Konkrete Utopie der Gesellschaft

Wenn wir auf der Suche nach einer befreiten Gesellschaft sind, werden wir uns auch fragen, wie sich die Gestaltung von Beziehungen dann verändern wird.

Wie sehen nicht ausbeutende, nicht entmündigende, nicht herrschaftsförmige Beziehungen aus und welche Techniken werden dabei angewandt? Welche Techniken können wir jetzt schon entwickeln – auch als Mittel zur Erfindung und Gestaltung dieser neuen Gesellschaftlichkeit?

Schauen wir uns dazu eine konkrete Utopie einer befreiten Gesellschaft an und leiten dann ab, welche Techniken hier zum Tragen kommen werden.


Als „Utopie“ gilt hier dasjenige, das unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen „keinen Ort“ hat, sondern über diese Rahmenbedingungen hinausweist (Man könnte dies auch „Metopie“ nennen, weil die Vorsilbe „Mé“ das Nichtsein als Mögliches meint, während die Vorsilbe „Oú“ eigentlich das Nichts als Unmögliches bezeichnet). Utopien sind in diesem Sinne „subjektiv gestaltete Zukunftsentwürfe, die im Ganzen oder im Detail eine wünschbare zukünftige Gesellschaft skizzieren“ (Schwendter 1994: 19).

Dass die Utopie „konkret“ genannt wird, meint nicht, dass wir sie sinnlich wahrnehmbar vorzufinden erwarten. Nach Ernst Bloch ist von einer konkreten Utopie zu fordern, dass sie nicht nur Wunschbilder sind, die keine Entsprechung in den realen Möglichkeiten der sich entwickelnden Welt haben. Es geht nicht um „Traumlaternen“, sondern um „prozeßhaft-konkrete Antizipation“.

Die Antizipation ist gleichzeitig die Kritik des Gegebenen: Die jetzige bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft beruht darauf, dass Menschen voneinander und von ihren Lebens- und Produktionsmitteln getrennt sind. Da Menschen nicht wirklich isoliert voneinander leben können, wird die Isolation überbrückt durch äußerliche Beziehungen, die sich über Geld und die Marktwirtschaftlichkeit ausdrücken. Wirtschaftsbeziehungen und auch Sozialtechniken sind derzeit bestimmt von der Notwendigkeit, die Getrenntheit der Menschen voneinander nachträglich zu überbrücken. Sie sind im besonderen dadurch gekennzeichnet, dass die Trennung der Menschen voneinander und von ihren Lebensgrundlagen dazu führt, dass sie sich primär gegeneinander verhalten müssen. Diese strukturelle Gegeneinander-Gerichtetheit der Interessen bezieht sich natürlich einerseits auf die Beziehungen zwischen Herrschern und Beherrschten, zwischen herrschenden sachzwanghaft wirkenden Strukturen und sich den Sachzwängen unterwerfenden Individuen und andererseits wirkt sie auch zwischen denen, die gleichermaßen von dieser hierarchischen Unterwerfung betroffen sind. Geld nützt auch mir nur etwas, wenn es grundsätzlich knapp ist und nicht alle genügend davon haben. Ich habe meinen Arbeitsplatz nur, weil jemand anderes erwerbslos ist…

Die gesellschaftliche Struktur führt dazu, dass die einzelne Person ihre Interessen nur gegen den jeweiligen Anderen durchsetzen kann. Das wird auch ausgedrückt im bürgerlichen Freiheitsbegriff, bei dem der Einzelne so weit frei sein soll, bis er an den Freiheitsbereich des Anderen stößt. Karl Marx kennzeichnet diese bürgerliche Freiheitsvorstellung mit den Worten:

„Die Freiheit ist also das Recht, alles zu tun und zu treiben, was keinem andern schadet. … Es handelt sich um die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückbezogener Monade.“ (Marx 1943: 364).

Auf diese Weise werden Beziehungen geregelt, bei denen das Gegeneinander der Interessen strukturell vorherbestimmt ist. Dann blühen selbstverständlich solche Sozialtechniken, welche die Konflikthaftigkeit entweder aus dem Bewusstsein jeweils einer Seite hinwegmeditieren soll oder welche auf die eine oder andere Weise Konfliktlösungen versprechen. Die trennenden Grundstrukturen werden dabei nicht in Frage gestellt.

Anders sieht die Lage aus, wenn nicht mehr bürgerliche Privat-Eigentumsstrukturen die Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten der Individuen bestimmen und Zwangs- oder Brücken-Technologien dominieren. Strukturen, in denen die natürlichen und gesellschaftlichen Ressourcen ebenso wie Produkte als „Commons“ hergestellt und verwaltet werden, verwenden andere Techniken. Offensichtlich wird dies im sozialen Bereich: Zur Herstellung von Freier Software braucht niemand durch Geld- und Lebensmittelentzug erpresst werden – es wird freiwillig getan, weil Kreativität und Produktivität zu den Bedürfnissen vieler Menschen gehört. Entscheidungen über Entwicklungsrichtungen werden nicht über Investitionsentzug oder –gewährung getroffen, sondern durch Absprache der Beteiligten und ggf. ein Auseinandergehen und Auf-neuer-Basis-weitermachen. Sozialtechniken des Zwangs entfallen ersatzlos und neue Techniken der herrschaftsfreien Koordination entstehen.

Der grundlegende Unterschied zur kapitalistischen Lebens- und Produktionsweise besteht in dieser konkreten Utopie darin, dass nicht mehr die Kapitalvermehrung die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmt, sondern die Bedürfnisse der Menschen. Dabei entfallen bestimmte Bedarfsformen, die sich in den trennenden gesellschaftlichen Verhältnissen herausgebildet haben, um die Frustrationen durch die erzwungene Vereinzelung zu kompensieren. Ins Zentrum rücken jene Bedürfnisse, die auf die eigene Persönlichkeitsentfaltung gerichtet sind und für diese gilt, dass sich Individuen nur selbst entfalten können, indem sie durch die Entfaltung der anderen bereichert werden und auch zu deren Bereicherung beitragen. Im Mittelpunkt steht also nicht mehr das Kapital („Kapitalismus“), sondern die individuelle Selbstentfaltung („Selbstentfaltungs-Gesellschaft“ ). Diese Bestimmung der konkreten Utopie macht es von vornherein unmöglich, eine genaue „Blaupause“ für ihre Verwirklichung vorzugeben. Es sind die Menschen selbst, die sich ihre Welt machen… – jetzt können wir nur die strukturellen Voraussetzungen dafür angeben und schauen, welche Möglichkeiten vorhanden sind, solche Voraussetzungen zu entwickeln. Die wichtigste strukturelle Voraussetzung ist die Aufhebung der Trennung von Menschen und ihren Produktionsbedingungen, d.h. die Abschaffung des Kapitalismus. Die „Enteignung der Enteigner“ wird heutzutage weniger durch die Arbeiter- und Sozialbewegung thematisiert, sondern die internationale „Commons-Bewegung“. Aber auch dann besteht noch die Frage, in welcher Art und Weise die Produktion der notwendigen Güter dann organisiert werden muss, damit nicht wieder Unterdrückung entsteht.

Welche Möglichkeiten dafür geben moderne Techniken? Das Beispiel Freie Software zeigt etwas wichtiges: Während die Arbeit an einem Fließband im Großkonzern nur schwer als Ergebnis selbstbestimmter Koordinierung der Beteiligten vorstellbar ist, erleichtert die globale Infrastruktur des Internets und die doch recht breite Verfügbarkeit der Personalcomputer die eigenständige Neubildung sich selbst organisierender Produktionsstrukturen. Dass die neuen technischen Möglichkeiten so ziemlich sofort auch neue soziale Beziehungen wachsen und sprießen lassen, auch wenn die gesamtgesellschaftlichen Bedingungen dem klar entgegen stehen, spricht sehr für die Dynamik dieser neuen Beziehungen. Hilfreich ist hier auch die Tatsache, dass breite Bereiche der vorherrschenden kapitalistischen Produktion auch nicht mehr zentral, auf Anweisungen beruhend und in Großtechnik „einbetoniert“ sind, sondern kreative, innovative und sich selbst koordinierende Arbeitnehmer_innen in einer flexiblen Maschinenumgebung benötigen (vgl. Tendenz zum Selbstorganisationsmanagement). Es gibt also hier klar eine Tendenz in Richtung Dezentralisierung und Selbstbestimmung – allerdings unter der Maßgabe der notwendigen Profitabilität. Dem entzieht sich die Freie Software durch das Aussteigen aus der privaten Eigentumslogik im „Copyleft“. Auch die Copyleft-Idee verbreitete sich wie ein Virus und unterstützte die Creative-Commons-Praxis und –Bewegung. Eine neue Gesellschaftlichkeit, die auf solch selbstorganisierter Koordination beruht und nicht mehr auf Zwangsbeziehungen ist also durchaus real möglich und stellt keine abstrakte „Traumlaterne“ dar.

Letztlich wird für diese mögliche neue Gesellschaft gefordert, dass in ihr menschliche Bedürfnisse so befriedigt werden, dass die natürlichen Grundlagen des Lebens nicht zerstört werden. Menschliche Bedürfnisse stehen dabei im Mittelpunkt, denn in ihnen ist die Erhaltung und kreative Gestaltung der Beziehungen zur Natur enthalten. Menschliche Bedürfnisbefriedigung und Ökologie stehen einander nur entgegen, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse anderen Triebkräften folgt wie der Schatz- oder der Kapitalakkumulation. Das bedeutet, dass auch die Produktion selbst von Bedürfnissen der Menschen geregelt wird. Das schließt aus, dass sie über persönliche Herrschaftsbeziehungen oder das kapitalistische Wertgesetz oder auch zentrale Planungsmethoden geregelt wird.

Was bedeutet dies für die Technik des Umgangs mit der Natur? Da die bisherige enge Abhängigkeit von menschlicher Entwicklung und Natur sich vorwiegend naturzerstörerisch auswirkte, scheint eine Entkopplung nahe zu liegen. Aber es geht nicht um eine Trennung der Menschheit von der Natur, sondern um neuartige Verbindungen, neuartige Beziehungen, neuartige Techniken des Umgangs. Diese gehen nicht von einer statischen, lediglich passiv zu erhaltenden Natur aus, sondern davon, dass natürliche Prozesse dynamisch sind und selbst Entwicklungen vollziehen. Die Menschheit wiederum kann sich nicht von der Natur entkoppeln, sondern vollzieht ihr eigenes Leben in engem Austausch mit natürlichen Vorgängen. Es kommt nur darauf an, eine für beide Seiten produktive und kreative Ko-Evolution zu gestalten. Ernst Bloch nennt die bisher vorherrschende Technik des Umgangs mit der Natur „Überlistungstechnik“, denn auch solange nicht brutale Ausplünderung praktiziert wird, geht es darum, die Kräfte der Natur möglichst geschickt zum eigenen Nutzen auszunutzen, sie quasi zu überlisten. Im Gegensatz dazu fordert Bloch eine „Allianz“ mit den Kräften der Natur. Er fordert eine mit der Natur „befreundete, konkrete Allianztechnik, die sich im Einklang zu bringen versucht mit dem hypothetischen Natursubjekt“ (EM: 251). Technik wird dann zur „Entbindung und Vermittlung der im Schoß der Natur schlummernden Schöpfungen“ (Bloch PH: 813).

In diesem Sinne suchen wir nun nach einer bedürfnis- und naturgerechten Technik. Als Technik, die nicht bedürfnisgerecht ist, können wir wohl all jene ausschließen, die die Arbeit als Schufterei zu einer„Geißel der Menschheit“ macht.

Genauso wenig akzeptabel ist eine Technik, die zwar hochproduktiv ist, aber aufgrund der Zentralisierung und Massenproduktion ökologisch kaum angepasst werden kann und Menschen lediglich als „Teilmaschinen“ braucht (Marx, Kapital: 445). Die Menschen würden durch die Maschinen angewendet und nicht umgekehrt. Marx analysiert und kritisiert dabei lediglich die „kapitalistische Anwendung“ der Maschinen. „An sich“, d.h. der Möglichkeit nach verkürzt die Maschinerie den Arbeitstag und erleichtert die Arbeit. Aber kapitalistisch angewandt verlängert sie den Arbeitstag und steigert die Intensität der Arbeit. An sich vermehrt die Maschinerie den Reichtum der Produzenten, kapitalistisch angewandt verpaupert sie ihn (ebd.: 465).

Ich selbst empfand die Arbeitsatmosphäre im „Unterricht in der Produktion“, der späteren Ausbildung in der „industriemäßigen Landwirtschaft“ sowie die Arbeit in den Studentenbrigaden immer sehr geisttötend, unkreativ und langweilig. Im realen Sozialismus wurde die Maschinerie ebenfalls in stark belastender Weise eingesetzt – der Systemwettbewerb und unbefriedigte Konsumbedürfnisse ließen wohl auch kaum eine Entlastung zu. Zugegeben: in der Lehrausbildung sollte beispielsweise eine umfassende Kenntnis des Gesamtprozesses vermittelt werden, um der Zerstückelung der Prozesse und der Vereinzelung am Arbeitsplatz entgegen zu wirken. Trotzdem war klar: als kleines Menschlein in einer riesigen maschinengefüllten Halle, in der es nur darauf ankam, mitzuhalten und nichts falsch zu machen – das war noch tief getränkt vom „Reich der Notwendigkeit“, auch verkörpert in einer Technik, die wenig individuelle Selbstbestimmung zuließ oder gar forderte.

Wohl erstmalig empfunden hat dies auch Simone Weil, die in den 20er Jahren nach Deutschland kam. Sie war selbst Philosophielehrerin und arbeitete in Deutschland, wo sie eine große revolutionäre Erhebung erwartete, am Fließband. Hier erlebte sie eine enttäuschende Desillusionierung. Arbeiter, die tage-, wochen-, ja ihr Leben lang an solchen Fließbändern schuften, können einfach nicht eine solche reife Persönlichkeit heranbilden, die gebraucht würde, um eine befreiende Revolution zu machen und eine neue, freie Gesellschaft aufzubauen. Simone Weil fragt sich deshalb:

„Ist eine Organisation der Produktion denkbar, die … ohne die vernichtende Unterdrückung von Geist und Körper auskommt?“ (Weil 1975: 170)