Meinen Vortrag beim Workshop in Göttingen möchte ich hier nicht vollständig verschriftlichen, sondern nur einige Stichpunkte daraus machen. Es war eine Kurz-Kurz-Fassung von vielem, was ich schon oft zum Themenkomplex „Kritische Psychologie“ geschrieben und vorgetragen habe. Es gibt hier lediglich Stichpunkte:

Ausgangspunkt: Unterscheidung: Außenstandpunkt/“Gottesauge“-Perspektive („wertfreie“ Soziologie, Psychologie als „Kontrollwissenschaft“) versus Subjektstandpunkt (Eingreifende Sozialforschung, Kritische Psychologie).

Beziehung Individuum-Gesellschaft verändert sich historisch: während die gesellschaftlichen Anforderungen an das einzelne Individuum in vorkapitalistischen Zeiten durch direkte persönliche Machtbeziehungen vermittelt waren (Obrigkeit, Untertanen), wandelte sich die Herrschaftsform im Kapitalismus: hier „herrscht“ der Kapitalakkumulationszwang als unpersönliche Macht, die herrschafts/machtausübenden Menschen sind letztlich auch von „versachlichten“ Vorgaben beherrscht. Ergänzungen danach:

  • Zu dieser Versachlichung der in Waren verdinglichten sozialen Beziehungen (nach Marx) gab es ein Seminar am nächsten Tag (von der Gruppe 180°).
  • Über die Tatsache, dass Macht seit dem Frühkapitalismus nicht von Menschen über andere Menschen ausgeübt wird, sondern sich durch Menschen hindurch realisiert, sprach dann heute Lorenz, der sich dabei auf die Texte von Michel Foucault stützte.

In dieser Gesellschaftsform (Kapitalismus) setzte sich weitgehend ein Menschenbild durch, das davon ausgeht, dass menschliche Individuuen letztlich voneinander getrennte Wesen sind, die erst „nachträglich“ „sozialisiert“ werden. Also zuerst das Individuum, danach die Vergesellschaftung (durch Staatenbildung…).

  • Auch dieses Thema streifte Lorenz: Die konkrete Art und Weise, wie Menschen sich individualisieren, hängt stark von den Anforderungen der Gesellschaft ab. Im Kapitalismus, in dem disziplinierte Arbeiter und Soldaten gebraucht werden, entstehen Institutionen, in denen die Menschen genau so „gemacht werden“, wie sie gebraucht werden. Foucault nennt das die „Produktivität“ dieser Machtausübung. (Es wird nichts weg-unterdrückt (oder wenigstens nicht nur) – sondern die konkrete Weise der Individualität entsteht erst dadurch.) Im Kapitalismus herrscht dann tatsächlich (wenigstens in gewissem Sinne) eine gegeneinander isolierte Individualität vor, das die entsprechende bürgerliche Soziologie nur abbildet.

Marx kritisierte dieses Menschenbild und die damit verbundene Vorstellung von Freiheit, wo sich die Freiheitssphäre eines Menschen GEGEN jene der anderen definiert („meine Freiheit geht so weit, dass sie deine nicht verletzt und umgekehrt“).

Jetzt haltet alle, die ihr das lest, mal kurz inne: Habt ihr gegen diese Freiheitsbestimmung was oder ist die ziemlich gut?

— innehalten —— innehalten —

Jetzt können wir uns an die beiden ersten Fragen erinnern!!!! (Leider hab ich diese Bemerkung im Vortrag selbst nicht gemacht… )

Okay, nun weiter… ich erkläre nun, dass einzelne Menschen einerseits Objekte sind, insoweit ihre Art und Weise von Individualität durch die Gesellschaft, in die sie hineingeboren werden (bzw. die darin befindlichen Institutionen) stark bestimmt ist. Andererseits aber – und darauf kommt es mir an- werden genau diese Institutionen, bzw. die Gesellschaft durch meine bzw. unsere gemeinsame Tätigkeit überhaupt erst entstehen. Wir sind es, die als Menschen insgesamt die Bedingungen unseres Lebens immer wieder neu erzeugen (und nicht wie Tiere nur nutzen). Die Subjektivität der Menschen ist dadurch bestimmt, dass Menschen (und jeder Mensch durch sein Menschsein mit, unabhängig, wie das konkret für ihn aussieht) ihre Lebensbedingungen selbst herstellen.

  • Das unterscheidet sich stark von dem, was Foucault und auch die wertkritische Marxschule über „Subjektivität“ sagen.
  • Wichtig ist es insb. auch im Entstehungskontext der „Kritischen Psychologie“: In der Kontrollwissenschafts-Psychologie werden Menschen in einem „Setting“ unter Bedingungen gesetzt, innerhalb derer sie dann auf Vorgaben reagieren und das wird dann beobachtet/protokolliert/ausgewertet. Die Subjektivität im oben genannten Sinne wird dabei systematisch verfehlt, denn die würde auch die Möglichkeit offen lassen müssen, dass Menschen mit diesem Bedingungen-Setzen nicht einverstanden sind und eigene Bedingungen setzen (das Experiment verlassen). Solche Menschen fallen von vornherein aus der Auswertung heraus, diese Art der Subjektivität wird im Erkenntnisprozess abgeschnitten.

Wir kommen damit zu der These, dass Menschen neben der Möglichkeit, das Gegebene (Rahmenbedingungen, ob im Experiment oder in der Gesamtgesellschaft) hinzunehmen auch immer wenigstens die Möglichkeit haben, über das Gegebene hinaus zu denken, zu wollen und auch zu handeln. Zitate von Fichte und Sartre zeigen, wie verbreitet dies ist – die eigene Erfahrung ist ebenfalls voll davon, nicht erst seit dem „Arabischen Frühling“.

In der „Kritischen Psychologie“ wird für zwei Verhaltenstendenzen in dieser Hinsicht ein Begriffspaar gebildet, das uns helfen soll, das eigene Verhalten besser zu strukturieren (nicht das Verhalten anderer zu bewerten!). Es macht durchaus oft Sinn, sich auf die Möglichkeiten innerhalb der Rahmenbedingungen einzuschränken, die „zweite Möglichkeit“ nicht anzustreben oder gar zu verleugnen, dass es sie geben könnte. Die Kritische Psychologie urteilt dieses Verhalten nicht ab, will aber deutlich machen, dass es die Zweite Möglichkeit gibt: die Rahmenbedingungen in Frage stellen und letztlich, wenn es nötig ist, zu verändern.

Nach einem kleinen logischen Sprung (der fällt mir jetzt erst auf, ich hoffe, beim Sprechen habe ich die Übergänge hinbekommen) kommen wir nun zu der Frage, was der Subjektstandpunkt für den Umgang miteinander in Gruppen bedeuten kann.

Der Subjektstandpunkt bedeutet (dies habe ich leider nicht klar so erläutert), dass nicht einige Privilegierte sich ein Bild über andere machen, sondern dass es um die Sicht jedes Subjekts selbst geht, um eine Sichtweise des „je ich“. Es geht um die Welt „wie ich sie jeweils erfahre“, was sie für mich bedeutet und diese Bedeutung für je mich ist niemals eindeutig durch die vorgegebenen Bedingungen determiniert. Dabei ist das Tun und Lassen der Menschen auch nicht völlig beliebig, sondern die Menschen haben je für sich durchaus Gründe. Sie handeln dann nicht bedingt, sondern begründet und über diese Gründe können sie natürlich auch miteinander sprechen und auch darüber, warum welche Bedingungen für sie welche Bedeutungen haben…

Wir kommen hier zu einem weiteren Punkt, den ich der Kürze zuliebe gekürzt habe, der aber wohl doch wichtig ist: Es geht hier gerade nicht um die übliche Ableitung: „Bedingungen wirken auf das Individuum ein und bringen es zum entsprechenden Handeln“. Sondern für Individuen sind die Bedingungen lediglich Prämissen für die je spezifische Bedeutung für genau dieses Individuum. Dass ich übermorgen wieder zur Bewerbungstrainingsmaßnahme des Arbeitsamts gehe, kann für mich bedeuten, dass ich mich freue endlich zu lernen, wie man sich im Bewerbungsgespräch richtig hinsetzt. Es kann aber auch bedeuten, dass ich das als nur notgedrungen über mich ergehen lasse und mich im Rest der Freizeit für gesellschaftliche Verhältnisse einsetze, in denen es so einen Selbstvermarkungszwang für die Arbeitskraft gar nicht mehr gibt.

Zurück zu den versprochenen Gruppen (das erwies sich dann auch später wohl als die wichtigste Erkenntnis): Man kann zwei Trends in den gegenseitigen Beziehungen in Gruppen unterscheiden, die man bezeichnen kann als einerseits „instrumentelle“ und andererseits als „intersubjektive“ Beziehungen. Bei instrumentellen Beziehungen ist das gemeinsame Ziel wichtiger als die Beteiligten, das Ziel verselbständigt sich gegenüber dem, was die Menschen als Handlungsgründe haben. Die einzelnen Menschen werden dann strukturell häufig instrumentalisiert bzw. sie instrumentalisieren sich gegenseitig.

  • Das, was nicht aus vorgegebenen Zielen und Zwecken folgt, sondern aus den Bedeutungsgebungen und Begründungen der Subjekte , basiert dagegen auf Intersubjektivität.
    • In der Diskussion heute wurde häufig geäußert, so etwas ginge nur in kleinen Gruppen und nicht auf Großveranstaltungen bzw. für große Menschengruppen. Warum jedoch sollten Individuen in Bezug auf die Bedeutungen und Begründungen nur auf den kleinen face-to-face-Rahmen reduziert sein? Bisher wurde es nicht realisiert, aber für eine herrschaftsfreie Gesellschaft sollte es gerade das Ziel sein, auch das Große und Ganze nach Maßgabe des Subjektstandpunkts zu organisieren. Leider hatte ich zu wenig zu der konkreten Umsetzung der intersubjektiven Kommunikation oder Kooperation gesagt…(weil das auch noch nicht ausgearbeitet ist, dieses Seminar hilft mir sehr, weiter darüber nachzudenken).

    Eine der Schlussfolgerungen: „Keine noch so fortschrittliche Gruppe kann „Bedingungen für Andere“ schaffen wollen, denn die Anderen würden dabei als Objekte des eigenen Tuns betrachtet. Es ist ein Widerspruch in sich, Bedingungen für die Selbstbestimmung fremdsetzen zu wollen.“

    • Dies ist insbesondere bei den vielen Antworten auf meine dritte Frage (siehe unten), wonach viele „Freiräume schaffen“ wollen, zu beachten! Aber glücklicherweise hat ja niemand geschrieben: „Freiräume FÜR ANDERE“ schaffen zu wollen, sondern eher „MIT“ ihnen…

    Und weiter: negativ gesprochen: „Was ich gegen andere Individuen und gegen die Natur erreiche schadet mir letztlich selbst.“

    Positiv gesprochen “Ich kann mich erst und nur dann selbst entfalten, wenn es die anderen auch können und umgekehrt.“

    Damit begründet sich die Bezeichnung “Selbstentfaltung“. Sie beinhaltet mein Bezogensein auf andere, meine Gesellschaftlichkeit und die der anderen – wobei die Gesellschaftlichkeit sich uns nicht als äußerer Zwang auferlegt, sondern als intersubjektive Anerkennung des gleichen Bedeutungs-Begründungszusammenhangs. Selbstentfaltung ist nicht zu verwechseln mit Selbstbestimmungs- bzw. Selbstverwirklichungspraxen innerhalb von Beziehungen, die nicht durch Intersubjektivität gekennzeichnet sind, sondern von struktureller Entgegengerichtetheit von Interessen, Konkurrenz, Privilegierungen etc., etc.

    Selbstentfaltung ist eine neue Art der Gesellschaftlichkeit von Individuen (nicht als äußerer Zwang etc., auch nicht als moralische Forderung, als verinnerlichte Norm…), bei der strukturell meine Selbstentfaltung an die Selbstentfaltung der Anderen gebunden ist und umgekehrt… (siehe dazu auch ein Bericht über eine entsprechende Zukunftswerkstatt in Bad Boll).

    Aus solcher Selbstentfaltung entspringt auch eine andere Freiheitsvorstellung, die durch kluge Menschen auch schon mal vorgedacht wurde. Meine Freiheit bestimmt sich dann nicht gegen die Freiheit der anderen, sondern ich betrachte „andere Menschen als Erweiterung meiner Freiheit“ (Hegel). Gesamtgesellschaftlich verbindet sich damit die konkrete Utopie einer „…“Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ (Marx).

    Danach stellte ich, wieder für eine Brainstormingrunde, die Frage „Wie kann ich mich selbst entfalten?“. Es sollte quasi in Richtung: Und was bedeutet das alles für meine weiteren Projekte? Gehen, aber ich wollte eben konsequent vom jeweiligen Ich ausgehen. Tatsächlich sind viele Antworten direkt auf gemeinsame Aktivitäten bezogen und auch die auf sich selbst bezogenen Antworten sind genau richtig in diesem Kontext:

    • Mir weiterhin treu bleiben und nicht durch andere verbiegen lassen
    • Anderen Menschen helfen
    • Weiter für offene Gruppendefinitionen kämpfen/diskutieren
    • Mich selbst besser kennenlernen
    • Reflektieren/bewusst werden
    • Klar werden, was ich will
    • Bildungswesen so verändern, dass ich studieren kann, was ich will, solange ich will
    • Ein bisschen autarker werden
    • Rahmen für Internet für alle schaffen (Freifunk)
    • Basisdemokratie (er)leben, Herrschaft ablehnen
    • Die gesellschaftlichen Bedingungen ändern -> Freiräume schaffen
    • Aktives Naturerleben
    • „respektloser“ sein
    • Freiräume schaffen
    • Interessante Dinge studieren & Interessante Bücher lesen
    • Die Verbandszeitung gemeinsam neu gestalten…
    • Mit anderen einen Freiraum schaffen, um Freiräume gemeinsam zu entwickeln.
    • Erfüllende Tätigkeit, Bildung
    • Was ich für richtig und angemessen halte
    • Stärkere Vernetzung
    • Freiräume lassen
    • Linke Infrastruktur pflegen und ausbauen
    • Andere zu fragen: Warum denkst du nicht über gesellschaftliche Alternativen nach? Wovor haben Menschen Angst, wenn sie ablehnen, über Gesellschaftsalternativen nachzudenken?

    Für mich hat sich bei diesem ganzen Wochenende auch wieder bestätigt: Ich kann mich mit meinem ganzen Tun, der ganzen Philosophie, Psychologie, Naturwissenschaft etc. etc., dem vielen Lesen und Schreiben und Reden tatsächlich nur selbst entfalten, wenn sich die anderen Menschen um mich herum (im günstigsten Fall auch durch mein Tun) besser selbst entfalten können. Ohne die Selbstentfaltung der Anderen wäre das nur Elfenbeinträumerei und leeres Geschwätz.

    Ich danke all denen, die mir dabei helfen, mich selbst zu entfalten!!!