Ich wollt nur mal schnell was zu diesem Thema zusammenfassen… dachte ich. Jetzt entfaltet sich das Ganze schon wieder zu einem umfassenden Arbeitsthema. Ich hab mir noch ein paar Bücher bestellt, so dass die große Zusammenfassung noch eine Weile warten muss. Hier kommt also nur der Beginn, der Einstieg in ein spannendes Thema:


Vor über einem Vierteljahrhundert begann ich mich mit Selbstorganisations- und Chaostheorien zu beschäftigen. Später wandte ich mich davon eher ab, weil diese Betrachtungen im Vergleich zur Gesellschaftstheorie oder auch der Philosophie zu abstrakt waren. In der Zwischenzeit gab es aber immer wieder neue und interessante Erkenntnisse aus der Welt der komplexen Systeme im Nichtgleichgewicht, vor allem unter dem Oberbegriff „Komplexitätstheorie“.

Über einige neuere Ansätze möchte ich nun, anlässlich der Lektüre zweier Bücher darüber, genauer berichten.

Das erste Buch bringt gleich im Titel die zwei schlagkräftigsten Beispiele für die Komplexitätstheorie zusammen: Das Sandkorn, das die Erde zum Beben bringt (Buchanan 2001). Das zweite Büchlein (Ernst 2009) thematisiert dieselben neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse aus einer links-anarchistischen Sichtweise heraus.


Beispiele

Beginnen wir gleich mit den zwei titelgebenden Beispielen. So etwas scheinbar Einfaches wie ein Sandhaufen wurde zur Ikone der Komplexitätstheorie. Dabei wird einem Sandhaufen nach und nach immer wieder ein zusätzliches Sandkorn hinzugefügt. Korn für Korn… Solange der Haufen noch ausreichend flach ist, wird der Berg durch die neuen Körnchen immer höher. Aber ab einer bestimmten Höhe geschieht etwas Eigenartiges: Ab und zu löst das neue Sandkörnchen eine Lawine von nach unten rutschenden Sandmengen aus, die den Berg wieder abflacht. Wann genau welches Sandkörnchen eine größere oder kleinere Lawine auslöst, ist nicht vorher bestimmbar. Aber es gibt sehr viele kleine Rutschungen und einige wenige starke Lawinen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit und der Stärke der Lawinen. Es wurde bald erkannt, dass auch die Häufigkeit und das Ausmaß von Erdbeben einem ähnlichen Muster folgen. Erstens kommen auf viele kleine Erdbeben wenige große und zweitens scheint eine verlässliche Vorhersage auf keine der vielen bereits versuchten Weisen zu funktionieren. Trotzdem gibt es Regelmäßigkeiten. So lässt sich Zusammenhäng von Häufigkeit und Stärke des Ereignisses mit einer klaren mathematischen Formel beschreiben (dazu später mehr).

Komplexität

Das Wort „Komplexität“ leitet sich vom lateinischen Substantiv complexus ab, was so viel bedeutet wie „Verknüpfung“ bzw. „Umschließung“. Die Komplexitätstheorie untersucht Systeme, denen zugesprochen wird, „komplex“ zu sein. Ein System ist nach Ernst ein „ganzheitlicher Zusammenhang von Teilen, deren Beziehungen untereinander quantitativ intensiver und qualitativ produktiver sind als ihre Beziehungen zu anderen Elementen“ (Ernst 2009: 28, kursiv A.S.). Die genannten quantitativen und qualitativen Steigerungsformen („intensiver“, „produktiver“) deuten darauf hin, dass sich der Zustand innerhalb des Systems von dem außerhalb unterscheidet. Uns interessieren nun Systeme, die diesen Zustand des Unterscheidens von der Umwelt selbst bewerkstelligen. Stichworte sind Selbstorganisation, Autopoiesis und auch selbstorganisierte Kritikalität (siehe unten). Das Aufrechterhalten eines ganz bestimmten Neigungswinkels eines Sandhaufens durch Lawinen ist ein Beispiel für die selbstorganisierte Kritikalität.

In Wikipedia wird darauf hingewiesen, dass man das Gesamtverhalten komplexer Systeme nicht einmal aus einer vollständigen Information über seine Elemente und ihre Wechselwirkungen ableiten könnte. Trotzdem steht nicht zu Unrecht auf dem Titelbild des Buches von Buchanan: „… oder warum die Welt einfacher ist, als wir denken“. Denn es gibt erstaunliche Gemeinsamkeiten der verschiedensten komplexen Systeme im Ungleichgewicht. Diese werden durch die Komplexitätstheorie untersucht:

„Die Komplexitätstheorie untersucht Verhaltensmuster in Systemen aus Elementen, die miteinander in Wechselwirkung stehen, die aber nicht im Gleichgewicht sind.“ (Buchanan 2001: 30)

Angesichts meiner Skepsis gegenüber zu abstrakten Konzepten mag es erstaunen, dass ich mich immer wieder für die neuen Erkenntnisse auf diesem Gebiet begeistern kann. Wenn man beachtet, wo kurzschlüssige Übertragungen geschehen könnten, vermitteln die Erkenntnisse wichtige Informationen, die man berücksichtigen muss, wenn man innerhalb von komplexen Systemen handlungsfähig bleiben will. Gernot Ernst betont ebenfalls die Bedeutung dieses Wissens:

„Die Komplexitätstheorie ist ein weitgehend neutrales Werkzeug, das für die Emanzipation genauso wie für die Ausweitung und den Machterhalt des Neoliberalismus eingesetzt werden kann. Wenn es um die Vermittlung von Inhalten der Komplexitätstheorie geht, so ist das Ziel sogar vielleicht nur eine Waffengleichheit zwischen der modernen Rechten, die in Think-Tanks diese Methoden längst benützt, und der Linken, die in ihrer romantischen Maschinenstürmer-Tendenz dieses Paradigma bislang weitgehend verschlafen hat.“ (Ernst 2009: 177)

Zur Problematik der Übertragung allgemeiner Gesetze aus der Komplexitätstheorie auf menschliche Fragestellungen komme ich am Schluss zurück.

Komplexe Systeme zeichnen sich insbesondere dadurch von anderen aus, dass ihre Eigenschaften nicht durch die Analyse der Elemente erklärbar sind, sie haben sog. „emergente“ Eigenschaften. Emergenz ist eine Bezeichnung für die „spontane Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen auf der Makroebene eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente“ (Wikipedia).

Demnächst gehts weiter…