, wenn ich ergänze, dass Hegel am Beispiel von Jacobi sich sogar ausdrücklich gegen das Denken in einer solchen äußeren Synthesis ausgesprochen hat? 😉

„ …weil der Synthesis der Sinn von einem äußerlichen Zusammenbringen äußerlich gegeneinander Vorhandener am nächsten liegt, ist mit Recht der Name Synthesis, synthetische Einheit außer Gebrauch gesetzt worden“ (Wissenschaft der Logik, Bd. I: 100)

Insgesamt lassen sich an dieser Stelle auch alle eigenen Vorstellungen von Dialektik, die sich im Laufe der Zeit so eingestellt haben, einer kritischen Prüfung unterziehen. Jürgen Ritsert selbst ist sich dessen bewusst, dass jedes begründende Argumentieren, also auch seines, nicht automatisch zur Überzeugung führt (10). Aber er setzt natürlich die ganze Erfahrung seines belehrten und lehrenden Lebens ein, um möglichst typische Denkmuster aufzugreifen und zu behandeln.

1.2.

Die Grundmerkmale einer dialektischen Argumentationsfigur, die Ritsert selbst vertritt, werden diesen vorher dargestellten mangelhaften Vorschlägen etwas unvermittelt entgegen gesetzt. Er unterscheidet dabei einen syntaktischen, einen semantischen und einen pragmatischen Aspekt. Die Schlüsselsemantik sieht er in der Selbstbeziehung (Selbstreferenz).

„Der Kreislauf bzw. die Spirale bedeutet ihre Schlüsselmetapher. Prägend ist jedoch die Beziehung von A auf sich durch die Beziehung zu mindestens einem Anderen B, das bis zum strikten Gegensatz von A unterschieden sein kann.“ (33)

Daraus erklärt es sich auch, dass selbstbezügliche Prozesse aus der Realität selbst den prägenden Gegenstand der Dialektik darstellen (28).

1.3.

Nach dieser Einführung geht’s im Kapitel „Hegel kompakt“ (34 ff.) im Galopp einmal durch die Hegelsche Dialektik. Dabei listet Ritsert wichtige Schlüsselbegriffe auf und erklärt sie, wobei aufgrund der nötigen Kürze keine wirklich dialektische Her- und Ableitung der Begriffe erfolgt. Aufgrund der Bedeutung der Selbstbeziehung erweist sich der „Geist“ als „Dreh- und Angelpunkt der Philosophie“ (34). Er ist es der „sich selbst, mit sich selbst“ vermittelt. Dem entspricht auf der individuellen Ebene das Selbstbewusstsein als Wissen um sich selbst.

Als ein Fazit fasst Ritsert zusammen:

„Eine Begriffsstruktur im Hegelschen Sinne setzt reflexive Prozesse voraus, wobei die Konstellation ihrer Momente der logischen Struktur der Vermittlung als Gleichzeitigkeit von Einschluss und Ausschluss (logisch und/oder realiter!) entspricht. Ökonomische Reproduktionsvorgänge sowie autopoietische Prozesse sind dem in der Wirklichkeit strukturisomorph.“ (40)

Die Dialektik betrifft also insgesamt nur Gegenstände (nicht dinglich zu verstehen, sondern im Sinne von Erkenntnisgegenständen, was auch Prozesse und insbesondere Verhältnisse meint), die selbstreflexiv sind, was für Hegel auch bedeutet, dass die dem Grundmuster der Vernunft entsprechen. Dazu stellt Ritsert fest:

„Dass Verstand und Vernunft in der Welt sind, impliziert nicht, dass die Verhältnisse durchweg verständig oder vernünftig sind.“ (41)

Insgesamt werden einige Vorurteile und Missverständnisse zu Hegels Philosophie, so zur Kreislaufmetapher (37) ausgeräumt. Ich las dieses Kapitel durchaus mit Gewinn, möchte aber darauf aufmerksam machen, dass sich aus der Art der Darstellung bei Ritsert die Methode des dialektischen Argumentierens überhaupt nicht erschließen lässt. Dazu muss wohl der Meister (Hegel) selbst ausgiebig studiert werden und wer dies dann getan hat, wird meine Kritik an dieser Stelle sicher verstehen.

2.

Dieses Manko wird im zweiten Teil etwas abgemildert, in dem Ritsert Argumente aus der Hegelschen philosophischen Logik mit Beispielen aus der Soziologie untersetzt. Hier verfolgt er Hegels Argumentationsgang – immer im Kontrast zu Autoren, die ähnliche Aspekte anders behandeln. Ausführlich referiert er dann soziologische Konzepte, die jeweils dem Argumentationsmuster der gerade erreichten Stufe der Logik bei Hegel entsprechen. (Seinslogik: Parsons, Luhmann, Simmel; Wesenslogik: u.a. Weber, Habermas; Begriffslogik: Marx). Hier muss ich meine Ausführungen erst mal beenden, denn ich habe im Moment keine Zeit, an dieser Stelle weiter zu lesen. Ich möchte parallel dazu z.B. das Buch „Gesellschaft, Einführung in den Grundbegriff der Soziologie“ von Ritsert lesen (ich habe die Ausgabe von 1988). Bei dieser Gelegenheit will ich auch die Schrift Marxistische Gesellschaftsdialektik oder „Systemtheorie der Gesellschaft“? (Heidtmann u.a. 1977) noch mal mit in Betracht ziehen. Als aktuelle Auseinandersetzung fand ich gerade noch den Text Heinz Dieterichs »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« – verhaftet im Systemdenken und der Sphäre der Zirkulation. Das ist aber alles schon wieder ein neues Projekt, für das ich erst Zeit finden muss.

Auf jeden Fall möchte ich diese Lektüre der „dialektischen Argumentationsfiguren“ unbedingt weiter empfehlen. Diese ganze Fülle an Informationen, Wissen und philosophischer wie soziologischer Kultur wird wohl in kein Bacherlor-Studium mehr hineinpassen und in keinen Karriereplan der weiterführenden Masterausbildung. Umso wichtiger sind solche Schriften für jene, die sich trotzdem die Zeit nehmen!

Literatur:

Ritsert, Jürgen (2008): Dialektische Argumentationsfiguren in Philosophie und Soziologie. Hegels Logik und die Sozialwissenschaften. Münster: Verl.-Haus Monsenstein und Vannerdat.

Graubner, Pablo: Heinz Dieterichs »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« – verhaftet im Systemdenken und der Sphäre der Zirkulation

Heidtmann, B.; Richter, G.; Schnauß, G.;Warnke C. (1977): Marxistische Gesellschaftsdialektik oder „Systemtheorie der Gesellschaft“? Berlin: Akademie-Verlag.