Innerhalb eines Wochenendseminars zum Thema „Herrschaftskritik“ war ich am zweiten Adventswochenende von der Grünen Jugend Niedersachsen eingeladen worden, einen Workshop zum Thema „Der soziale Mensch“ zu gestalten. Dieser Workshop sollte den Auftakt der Veranstaltung bilden, was mir ganz recht war, weil ich mir natürlich erhoffte, dass mein Input dann noch weiter inhaltlich verwendet werden kann.
Um nicht nur selber zu reden, sondern die Beteiligten selbst mit in das Thema hereinzuholen, hatten sich Katja, die mich von der Zukunftswerkstatt Jena begleitete und unterstützte, und ich überlegt, den Workshop mit einigen Fragen zu beginnen, den die Teilnehmenden in einem Brainstorming mit eigenen Gedanken und Erfahrungen füllen können. Ich muss zugeben, dass die Fragestellung natürlich (wie eigentlich immer) schon einiges an Orientierung vorgibt. Indem ich zuerst fragte: „Woran zeigt es sich, dass Menschen soziale Wesen sind?“ und erst als zweites „Wann verhalten sich Menschen unsozial?“, unterstellte ich quasi, DASS Menschen soziale Wesen sind und sich nur manchmal unsozial verhalten. Das ist in manchen Diskussionen nicht voraus gesetzt. Wie oft wird gesagt:“ Ach, die Menschen sind leider nicht so sozial/gut, dass sie sich friedliche/ökolgosicher/sozialer… verhalten könnten“. Wie oft wird enttäuscht oder auch zynisch festgestellt, die „Natur des Menschen“ passe durchaus zur unsozialen kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft…
Hier jedoch war ziemlich unwidersprochen, DASS Menschen soziale Wesen sind. Auf die erste Frage („Woran zeigt es sich, dass Menschen soziale Wesen sind?“) wurden als Antwort Beispiele genannt, aber auch grundsätzliche Überlegungen und auch „Negativbeweise“ wie das Leiden unter der Einsamkeit wurden aufgeführt. Hier alle Notizen (Abschrift von den Zetteln):
- Vokü (Zusammenarbeit und Orga)
- Liebe
- Gemeinsam Projekte durchführen
- „Sippenleben“/Gruppenleben (seit historisch frühesten Zeiten)
- Fragen, wie es anderen geht,
- Freiwilliges Engagement für andere
- Familien
- Theorien (d.h. Bewusstsein bilden, reflektiert leben)
- Isolationshaft: „keine Kontakte zu anderen Menschen“ wird als Bestrafung gefaßt. Die Verhinderung von sozialer Interaktion führt also zu Leid.
- Daran, dass sie überhaupt miteinander agieren, also eine Gemeinschaft bilden können
- Gefühle (Einsamkeit, Liebe, Zuneigung)
- Verhalten/Normen sind dementsprechend
- Empathie
- Indem man respektvoll miteinander umgeht
- Zusammen Probleme lösen
- Mitgefühl
- Liebe,
- Weltweites Vorkommen von Begriffen wie Gerechtigkeit, Allgemei nwerden Tugenden in Bezug auf soziales Verhalten bestimmt
- (Arbeits)Teilung
- Austauschbedürfnis
- Einsamkeit
- Probleme können gemeinschaftlich angegangen werden
- Prägung/Kultur als Kontra zum Biologismus
- Daran, dass sie nichts denken können, das nicht Effekte auf die Gesellschaft haben würde
- Leben in Gemeinschaften
- Gruppenbildung
- Verlangen nach Gesellschaft
- Zeigt sich u.a. in der Not
Bei der zweiten Frage („Wann verhalten sich Menschen unsozial?“) stellte es sich heraus, dass die Frage mindestens zweideutig war. Das „Wann“ ist natürlich nicht ganz eindeutig. Die Antworten zeigen, dass einerseits Beschreibungen für unsoziales Verhalten gegeben wurden und andererseits Bedingungen, die unsoziales Verhalten nahe legen bzw. begünstigen. Ich notiere die Abschriften hier dementsprechend sortiert:
a) Beschreibungen:
- Egoismus
- Sozialdarwinistisches Verhalten
- FDP
- Menschen aus dem eigenen persönlichen Umfeld werden bevorzugt
- Wenn sie nur für den eigenen Nutzen handeln
- Intoleranz
- Unreflektierter Individualismus
- Lebensmittelspekulation
- Gegen andere gerichtet
b) Unter welchen Bedingungen verhalten sie sich so
- Vor dem Fressen
- Im Kapitalismus
- Wenn keiner guckt
- Nie
- Wohlstandsmachtgier
- Konkurrenz ist unsozial
- Überlebenskampf
- Wenn sie sich aufgrund ihrer Sozialisation in anderen nicht selbst erkennen
- Im Kapitalismus
- Wenn die Gesellschaft gegeneinander ausgerichtet ist
- Im Kapitalismus
- Eigener Überlebenskampf
- Wenns um die eigenen Bedürfnisse geht und Güterknappheit herrscht (z.B. Studienplätze)
- Bei Stress/Bedrohung
Leider gelang es mir nicht, diese Beiträge in den darauf folgenden Vortrag von mir einzubinden. Erstens hab ich sie optisch nicht gesehen (es war wegen dem Beamer dort zu dunkel), andererseits glaubte ich, nicht die Zeit zu haben, um Schwerpunkte zu bilden, auf die ich leichter hätte eingehen können. Ich hoffe, dass die Beteiligten das Ganze in ihrem Kopf trotzdem zusammen gebracht haben.
Zu meinem Vortrag und der dritten Frage gibt’s hier mehr…
Dezember 4, 2011 at 9:14 pm
Die 2. Frage ist in der Tat falsch formuliert: statt „Wann“ (rein zeitlicher Bezug) sollte „Unter welchen Bedingungen“ gefragt werden
Dezember 6, 2011 at 10:00 am
Ja, das hab ich auch gemerkt – aber erst danach. Letztlich war das Ergebnis aber auch so interessant. Sollte ich die Gelegenheit haben, das in ähnlicher Weise noch mal zu machen, ändere ich das auch. Allerdings lasse ich mir meistens bei jeder Veranstaltung was ganz Neues einfallen (auch abgestimmt auf das, was ich von dem Umfeld dort weiß) – so mache ich immer wieder neue „Fehler“ 😉
Dezember 4, 2011 at 9:38 pm
Was ist Herrschaft?
Ist Herrschaft (a priori) sozial oder unsozial oder asozial oder antisozial?
NB: Was bedeutet es, dass es (mindestens)3 Negationen von „sozial“ gibt?!
Dezember 6, 2011 at 10:05 am
Im Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen „sozial“ und „gesellschaftlich“ (in meinem Kommentar 5) bezieht sich „sozial“ ja eher auf die menschlichen Beziehungen „unterhalb“ der Gesamtgesellschaft. Sie sind alle Formen innerhalb des Gesellschaftlichen, bezeichnen eher Verhaltensweisen von Individuen als Strukturen. Inwieweit un-/a-/antisoziale Verhaltensweisen etwas mit der gesellschaftlichen Rahmenstruktur zu tun haben, ist eine spannende Frage…
Die Kritische Psychologie würde es ablehnen, das Verhalten anderer als „un-/a-/antisozial“ zu beurteilen, sondern nach Gründen suchen (wie im Blogbeitrag https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2011/11/21/begruendungsdiskurs/ geschildert), warum es für den Menschen (aus seiner Sicht guten) Sinn macht, sich so oder so zu verhalten.
Dezember 4, 2011 at 11:35 pm
Interessant wäre auch, nach Beispielen eines Füreinanders und eines Miteinanders zu fragen – als verschiedene Formen sozial zu sein.
Gruß hh
Dezember 6, 2011 at 9:58 am
Ja, leider mache ich nur selten Veranstaltungen zu diesem Thema und meist nur allgemeine Einführungen, wo tiefergehende Feinheiten leider kaum einzubauen sind. Das müssten wir halt öfter untereinander machen. Oder doch irgendwie online-kooperativ? Hab grad keine Idee für ein Online-Brainstormung, sollte aber möglich sein…
Dezember 5, 2011 at 9:06 pm
der Dativ ist dem Genitiv sein Tod 😉
Dezember 5, 2011 at 10:25 pm
🙂
Hatte an den Widerspuch zwischen der Gesellschaftlichkeit der Produktionsbeziehungen und der privaten Aneignungsweise gedacht. Das Problem für die Perspektive einer kollektiven Selbstbeherrschung ist, dass das Soziale weitgehend Privatengelegenheit ist.
Dezember 6, 2011 at 9:56 am
Ich muss ja zugeben, dass die Bezeichnung „sozial“ hier gerade von vornherein eher Verwirrung stiftet. Das kam durch die Festlegung des Titels des Workshops durch die Veranstalter, was sie auch trotz meiner Bitte bis zuletzt in der Einladung nicht verändert hatten. Also nahm ich das (unverändert) auf und ging dann persönlich im Vortrag darauf ein.
Ich selbst unterscheide zwischen dem Sozialen (was es auch bei Tieren gibt) und dem Gesellschaftlichen (nur für Menschen). Ausführlich gibt es noch einige wichtige Unterscheidungen auf einer Seite zur Kritischen Psychologie (http://www.thur.de/philo/kp/naturmensch.htm).
Trotzdem sind alle Assoziationen, die in diesem Zusammenhang kommen, ja sehr interessant und bilden zum Thema letztlich wichtige Ergänzungen. Der zuletzt genannte Widerspruch „zwischen der Gesellschaftlichkeit der Produktionsbeziehungen und der privaten Aneignungsweise“ verwendet auch einen speziellen „Gesellschafts“-Begriff. Ich mag die Trennung zwischen „Gesellschaftlich“ und „privat“ nicht – letztlich ist die private Aneignungsform (und auch das private Eigentum) eine spezielle Form der Gesellschaftlichkeit, wie sie sich halt im Kapitalismus ausbildet. Das Private ist ja nur eine Form des Gesellschaftlichen und nicht wirklich „nicht-gesellschaftlich“.
Dezember 6, 2011 at 10:11 am
[…] können wir uns an die beiden ersten Fragen erinnern!!!! (Leider hab ich diese Bemerkung im Vortrag selbst nicht gemacht… […]
Dezember 6, 2011 at 11:55 am
„Ich selbst unterscheide zwischen dem Sozialen (was es auch bei Tieren gibt) und dem Gesellschaftlichen (nur für Menschen).“
Kann ich so nicht wirklich nachvollziehen. Für mich sind das nur zwei Wörter für das Gleiche nämlich dass es die mehr oder minder notwendigen Beziehungen innerhalb einer gruppe Lebewesen geht. Warum sollte das mir irgendwelcher tieferen Bedeutung aufgeladen werden.
„Der zuletzt genannte Widerspruch „zwischen der Gesellschaftlichkeit der Produktionsbeziehungen und der privaten Aneignungsweise“ …
.. also den Dreh- und Angelpunkt der Marx/Engelschen Perspektive
„… verwendet auch einen speziellen „Gesellschafts“-Begriff.
Sehe ich nicht so.
„Ich mag die Trennung zwischen „Gesellschaftlich“ und „privat“ nicht – letztlich ist die private Aneignungsform (und auch das private Eigentum) eine spezielle Form der Gesellschaftlichkeit,
Das ist wahr, es ist aber auch eine spezielle Form der Ermöglichung und Begrenzung sozialer Beziehungen (Ausbeutungsbeziehungen, Abhängigkeitsbeziehungen, Reflektionsbeziehungen, Rechtfertigungsbeziehungen usw.), die in bestimmeter Weise den Umfang und die Qualität der Einbeziehung von Subjekten der Gesellschaft (des globalen Füreinanders ) bei der Entscheidung über Zecke, Methoden, Kosten usw. der Produktion begrenzt. Was vielleicht inzwischen nicht nur nicht mehr zeitgemß ist, sondern im Prinzip auch überwindbar geworden ist.
Gruß hh
Dezember 6, 2011 at 12:31 pm
Warum soll es eine überflüssige „irgendwelche tiefere Bedeutung“ sein, zwischen Sozialverhalten (das es auch bei Tieren gibt) und Gesellschaftlichkeit (die es nur bei Menschen gibt) zu unterscheiden?
Natürlich kann es jeder die Wortverwendung halten, wie er es mag – aber ich bitte darum, meine Wortverwendung dann auch bei Interpretationen zu berücksichtigen.
Dezember 6, 2011 at 5:20 pm
Sorry, hatte das kurz vor`m Aufbruch geschrieben. Hätte mehr Sorgfalt bei der Wahl und beimTippen der Wörter an den Tag leben müssen. Ich meinte folgendes:
Es ist gewiss sinnvoll zu unterscheiden zwischen dem Sozialen bei Tieren (und da noch einmal innerhalb der einzelnen Spezies) und dem der Menschen. Man kann oder sollte vielleicht auch – mit Engels – den Prozess der Menschwerdung als etwas Unabgeschlossen sehen und in der bisherigen Geschichte nur die Vorgeschichte der Menschheit, weil die Menschheit sich erst als eine solche formieren müssste. Nur warum soll ich das Soziale bei Ameisen. Ameisenbären, Blau-oder Kohlmeisen, Löwen oder Schimpansen „sozial“ und das der Menschen statt sozial „gesellschaftlich“ nennen?
Dezember 6, 2011 at 7:29 pm
„Nur warum soll ich das Soziale bei Ameisen. Ameisenbären, Blau-oder Kohlmeisen, Löwen oder Schimpansen „sozial“ und das der Menschen statt sozial „gesellschaftlich“ nennen?“
Das „nur-„Soziale kann ich auch bei Menschen „sozial“ nennen, ich brauche zur Kennzeichnung des Menschlichen aber zusätzlich das „Gesellschaftliche“.
Weil Tiere nicht über gesellschaftliche Arbeit ihre Lebensbedingungen selbst produzieren. Oder wie Holzkamp sagt: Es geht um die Kennzeichnung des spezfisch Menschlichen: die „kollektive vergegenständlichende Naturveränderung und Kontrolle von Naturkräften zur vorsorgenden Verfügung über die gemeinsamen Lebensbedingungen“ (Holzkamp, S. 176f.). Das ist im „Sozialen“ gerade noch nicht gefasst.
Anders herum kann man aber Tieren auch nicht jegliches Sozialverhalten absprechen und so tun, als würden sie irgendwie „nur“ biologische Wesen sein. Deshalb macht es für mich unbedingt Sinn, die Einheit und den Unterschied von Tieren und Menschen mit den beiden Begriffen „Soziales“ und „Gesellschaftliches“ zu erfassen.
Manchmal erscheint einiges als unnötige Haarspalterei, daber das sind dann oft Antworten auf Fragestellungen, die diejenigen, die das nicht verstehen, noch gar nicht haben. Der Unterscheidung von „Sozialem“ und „Gesellschaftlichem“ liegt genau das eben Genannte zugrunde.
Dezember 6, 2011 at 9:50 pm
Ich sehe deine Unterscheidung nicht als Haarspalterei sondern als Ringen um geeignete Mittel zum energiesparenden Begreifen, was ich ganz grundsätzlich sehr schätze. (Ist ja auch ein sehr sozialer Impuls .-).)
Mein Problem mit dem von dir gewählten sprachlichen Mittel der Unterscheidung ist, dass in der Alltagssprache eher das Wort „sozial“ eine normativ „aufgeladene“ Bedeutung hat wenns denn um Menschen geht. Das kam ja auch in dem Brainstorming zum Ausdruck.
Das zeigt auch, dass wir durchaus in der Lage sind, Begriffen je nach Kontext andere Bedeutungen zu geben. Bei Tieren steht das Wort „sozial“ eher für den bloßen Sachverhalt des Miteinander-Verbunden-Seins oder Füreinader-Da-Seins, auch wenns einem recht mächtigen Bio-Programm folgt. Und je mehr subjektive Wahlmöglichkeiten, man könnte sagen, je mehr Erkenntnis guter und schlecher Früchte des eigenen Tuns 🙂 ins Spiel kommen, desto mehr bekommt das Wort „sozial“ den Klang des Ethisch-Wertvollen bzw. Gewinns an (Mit-)Menschlichkeit. Während „gesellschaftlich“ eher neutral als bloßer Sachverhalt des Miteinander-Verbunden-Seins oder Füreinander-Da-Seins gesehen wird
Das sehe ich auch bei der Bemerkung von Marx über den Widerspruch des gesellschaftlichen Charakters kapitalistischer Produktion und der privaten (also nicht unbedingt sozial, das heißt, über den abgekapselten Bereich hinaus zu rechtfertigenden) Aneignung der produzierten Nutzensspotenziale. Es steckt in so fern eine normative Bestimmung drin, als Marx bei der spezifisch menschlichen Gesellschaftlichkeit das von dir oben mit dem Holzkamp-Zital benannte Element gegeben sieht, also das zielbewusste, d.h.planvolle Herstellen eines Nutzens (für andere Menschen).
Gruß hh
Dezember 6, 2011 at 9:58 pm
Bei Garrits „Tragik der Allmende“ ist es im Übrigen genau das Missverständnis,
dass die private (voneinander abgekapselte, voreinander nicht zu
rechtfertigende) Aneignung nur formal „gemeinschaftlicher“ Ressourcen als Beleg
für die Unmöglichkeit gemeineigentümlicher Produktionsverhältnisse genommen wird.
Was auch ein Hinweis darauf ist, dass mehr über Gemeinschaftlichkeit, (z.B. auch
Weltgemeinschaftlichkeit), als eine besondere Weise sozial zu sein, gesprochen
werden sollte und es eine lohne Aufgabe wäre, Vergemeinschaftung vom Muff
reaktionärer, repressiver Zwangsgemeinschaften zu befreien im Sinne von „mehr
(Öko-)Kommunismus wagen ;-)“
Gruß hh