Wir bereiten gerade eine Veranstaltung „Auf der Suche nach widerständiger Subjektivität“ vor. 20 Jahre nach dem Ende der sozialistischen Länder rasselt auch der Kapitalismus von einer Krise in die nächste – aber anscheinend verrinnen antikapitalistische Bewegungen immer wieder in der Bedeutungslosigkeit. Wut und Verärgerung werden eher noch von rechtsorientierten Bewegungen aufgefangen. Dass die Krisen sich verstärken werden, brauchen wir kaum noch zu begründen, wir erleben es. Was folgt daraus? Worauf können wir bauen, was können wir bestärken, wenn es uns um einen emanzipativen Ausweg aus den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen geht?
Dazu schrieb ich schon vor 11 Jahren in einem Internettext:
Deshalb sehe ich die wichtigste Bewegung, die über die gegebene Gesellschaftsform hinausweist, in der Entwicklung der Fähigkeiten, Bedürfnisse und Kräfte der Menschen.
In der hochkomplexen Arbeitswelt werden bei den beteiligten Menschen Fähigkeiten und Bedürfnisse nach Kreativität, Selbständigkeit und Kooperation geweckt und entwickelt, die über solch eingeschränkte Produktionszwecke wie Profiterwirtschaftung hinausschießen. Dies wurde vielleicht im DDR-Gebiet besonders deutlich durch den abrupten Wechsel der Wirtschaftskulturen ab 1990, der natürlich nur ein Moment des weltweiten Übergangs vom sog. „Fordismus“ zum „Toyotismus“ war.
Es war auch nichts ganz Neues, dass menschliche Bedürfnisse über diejenigen, die marktwirtschaftlich befriedigt werden können – im Konsumtions-, wie auch im Produktionsbereich – hinausgehen. Trotzdem sind diese Erfahrungen jetzt so stark, dass sie auf eine kategoriale Erfassung drängen. Ein Angebot dafür ist der Begriff „Arbeitsvermögen“.
Einen ersten Hinweis darauf gibt uns Marx in den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“:
„Der Gebrauchswert, den der Arbeiter dem Kapital gegenüber anzubieten hat, den er also überhaupt anzubieten hat für andre, ist nicht materialisiert in einem Produkt, existiert überhaupt nicht außer ihm, also nicht wirklich, sondern nur der Möglichkeit nach, als seine Fähigkeit. Wirklichkeit wird er erst, sobald er vom Kapital sollzitiert, in Bewegung gesetzt wird, da Tätigkeit ohne Gegenstand nichts ist oder höchstens Gedankentätigkeit, von der es sich hier nicht handelt.“ (MEW 42: 192-193)
Im „Kapital“ präzisiert Marx, dass er mit der nur der Möglichkeit nach vorhandenen „Anlage des lebendigen Individuums“ die Arbeitskraft meint, die sich als Arbeit erst durch ihre Äußerung verwirklicht (MEW 23: 185). Im Zusammenhang mit der Entfremdung macht Marx jedoch auf eine zusätzliche wichtige Differenz innerhalb der potentiellen Fähigkeit zur Arbeit aufmerksam:
„Ja die lebendige Arbeit selbst erscheint als fremd gegenüber dem lebendigen Arbeitsvermögen, dessen Arbeit sie ist, dessen eigne Lebensäußerung sie ist, denn sie ist abgetreten an das Kapital gegen vergegenständlichte Arbeit, gegen das Produkt der Arbeit selbst.“ (MEW 42: 374)
Es gibt also eine Differenz zwischen dem „lebendigen Arbeitsvermögen“ als „eigne „Lebensäußerung“ und der fremd gewordenen lebendigen Arbeit, die an das Kapital als vergegenständlichte Arbeit abgetreten ist.
Aus feministischer Sicht schließt Gudrun Axeli Knapp (1987) hier an. Sie nennt das, was mehr ist als das, was zur Lohnarbeit wird, „Arbeitsvermögen“:
„Die Definition des Arbeitsvermögens erfolgt vom Subjekt her, es umfaßt alles, was ein Mensch in gesellschaftliche Praxis einbringen könnte.“ (Knapp 1987: 241)
„Immer aber ist das subjektive Arbeitsvermögen reicher und breiter angelegt als seine gesellschaftlich zugestandenen Manifestationen.“ (ebd.: 242)
Zwar ist der Kraftbegriff mit seiner Bedeutung als „Wirkfähigkeit“ weitestgehend synonym zum Begriff des „Vermögens“, aber es ist durchaus möglich, gerade aufgrund dieser wörtlichen Nähe die inhaltliche Unterschiedlichkeit bei der Verwendung dieser Worte als Kategorien für die Potentialität der Arbeit zu betonen.
Zum Bestandteil einer dialektischen gesellschaftstheoretischen Theorie wird dieser Begriff schließlich bei Sabine Pfeiffer. Sie fasst „Arbeitsvermögen und Arbeitskraft als dialektische Ausprägungen des Doppelcharakters der ihre Arbeitskraft zu Markte tragenden Subjekte“ (Pfeiffer 2003: 191) Der Begriff „Arbeitsvermögen“ im Unterschied zur Lohn-„arbeitskraft“ will in kritisch-utopischer Absicht die Widersprüchlichkeit der Arbeit im Kapitalismus geistig erschließen helfen. Während Marx die Theorie mit dem Insistieren auf der Besonderheit der Mehrwertproduktion gegenüber der Wertreproduktion auf eher quantitative Momente von Ausbeutung verweist, will die Betonung der widersprüchlichen Dialektik von Arbeitsvermögen und Arbeitkraft die heute wesentlichere qualitative Seite des Widerspruchs aufzeigen. Empirisch zeigt sich dieser qualitative Widerspruch in der Tatsache:
„Das Subjekt könnte sozusagen immer mehr, als es darf, ist zu mehr befähigt, als es unter den gegebenen Bedingungen kann.“ (ebd.: 198)
Soziologisch zeigt sich die Arbeitskraft in der formalen Qualifikation, der Möglichkeit zur Kontrolle der Leistung, der Realisierung in einem Arbeitsverhältnis und sie stellt die warenförmige Tauschwertseite der Arbeit dar, während das Arbeitsvermögen als Gebrauchswertseite in individuellen Wissensformen, genuinen Handlungsmodi und in subjektivierendem Erfahrungswissen und Arbeitshandeln besteht (Pfeiffer 2005). Dabei enthält das Arbeitsvermögen gerade jene Qualitäten, die sich einer Objektivierung und Formalisierung systematisch entziehen (Pfeiffer 2003: 192).
Sabine Pfeiffer untersucht die Widersprüchlichkeit von Arbeitskraft und Arbeitsvermögen in vielen konkreten Prozessen der Informatisierung der Arbeit (Pfeiffer 2004) und zeigt, dass besonders der erreichte Komplexitätsgrad der Produktivkräfte mit der Arbeitskraft auch das Arbeitsvermögen als Voraussetzung stetig mit entwickelt und voraussetzt.
Es sollte also in der politischen Arbeit für einen emanzipativen Ausweg aus den kapitalistischen Krisen nicht nur um erwerbslose und anderweitig deklassierte Menschen gehen, nicht nur um die Ausbeutung, sondern vor allem auch um die ständig frustrierten Bedürfnisse nach kreativer und befriedigender Arbeit, um das verschwendete Arbeitsverm ögen. Menschen müssen nicht erst verarmen, sie müssen nicht nur den entzogenen Mehrwert vermissen – auch das alltägliche Zurückdrücken des Tuns auf den Maßstab der profitablen Verkaufbarkeit, die gefesselten Flügel von Schöpfertum und menschlichem Miteinander drängen aus den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen hinaus, wenn wir es denn erkennen, uns bewusst machen und als Triebkraft für neue Ideen und Projekte nutzen.
Literatur:
- Knapp, Gudrun Axeli (1987): Arbeitsteilung und Sozialisation. Konstallationen von Arbeitsvermögen und Arbeitskraft im Lebenszusammenhang von Frauen. In: Beer, Ursula (Hrsg.): Klasse Geschlecht. Feministische Gesellschaftsanalyse und Wissenschaftskritik. Bielefeld, S. 236-273.
- Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. (1858) In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Band 42. Berlin: Dietz Verlag 1983.
- Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. (1867) In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Band 23. Berlin: Dietz Verlag 1988.
- Pfeiffer, Sabine (2003): Informatisierung, Arbeitsvermögen und Subjekt – Konzeptuelle Überlegungen zu einer emanzipationsorientierten Analyse von (informatisierter) Arbeit. In: Klaus Schönberger, Stefanie Springer (Hrsg.): Subjektivierte Arbeit: Mensch – Technik – Organisation in einer entgrenzten Arbeitswelt. Frankfurt, New York: Campus. S. 182-210. In Internet: http://www.sabine-pfeiffer.de/downloads/2003_iva_subjekt_artikel.pdf (abgerufen 14.07.2009)
- Pfeiffer, Sabine (2004): Arbeitsvermögen: ein Schlüssel zur Analyse (reflexiver) Informatisierung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
- Pfeiffer, Sabine (2005): Keine Utopie der Arbeit ohne Blick auf Arbeitsvermögen und Technik. Vortrag zur Fachdebatte „Konkrete Utopie der Arbeit“ im Ernst-Bloch-Zentrum am 1. Dezember 2005 in Ludwigshafen am Rhein. In Internet: http://www.sabine-pfeiffer.de/downloads/2005_blochzentrum_ludwigshafen_folien.pdf (abgerufen 14.07.2009)
Siehe dazu auch:
Juli 15, 2009 at 2:20 pm
So weit ich das wahrgenommen habe, verwendet Marx »Arbeitsvermögen« und »Arbeitskraft« synonym. Das muss uns nicht abhalten, hier eine Unterscheidung zu treffen wie Sabine Pfeiffer das vorschlägt.
Was ich bei Sabine Pfeiffer problematisch finde, ist die Zuordnung der Arbeitskraft zur Wertseite und des Arbeitsvermögens zur Gebrauchswertseite. Was ist mit jenen Tätigkeiten des lebendigen Arbeitsvermögens, die keine Gebrauchswerte schaffen, weil sie nicht als Arbeitskraft Anwendung finden? Ich denke hier an die feministische Kritik, den Arbeitsbegriff nur auf die Sphäre der Warenproduktion zu beschränken (wobei ich die Ausdehnung auf den Rest des Lebens für eine unzulässige Folgerung halte). Reproduziert nicht die Annahme vom dialektischen Verhältnis von Arbeitskraft und Arbeitsvermögen samt ihrer Zuordnung zu Wert und Gebrauchswert nicht diese Sphärenspaltung?
Was ich mich außerdem noch frage, ist: Wie verhält sich das Verhältnis von Arbeitskraft und Arbeitsvermögen zum Verhältnis von abstrakter und konkreter Arbeit?
Ganz grundsätzlich halte ich es für sinnvoll und notwendig, allgemeine Kategorien und formspezifische Kategorien zu unterscheiden. Das Arbeitsvermögen könnte ein guter Kandidat für eine allgemeine Kategorie sein. Allerdings haut dann die Zuordnung zum Gebrauchswert nicht hin — will man nicht den Fehler von Marx reproduzieren, den Gebrauchswert zur allgemeinen Kategorie zu erklären. Dann nämlich könnten Wert und Gebrauchswert kein dialektisches Verhältnis bilden, sondern es müssten getrennte Identitäten sein.
Juli 15, 2009 at 4:16 pm
Ich denke, mit „Gebrauchswert“ ist hier nicht das Moment der Totalität „Kapital“ gemeint, sondern eben der allgemeine Nutzensaspekt. Dann überschreitet die Begriffsbildung von vornherein auch die Warenproduktionssphäre. Die Unterscheidung von „Arbeitskraft“ und „Arbeitsvermögen“ kommt ja auch von einer Feministin, allerdings macht Sabine Pfeiffer darauf aufmerksam, dass wir über der Anerkennung der Berechtigung anderer Tätigkeiten nun auch wiederum die Produktionsarbeit nicht vernachlässigen dürfen, sondern auch in dieser Sphäre nach dem Gegenpol zum Kapital-Verwerteten suchen sollten.
Abstrakte und konkrete Arbeit liegt m.E. dann kategorial beide innerhalb der kapitalistischen Ausübung der Arbeitskraft, während das Arbeitsvermögen der Möglichkeit nach darüber hinaus reicht.
Januar 21, 2011 at 1:35 pm
[…] zusätzlichen Weg, das Problem zu anzugehen: Menschen sind nicht nur Lohnarbeiter, sie haben ein Arbeitsvermögen, das über ihre Lohnarbeitskraft hinaus geht. Im Bereich des Immateriellen hat es sich bereits […]
März 14, 2011 at 1:04 pm
[…] Dies bestärkt die Überlegungen, die ich schon einmal anlässlich der Kategorie des „Arbeitsvermögens“ zusammen g…. […]
August 9, 2011 at 11:32 pm
[…] Dabei wird davon ausgegangen, dass nicht das gesamte Arbeitsvermögen der Menschen als Arbeitskraft durch das Geldkapital gekauft wird, sondern dass den Menschen zusätzliches Arbeitsvermögen zur Verfügung steht (vgl. dazu meinen früheren Blogbeitrag „„Arbeitsvermögen“ als kritisch-utopische Kategorie“). […]
September 15, 2011 at 6:55 pm
[…] „Arbeitsvermögen“ als kritisch-utopische Kategorie […]