In einer schon lange zusammen arbeitenden Diskussionsgruppe kam es letztens zu starken Differenzen über das Thema: Wie halten wirs mit Hegels Dialektik bei geschichtlichen Fragen?

Für traditionelle Marxisten/Leninisten scheint das klar zu sein: Die zeitliche Aufeinanderfolge von Zuständen in Natur und Gesellschaft folgt über ausreichend große Zeiträume gesehen den dialektischen Gesetzen: Im Laufe der Zeit schlagen quantitative Veränderungen in qualitative um, die Gegensätze durchdringen sich und in einer Negation der Negation entstehen qualitativ neue, höhere Zustandsformen.

Erst als ich Hegel im Original studierte, wurde mir die Abenteuerlichkeit der umstandslosen Identifizierung des logischen Entwicklungsgangs bei Hegel mit dem historischen bewusst. (siehe auch meine Texte (1, 2) dazu).

Ich möchte das Problem nun noch einmal dar- und zur Diskussion stellen. Ausgangspunkt dafür ist eine sehr schöne kurze Erläuterung der Dialektik von Reiner Winter.

In dieser Darstellung liegt der Schwerpunkt auf der Erläuterung der logischen Grundfigur des „Übergreifenden Allgemeinen“, für die das folgende Bild steht:
Hegel_ÜbergreifendAllgemeines nach Re-Wi

Ich habe dieses Beispiel auch schon häufig verwendet, um darzustellen, dass Leben und Tod zwei aufeinander bezogene, gegensätzliche Kategorien sind, deren konkrete Einheit im Gattungsprozess (also dem Leben im höheren Sinn als dem individuellen) zu sehen ist. Der Gattungsprozess ist jener Prozess, aus dem sich das Leben der Individuen und auch ihr Tod erklärt.

Das Verhältnis von Allgemeinem (dem Leben) und dem Besonderen (dem Tod) ist nicht entsprechend einer nur formalen Logik zu begreifen, bei der Allgemeines und Besonderes nur als Verhältnis von Gattung und Art bzw. von Menge und Teilmenge oder Element gedacht wird. Nein, in einem dialektischen Verhältnis des übergreifenden Allgemeinen erzeugt dieses Allgemeine sich selbst und sein Gegenteil aus sich selbst heraus.

Reiner Winter thematisiert nun den Unterschied zwischen Hegel und Marx. Da geht es um das Verhältnis von Materie und Geist. Während für Hegel der Geist das Übergreifend-Allgemeine ist, der sich und sein Gegenteil, die Materie hervorbringt, so ist bei Marx die Materie das Übergreifend-Allgemeine und bringt sich (d.h. ihre unterschiedlichen Formen) und darunter auch ihr Gegenteil, den Geist, hervor:

Hegel_Grundfrage nach Re-Wi

Wie kommt er darauf? Für ihn „ist es bei geschichtlichen Verhältnissen hilfreich zu fragen, was denn zuerst da war (z.B. das Tier vor dem Menschen), so dass dieses Erste auch die übergreifende Gattung ist“ (S. 14). Hinter diesem „hilfreichen“ Gedanken steckt implizit auch die Identifizierung der logischen und der historischen Entwicklung. Wenn, wie Materialisten annehmen, die Materie zeitlich vor dem Geist da war, müssen wir halt das Hegelsche Denken „umstülpen“ – das entsprechende Marxsche Zitat ist allbekannt.

Für die Logik bzw. die Erkenntnislehre macht diese Umkehrung aber keinen Sinn. Natürlich sind es materielle Wesen, in deren materiellem Gehirn sich die Welt wiederspiegelt – aber damit verfehle ich das Wesen des Erkenntnisprozesses, gerade als Widerspiegelung. Es ist sinnvoll, sich den Widerspiegelungsprozess direkt in Form der Spiegelmetapher zuvorzustellen:

spiegel

Auch wenn Materialist_innen weiterhin davon ausgehen, dass sich die zu erkennenden Objekte außerhalb des Bewusstseins (des Spiegels) befinden, kann das Verhältnis von Erkenntnisprozess (Spiegel) und seinem Inhalt (Spiegelbild) in der von Hegel dargestellten Logik gedacht werden. Dies kennzeichnet Hans Heinz Holz als logische Lesart der Spiegelmetapher:

„… Wie das Spiegelnde seinen Gegenstand als Spiegelbild enthält, so enthält das Denkende seinen Gegenstand als Begriff; in diesem Sinne greifen Spiegelbild bzw. Begriff über ihren Gegenstand über“ (Holz 2005: 188-189).

Die Aufeinanderfolge der logischen Stufen, die auch Winter – erkenntnislogisch – als „drei aufeinander folgende Betrachtungsebenen“ bestimmt, kennzeichnen dann jeweils vertiefende Erkenntnisweisen bis hin zum vollständigen Begreifen des gegebenen Gegenstands. Das Ziel dieses Erkenntnisprozesses steht von vornherein fest: Unser Wissen von ihm soll den Gegenstand vollständig erfassen.

Für zeitlich aufeinander folgende Zustände, die Geschichte und Entwicklung, müssen Materialist_innen hier nun eine Grenze setzen. Die Hegelsche Methode ist für Marx „keinesfalls […] der Entstehungsprozeß des Konkreten selbst“ (MEW 42: 35).

Wenn es in der geschichtlichen Entwicklung ähnliche Übergänge gibt, wie in der logischen, so ist die Beziehung hierzu explizit neu zu thematisieren. Sogar Hegel tut das, wenn er in der Weltgeschichte und noch deutlicher in der Geschichte der Philosophie die logische Kategorienfolge auch in den zeitlich aufeinander folgenden Zuständen und Denkformen wieder findet („Es hat sich also erst aus der Betrachtung der Weltgeschichte selbst zu ergeben, daß es vernünftig in ihr zugegangen sei…“ (HW 12: 22)).

Das Problem für Materialist_innen entsteht daraus, dass sie das wichtigste Argument bei der Begründung der Parallelisierung von Logik und Historie nicht übernehmen können. Dies besteht nämlich in der Voraussetzung des Endziels. In der logischen Betrachtungsweise ist das in Ordnung, denn hier ist die Identität von begreifendem Denkender Wirklichkeit und dieser Wirklichkeit das Ziel. Aber worauf soll die historische Entwicklung hinauslaufen?

Bei Hegel ist dieses Endziel dadurch gegeben, dass er voraussetzt, der absolute Geist habe sich entäußert und sei dabei, wieder in sich zurück zu kehren. Der absolute Geist selbst – nun angereichert durch die Mannigfaltigkeit seiner Stufen bis zu ihm hin – ist das Ziel; er selbst ist die Bewegung, die zu sich selbst hinführt.

Für die Natur als das Übergreifende könnte das nur in ziemlich mystifizierender Weise gedacht werden.

Natürlich wollen auch fortschrittsoptimistische Materialist_innen einen Weg hinauf in jeweils höhere Entwicklungszustände finden. Aber wodurch werden sie „angezogen“, wenn sie nicht einen solchen sich selbst findenden Weltgeist voraussetzen wollen? Marx und Engels sprachen von „inneren Widersprüchen“, deren Lösung jeweils einen solchen weiteren Schritt erfordert und gleichzeitig möglich macht (wobei nicht vorausbestimmt ist, ob diese möglichen Fortschritte gelingen, oder nicht).

Eine solche Sichtweise unterscheidet sich dann aber auch von dem frühen Marxschen Konzept der sog. „Entfremdung“. Dies setzt ein überhistorisches „Gattungwesen“ voraus, dem die Menschen im Kapitalismus „entfremdet“ sind und das Ziel besteht darin, diese Entfremdung aufzuheben und das eigene „Gattungswesen“ zu verwirklichen.

Diesem Gattungswesen wird damit aber der Charakter des absoluten Geistes zugesprochen.

„Der „wirkliche Mensch“ als Gattungswesen […] soll [ …] als objektiver Zielpunkt und letzte Konsequenz der geschichtlichen Entwicklung selbst erscheinen. Die Geschichte wird damit zum Prozeß der Selbstentfremdung und Selbstverwirklichung des menschlichen Gattungswesens im Prozeß der Arbeit.“ (Wagenknecht 1997: 160)

Marx selbst ist mit guten Gründen von dieser Konstruktion abgekommen (er formuliert das nicht ganz ehrlich als Selbstkritik, sondern als Kritik an anderen linkshegelianischen Philosophen). Letztlich ist jede konkrete Lebens- und Gesellschaftsform von Menschen menschlich-gesellschaftlich. Der Kapitalismus ist nicht „ungesellschaftlich“ und auch nicht wirklich „unmenschlich“ – er ist eine Form der Gesellschaftlichkeit und eine Möglichkeit des Umgangs von Menschen miteinander und der sie umgebenden Natur. Das, was den Menschen als Gattungswesen gegenüber den Tieren auszeichnet, also dass er „seine Lebenstätigkeit selbst zum Gegenstand seines Wollens und seines Bewußtseins“ (MEW 40: 516) macht, ist auch im Kapitalismus so. Unter welchen Bedingungen er das macht, verändert sich jedoch, nicht zuletzt durch sein eigenes Handeln.

Es gibt zwei Varianten für das Denken des Verhältnisses von allgemein-Menschlichem und je besonderen Gesellschaftsformen:

  • Ich verstehe das allgemein-Menschliche als das formal-Allgemeine und das Gesellschaftsformspezifische als das formal-Besondere. Jede Gesellschaftsform ist ein Element der Menge von allgemeiner Gesellschaftlichkeit.
  • Das Allgemein-Menschliche ist das übergreifend-Allgemeine. Dann weiß ich aber auch nur, dass jede neue konkrete Gesellschaftsform einen neuen Gegensatz gegenüber dem Allgemeinen enthalten wird. Die menschliche Geschichte als Ganzes wird die Mannigfaltigkeit aller jemals existiert habenden und werdenden Widersprüche enthalten. Dies gibt mir auch keine Orientierung für den konkreten Übergang von unserer jetzigen zur nächsten Gesellschaftsform.

Dass es in der menschlichen Geschichte „vernünftig“ zugeht, dass es Fortschritt immer wieder und auch tendenziell fortschreitend gibt, das denke und hoffe ich auch – ich muss nur dafür andere Begründungen finden als den Weltgeist.

Wie verhalte ich mich damit gegenüber Hegel? Ich sehe drei alternative Möglichkeiten, mit denen ich ihn „beerben“ kann:

  1. Hegel in Konzept und Methode folgen: dann muss ich aber auch historische Entwicklungsprozesse als teleologische denken; das Ziel ist vorherbestimmt und bestimmt auch den Verlauf der Entwicklung.
  2. Hegel materialistisch „umstülpen“: Dann funktioniert die Methode aber auch nicht mehr für die Erklärung des Erkenntnisprozesses (Spiegelmetapher) und die Übertragung der logischen Entwicklung auf die historische folgt nur einem Analogieschluss und hat keine konkrete inhaltliche Begründung.
  3. Die Methode und das Grundkonzept in Fragen der Erkenntnis-Logik weiter verwenden (Spiegelmetapher), aber in Fragen der historischen Zustandsveränderungen nicht vollständig.

Auch Engels hatte Hegel „zerteilt“ und die Methode übernommen, das System jedoch nicht. Das Problem dabei ist, dass die Methode ohne das System nicht mehr wirklich funktioniert. (Woher beziehen die Widersprüche ihre transzendierende Kraft, wenn nicht vom übergreifenden systemischen Prozess?). Ich mache die Unterscheidung an anderer Stelle.
Letztlich mache ich sie dort, wo mich die Zukunft interessiert, die Hegel aus seinen Überlegungen völlig ausschließt.

Dann kann ich mich auch mit der Variante 1 anfreunden (die dann in Variante 3 übergeht). Denn Hegels Bild von der „Eule der Minerva“ macht deutlich, dass er seinen Gegenstand eindeutig auf die Geschichte beschränkte, die bis hin zu ihm hinführte. In dieser Retrospektive ist es durchaus legitim, die Schritte bis hin zum jeweils gegenwärtigen Standpunkt auch mit seiner Methode nachträglich zu rekonstruieren (diesen Weg geht auch Klaus Holzkamp bei der Entwicklung seiner 5 Schritte beim Qualitätssprung). Ob seine Argumente, in welcher Weise die Aufeinanderfolge der logischen Schritte auch historisch (in der Geschichte der Philosophie und der Weltgeschichte) gültig sind, kann nur die Analyse der konkreten Inhalte dazu zeigen. Dass Hegel die Entwicklung der Menschheit nicht als abgeschlossen betrachtete, zeigt sein weitsichtiger Hinweis auf Amerika als „Land der Zukunft“ (HW 12: 114), das er aber als Thema der Weltgeschichte explizit und letztlich auch konsequenterweise (denn was ist Geschichte anderes als das Vergangene?) ausschloss.

Für die Verwendung der Hegelschen Methode für Überlegungen über die Zukunft muss ich den Bezug auf ihn neu begründen. Ich verwende dazu das Bild der „Virtuellen Eule der Minerva“. Ausgehend von vorausgehenden Analysen über die Widersprüchlichkeit und mögliche neue Zustände kann ich mich geistig bereits in eine zukünftige neue Welt versetzen und von da aus gedanklich zurück gehen bis in die Gegenwart und darüber nachdenken, was sich wie verändern muss, um von der Gegenwart in diese Zukunft zu gelangen oder sie zu vermeiden. Ich nehme also eine virtuelle Rekonstruktion der zukünftigen Vergangenheit vor. Welche Widersprüche führten zum Ende der vorherigen Bewegungsform der Widersprüche, welche Bedingungen veränderten sich wie, so dass welcher weitere Weg beschritten werden konnte/musste? Ich kann dies jeweils nur für die Regionen tun, die heute schon absehbar sind, ich habe keine gottähnliche Perspektive.

Aber wenigstens dies kann ich tun und das Hegelsche Konzept ist eine fundamentale Grundlage dafür.


P.S. : Ich bitte alle Diskussionen, die speziell die Spiegelmetapher betreffen, auf der dies thematisierenden Blogseite zu führen.